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3. Europäische Bedeutung

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Die Rezeptionsgeschichte des Einfältigen Bedenkens zeigt bereits erste Aspekte der europäischen Bedeutung des Reformators Martin Bucer. Gerade in Konstellationen, bei denen es darum ging, wenigstens eine moderate Reformation zu verwirklichen, griff man gerne auf das Einfältige Bedenken zurück. So hat sich der polnische Baron Johannes à Lasco nicht nur in seiner Tätigkeit als Superintendent in Ostfriesland, sondern auch als Reformator seines Heimatlandes an der Kirchenordnung orientiert. Bereits 1545 erschienen eine lateinische sowie 1547 und 1548 eine englische Übersetzung. In England hat das Einfältige Bedenken insofern erheblich gewirkt, als es das Grundsatzprogramm der anglikanischen Kirche, das Book of Common Prayer von 1549, beeinflusst hat.

Zugleich hat Bucer auf die puritanischen Kritiker der anglikanischen Kirche gewirkt. Die frühen Puritaner konnten sich auf ihn berufen, wenn sie den konservativen Umgang mit liturgischen Gebräuchen und Gewändern in der anglikanischen Kirche kritisierten. Da er nach seiner Flucht aus Straßburg die letzten eineinhalb Lebensjahre als Professor in Cambridge wirkte, wurde er auch unmittelbar in die Auseinandersetzungen in England hineingezogen. Den größten Einfluss übte aber wohl eine Schrift aus, die Bucer 1550 dem jungen, reformationsfreundlichen englischen König Edward VI. in handschriftlicher Fassung zukommen ließ. Unter dem Titel De regno Christi entfaltete er das Programm einer umfassenden Reform der Kirche und des gesamten politischen Gemeinwesens, das der Herrschaft Christi zu unterstellen sei. Das Amt des Herrschers bestehe darin, nicht nur für die Kirche zu sorgen, sondern auch für die Durchsetzung der Herrschaft |71|Christi in dieser Welt zu wirken. Der Herrscher solle sein Augenmerk zuallererst darauf richten, dass pietas, d.h. Glaube und Liebe, die gesamte Gesellschaft durchwaltet. Mit ihrem Anspruch, nicht nur die Reformation der Lehre, sondern auch die Reformation des Lebens und eine Durchsetzung der Herrschaft Christi im gesamten Gemeinwesen voranzutreiben, hat die 1557 gedruckte Schrift (BOL 15) zentrale Anliegen des reformierten Protestantismus formuliert. Entsprechend ist sie hier breit rezipiert worden.

Bucers Bedeutung für den reformierten Protestantismus Europas liegt über die skizzierten Aspekte hinaus in der konstitutiven Rolle, die er bei der Formierung der Theologie Johannes Calvins gespielt hat. Dieser wurde nach seiner ersten Phase reformatorischer Tätigkeit in Genf 1538 als Pfarrer der französischen Flüchtlingsgemeinde und Lehrer der Akademie nach Straßburg gerufen. In den Jahren der Tätigkeit in der Reichsstadt bis 1541 kam es zu einer freundschaftlichen Zusammenarbeit mit dem 18 Jahre älteren Bucer, und Calvin hat bis zu seinem Lebensende die tiefe Verbundenheit mit dem Straßburger Reformator betont. Erst in Straßburg entwickelte Calvin unter dem Einfluss Bucers seine gegenüber Luther eigenständige Theologie, so dass man urteilen konnte, Calvin sei erst in Straßburg zu „Calvin“ geworden (J. Courvoisier, Les Catéchismes de Genève et de Strasbourg, in: BSHPF 84, 1935, 105–121). Der Einfluss Bucers auf Calvins Theologie lässt sich recht präzise an den Erweiterungen der 1539 in Straßburg entstandenen Neuausgabe der Institutio Christianae Religionis aufzeigen. Erst jetzt findet sich eine ausführliche Abhandlung der Prädestinationslehre, die von Bucers Römerbrief- und Epheserbrief-Kommentar beeinflusst ist. Ebenso ist ein Kapitel über das Verhältnis von Altem und Neuem Testament hinzugekommen, das genau wie bei Bucer die Kontinuität von Altem und Neuem Bund betont. Der Straßburger hatte diese Auffassung in der Auseinandersetzung mit den Täufern entfaltet. Gegen deren Auffassung, dass nur der Erwachsene bewusst glauben könne und darum zu taufen sei, erläuterte er die Taufe als Sakrament des Neuen Bundes in Entsprechung zur Beschneidung als Bundeszeichen des Alten Bundes. Da diese ja offensichtlich an Neugeborenen vorgenommen werde, sei auch die Kindertaufe theologisch wohl begründet.

Auch Calvins Gesetzesverständnis war von Bucer beeinflusst. Während in der ersten Ausgabe der Institutio von 1536 noch Luthers Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium leitend war, fand sich in der in Straßburg entstandenen zweiten Ausgabe die für den gesamten reformierten Protestantismus charakteristische Hochschätzung des dritten Gesetzesgebrauches in den Wiedergeborenen als des wichtigsten Gesetzesgebrauches. Das entsprach Bucers humanistisch geprägtem Gesetzesverständnis, das nicht wie bei Luther auf die sündenüberführende Funktion des Gesetzes Gottes konzentriert war. Dessen Aufgabe war hier nicht zuvörderst, |72|den Menschen bereit zu machen, das Evangelium anzunehmen. Luthers Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium, die unter Berufung auf Paulus’ und Augustins Entgegensetzung von Buchstaben und Geist erfolgte, hat Bucer nicht übernommen. Vielmehr würdigte er das Gesetz mit Erasmus von Rotterdam als geistliches Gesetz in seiner orientierenden Funktion.

Schließlich dürfte auch Bucers Betonung der Kirchenzucht Calvins gleichgerichtete Bemühungen beeinflusst haben. Eben in dem Jahr, in dem Calvin nach Straßburg kam, brachte Bucer ein Werk zum Druck, in dem er seine Überzeugung von der konstitutiven Bedeutung der Kirchenzucht für die Kirche umfassend ausgeführt und eingehend biblisch begründet hat. Wie wenige andere Texte zuvor entfaltete dieses 1538 unter dem Titel Von der waren Seelsorge erschienene Werk spezifische Anliegen des reformierten Protestantismus (BDS 7, 67–245). Angesichts der mangelnden Bereitschaft des Straßburger Rates, die praktische Umsetzung der Reformation durch den obrigkeitlichen Erlass einer entsprechenden Kirchenordnung zu unterstützen, sah sich Bucer gedrängt, seine Auffassungen durch eine eigene Schrift zu propagieren. Nach seiner Einschätzung fehle in der Gemeinde der Sinn für das Wesentliche im Verständnis der Kirche. Man wisse nicht mehr, welche Ordnungen die Heilige Schrift für das Leben der Gemeinde vorschreibe und empfehle. Die Kirchenzucht wird als ein elementares Mittel der Seelsorge, um den Menschen zu bessern und in seiner inneren Entwicklung zu fördern, verstanden. Auch die Pflicht der weltlichen Obrigkeit, hierfür und das heißt, für die Erfüllung der Gebote auch der ersten Tafel des Dekaloges zu sorgen, wird in dem Werk herausgestellt.

Bucers Auffassung der Verantwortung der weltlichen Obrigkeit für die rechte Gottesverehrung ist ein wichtiger Ausgangspunkt der späteren Begründung eines Widerstandsrechts im Calvinismus geworden. In dem zuerst 1527 und dann mehrfach nachgedruckten Evangelienkommentar entfaltete Bucer in offensichtlichem Bezug auf das Verhältnis der evangelischen Reichsstadt Straßburg zu dem katholischen Kaiser ein aus der Verantwortung für die rechte Gottesverehrung resultierendes Widerstandsrecht der untergeordneten Magistrate. Petrus Martyr Vermigli, einer der wirkungsreichsten Bibelausleger des frühen reformierten Protestantismus und bis 1556 als Professor an der Straßburger Akademie tätig, hat das in seiner Bibelkommentierung übernommen und damit für die weitere Verbreitung gesorgt.

Bucers Ansehen als Theologe hat schon früh unter seinen unermüdlichen Vermittlungsbemühungen gelitten. Nicht nur Luther warf ihm den Verrat der Theologie um der Diplomatie willen vor. Auch die führenden Vertreter des reformierten Protestantismus, Heinrich Bullinger und Theodor Beza, urteilten über ihn – anders als Calvin! – sehr kritisch. So hat man sich kaum ausdrücklich auf ihn berufen, auch wenn seine Bibelkommentare zum Römerbrief, den Evangelien, den Psalmen |73|und dem Epheserbrief vielfach genutzt und mehrfach wiederaufgelegt wurden. Die europäische Bedeutung Bucers als Bibelausleger ist nicht zu unterschätzen. Die bis heute nicht ausreichend gewürdigten Impulse, die er Calvin und dem reformierten Protestantismus insgesamt gegeben hat, lassen es gerechtfertigt erscheinen, vom Calvinismus als einer höheren Form des „Butzerianismus“ (Reinhold Seeberg) zu sprechen.

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