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2.1 Was ist Forschung? Welches sind zentrale Forschungsentscheidungen?
ОглавлениеDiese grundlegende Frage wird in den bisher erschienenen deutschsprachigen Handbüchern bzw. Einführungen in die fremdsprachendidaktischen Forschungsmethoden nicht thematisiert. Obwohl auch im Rahmen dieses Handbuches keine grundlegende Abhandlung möglich ist, erscheint es gerade in Hinblick auf die Zielgruppe Forschungsnoviz*innen sinnvoll, sich die Unterschiede zwischen Beobachtungen im Alltag oder in der beruflichen Praxis einerseits, so wie sie z.B. von angehenden Lehrperonen im Praktikum oder Referendariat verlangt werden, und der wissenschaftlichen Erforschung von Fragestellungen andererseits bewusst zu machen. Diese Unterschiede sind eher gradueller als grundsätzlicher Natur, wie z.B. an der Geschichte der Fremdsprachenforschung (s. Kap. 3.1), an forschungsmethodischen Ansätzen wie der Aktionsforschung (s. Kap. 4.2) oder bestimmten Verfahren zur Datengewinnung (s. z.B. Kap. 5.2.3 und 5.2.4) zu erkennen ist. Denn es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, Phänomenen in seiner Umwelt auf den Grund zu gehen, nach Gesetzmäßigkeiten zu suchen sowie auf der Basis von Beobachtungen und Erfahrungen Theorien aufzustellen und Vorhersagen zu machen. Während dies im Alltag in der Regel eher zufällig, unbewusst und ad hoc geschieht, zumeist um konkrete Herausforderungen und Probleme des täglichen Lebens zu meistern, zeichnet sich wissenschaftliche Forschung durch eine systematische, regelgeleitete und methodisch kontrollierte Herangehensweise aus.
Sie ist gleich in zweifacher Hinsicht systematisch: zum einen bezüglich der untersuchten Phänomene (hier gilt es, gründlich zu suchen und alles zu berücksichtigen, was man findet, und nicht nur das, was zur eigenen Vorstellung passt), zum anderen bezüglich der Forschungsschritte und Forschungsverfahren. Das schließt nicht aus, dass Forschung auch durch beiläufiges Finden angeregt werden kann, das dann ein gezieltes Weiter-Suchen auslöst (zum Wechselspiel zwischen Suchen und Finden vgl. Schlömerkemper 2010: 11–13). Der Forschungsprozess folgt etablierten Regeln, die beständig reflektiert und kontrolliert werden, die Ergebnisse sind intersubjektiv nachvollziehbar bzw. überprüfbar und falsifizierbar. Ein wesentliches Merkmal besteht darin, dass die Ergebnisse auf der Basis von bzw. in Zusammenhang mit bereits vorhandenem wissenschaftlichen Wissen entstehen und diskursiv verhandelbar bzw. korrigierbar sind. Daher ist es erforderlich, dass die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung veröffentlicht bzw. allgemein zugänglich gemacht werden.
Bei wissenschaftlicher Forschung handelt es sich um einen Prozess, der von den Forscher*innen beständig Entscheidungen verlangt: von der Wahl des Forschungsgegenstandes (Thema), über die Forschungsfrage/n, den Forschungszugang, die Erhebungs- und Auswertungsverfahren bis hin zu Art und Ort der Veröffentlichung der Ergebnisse. Es ist unabdingbar, diese Entscheidungen bewusst und in Kenntnis ihrer Bedingungen und Auswirkungen zu treffen, daher sind sie Gegenstand dieses Kapitels.
Grundlegend für die Wahl des Forschungszugangs sind die jeweiligen Annahmen über die Beschaffenheit der sozialen Wirklichkeit und die Möglichkeiten ihrer Erforschung. Unterschieden werden auf einer Makroebene daher ein subjektivistischerForschungszugangsubjektivistischer und ein objektivistischerForschungszugangobjektivistischer ForschungszugangForschungszugang (subjectivist approach vs. objectivist approach; vgl. im Folgenden Cohen/Manion/Morrison 2018: 5–8), die sich u.a. in ihrer Auffassung von der Natur des Menschen und der Wirklichkeit unterscheiden. Mit diesen unterschiedlichen Forschungszugängen gehen Annahmen darüber einher, was und wie man etwas herausfinden und dies anderen mitteilen kann: Kann ich soziale Wirklichkeit von außen, d. h. durch Beobachtung wahrnehmen und erklären, ihre Gesetzmäßigkeiten erkennen und daraus Voraussagen über zukünftiges Verhalten ableiten? Diese Auffassung legt einen etischetischen Zugang zum Forschungsfeld nahe, in dem von außen Kategorien an einen Untersuchungsgegenstand angelegt werden. Oder muss ich Menschen bzw. spezifischen Gruppen von Menschen und ihren Referenzsystemen möglichst nahekommen, damit ich, soweit dies überhaupt möglich ist, ihre Innensicht auf sich selbst und ihr soziales Umfeld nachzeichnen kann? Diese Auffassung legt einen emischemischen Zugang zum Forschungsfeld nahe, der von den kultur- und sprachspezifischen Kategorien der Forschungspartner*innen ausgeht.
Mit diesen unterschiedlichen Positionen sind ebenfalls unterschiedliche Forschungszugänge verbunden (s. auch Kap. 3.3): Der objektivistischobjektivistischen Herangehensweise entsprechen sog. nomothetischnomothetische Forschungszugänge (nomothetic), die das Ziel verfolgen, allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten aufzustellen. Ausgangspunkt von Forschungsarbeiten in diesem, auch als analytisch-nomologischanalytisch-nomologisch bezeichneten Forschungsparadigma (vgl. Grotjahn 1993: 229–230) sind i.d.R. zuvor aufgestellte Theorien, Modelle oder hypothetische Kausalbeziehungen; das Ziel besteht darin, die daraus abgeleiteten Hypothesen zu überprüfen. Ein solches Vorgehen ist grundsätzlich dann möglich, wenn der Forschungsstand weit entwickelt und die Fragestellungen eng gefasst sind. Bevorzugte Forschungsverfahren in diesem Paradigma sind Tests, Experimente und repräsentative Befragungen.
Der subjektivistischsubjektivistischen Herangehensweise entsprechen sog. ideographischideographische Forschungszugänge (ideographic), die das Ziel verfolgen, das Individuelle, Besondere zu beschreiben, zu interpretieren und daraus Erkenntnisse zu gewinnen. Innerhalb dieses, auch als explorativ-interpretativexplorativ-interpretativ bezeichneten Forschungsparadigmas (vgl. Grotjahn 1993: 230–231) stehen somit Hypothesen und Konzepte bzw. Theorien nicht am Anfang des Forschungsprozesses, sondern sind dessen Ergebnis. Dieser Zugang bietet sich immer dann an, wenn der Gegenstand noch nicht gut erforscht ist oder wenn eine weite Forschungsfrage gestellt wird. Bevorzugte Forschungsverfahren in diesem Paradigma sind Fallstudien, Beobachtungen und Interviews.
Über diese grundsätzlichen ParadigmenParadigma bzw. ForschungszugängeForschungszugang hinaus werden die für jedes Forschungsprojekt notwendigen einzelnen Entscheidungen durch zahlreiche weitere Faktoren beeinflusst. Von entscheidender Bedeutung sind selbstverständlich die Disziplin und innerhalb der Disziplin die jeweilige Forschungsrichtung, die mehr oder weniger explizit gemachte Vorgaben bzw. Erwartungen an eine konkrete Forschungsarbeit richten. Die in den Disziplinen vorherrschenden Traditionen (s. Kap. 3) sind, was sich besonders deutlich in der Rückschau zeigt, nicht selten aktuellen Moden und Tabus unterworfen. Zur Entstehung von zu einem bestimmten Zeitpunkt vorherrschenden Forschungspraktiken tragen neben der allgemeinen Forschungslandschaft und entsprechenden Tendenzen in den jeweiligen Bezugsdisziplinen auch einflussreiche Forscher*innen bzw. Forschungsgruppen sowie Förderinstitutionen bei. Auch der aktuelle gesellschaftliche Kontext spielt eine Rolle: Welcher Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung wird von der Forschung erwartet? Welche Themen stehen im Zentrum des Interesses? Wie verläuft der mediale Diskurs zu diesen Themen? (Zu den verschiedenen Kontexten fremdsprachendidaktischer Forschung s. auch Kap. 8.)
Die Forschungstraditionen schlagen sich nicht selten in etablierten, sog. prototypischen Forschungsdesignprototypisches Forschungsdesigns (s. Kap. 4.2) nieder, die gewisse Standards setzen und oft als modellhaft gelten. Gerade wenn solche Designs detaillierte Vorgaben hinsichtlich der Erhebungs- und Auswertungsverfahren machen, sind sie insbesondere für Anfänger*innen attraktiv und helfen, die notwendige methodische Qualität einer Forschungsarbeit zu sichern. Den gleichen Effekt kann die Orientierung an sog. Schulen bewirken. Damit bezeichnet man die Tendenz, dass einzelne Wissenschaftler*innen oder Gruppen von Wissenschaftler*innen innerhalb einer Disziplin grundsätzlich bestimmte Forschungsverfahren und Designs propagieren. Der Anschluss an Schulen oder die Ausrichtung auf etablierte Designs kann jedoch dazu führen, dass bestimmte Forschungsfragen gar nicht erst gestellt werden oder dass die ursprüngliche Frage an die Erkenntnismöglichkeiten des Designs angepasst wird. Daher sollte ein Forschungsprojekt nicht mit methodischen Entscheidungen beginnen, sondern von der Forschungsfrage geleitet sein (s. Kap. 4).
Bei den sich anschließenden forschungsmethodischen Entscheidungen ist zu beachten, dass die in der Fremdsprachendidaktik verwendeten ForschungsverfahrenForschungsverfahren i.d.R. aus anderen Forschungsdisziplinen stammen, in der empirischen Forschung z.B. häufig aus den Sozialwissenschaften oder der Linguistik. Sie müssen daher sorgfältig auf ihre Eignung für die jeweilige fremdsprachendidaktische Forschungsfrage geprüft und ggf. entsprechend adaptiert werden. Neben den Entwicklungen in den Bezugswissenschaften tragen auch technische bzw. technologische Entwicklungen zur Weiterentwicklung und -verbreitung bestimmter Forschungsverfahren bei. So waren die zunehmend preisgünstige Verfügbarkeit von technisch ausgereiften Kameras und die Entwicklung von spezieller Auswertungssoftware Voraussetzung für den aktuellen Boom der Videographie in der fremdsprachendidaktischen (Unterrichts-)Forschung (s. Kap. 5.2.3). Andere Beispiele sind die Möglichkeit der Nutzung von umfangreichen Korpora zur Lernersprache (s. Kap. 5.2.6 und 5.2.8) oder von immer komfortableren, leicht zugänglichen Programmen zur Auswertung qualitativer Daten (s. Kap. 5.3.5). Zu beachten ist jedoch, dass auch und gerade für leicht zugängliche Datenquellen oder scheinbar unkompliziert bedienbare Programme forschungsmethodisches Wissen unabdingbar ist, damit die gewählten Prozeduren tatsächlich die gewünschten Ergebnisse liefern.
Häufig weniger beachtet, sowohl in Hinblick auf die individuelle Entscheidung für bestimmte Forschungsprojekte und -verfahren als auch für die Entwicklung innerhalb der Disziplin, werden äußere Einflussfaktoren wie die zur Verfügung stehende Zeit, Unterstützungsmöglichkeiten, administrative Hürden oder auch die Erwartungen des Umfeldes (s. Kap. 6 und Kap. 8). Gerade weil diese Faktoren sehr einflussreich sein können und bestimmte Wege nahelegen, erscheint es umso wichtiger, sich als Forscher*in darüber klar zu werden, welche Vorstellungen von sozialer Wirklichkeit sowie der Art und Zielsetzung ihrer Erforschung man selbst teilt, bevor man die zentralen Forschungsentscheidungen trifft.
Generell wird zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung unterschieden, wobei insbesondere in einer anwendungsorientierten Wissenschaft wie der Fremdsprachendidaktik die Grenzen fließend sind. GrundlagenforschungGrundlagenforschung zielt auf Erkenntnisgewinn in der Disziplin an sich, unabhängig von möglichen Verwendungszusammenhängen. Sie „entwickelt die relevant erscheinenden Fragen und Aufgaben aus sich selbst heraus. Interessant ist, was die Wissenschaftler interessiert“ (Kanning et al. 2007: 239). Häufig geht Grundlagenforschung generellen Fragen nach und versucht, allgemein gültige Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten aufzuspüren. Das Erkenntnisinteresse von angewandter ForschungForschungangewandte ist dagegen vor allem auf praxisrelevante Themen und Fragen ausgerichtet: „Im Gegensatz zur Grundlagenforschung ist die Suche nach nützlichen Erkenntnissen der eigentliche Motor der Forschungsaktivität“ (ebd.). Innerhalb der angewandten Forschung können verschiedene Forschungszweige, wie z.B. die Entwicklungsforschung oder die Evaluationsforschung, unterschieden werden. Je nach erkenntnistheoretischer Position, Forschungszweig, Forschungsstand und Erkenntnisinteresse kommt Forschung unterschiedliche Funktionen zu: Die Spannweite reicht vom Aufzeigen und genauen Beschreiben von bestimmten Phänomenen über die Strukturierung, Systematisierung und Kategorisierung von Wirklichkeitsbereichen bis hin zur Entwicklung und Überprüfung von Hypothesen, Konzepten und Modellen. Im Bereich der anwendungsorientierten Forschung liegt der Schwerpunkt dabei auf der Erzeugung von praxisrelevantem Wissen sowie der theoriegeleiteten, systematischen Entwicklung und empirischen Überprüfung von für die Praxis relevanten Konzepten und Materialien. Welches Wissen tatsächlich als praxisrelevant betrachtet wird, kann je nach Zeit, Kontext und Erwartungen der Rezipient*innen variieren; leitend scheint daher die Absicht der Forscher*innen zu sein, Wissen zu erzeugen, das für die unterschiedlichen Akteur*innen in Praxiskontexten interessant ist oder zumindest sein könnte.