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Vorwort

„Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Einen Tag nach dem Fall der Berliner Mauer, am 10. November 1989, hielt Willy Brandt in Berlin eine Rede, aus der vor allem dieser Satz in das kollektive Gedächtnis und in die Geschichtsbücher eingegangen ist – wie der fast ein halbes Jahrtausend zuvor, am 18. April 1521 in einer Rede auf dem Reichstag zu Worms von Martin Luther gesprochene Satz: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen.“: Große Worte in großen Reden.

Große Reden von der Antike bis heute – darunter auch die beiden eben angeführten – möchte der vorliegende Band vorstellen. Die Fülle und Vielfalt des Überlieferten zwang zu einer Auswahl, und so lernen wir im folgenden 15 große Reden kennen, die von charismatischen Persönlichkeiten in markanten historischen Situationen gehalten wurden: von Staatsmännern und Demagogen, von einer Königin aus dem Altertum und einem Papst aus dem Mittelalter, von einem gelehrten Dichter und einem Kämpfer für die Menschenrechte, von Reformatoren und Revolutionären. Nicht alle Reden wurden vor einem großen Auditorium gehalten – einmal handelt es sich sogar eher um eine Unterredung – und nicht alle Reden sind uns im Wortlaut überliefert; gerade in diesen Fällen ist es freilich aufschlußreich, anhand der unterschiedlichen Berichte über das Gesagte die Wirkung einer Rede zu verfolgen.

Zu jeder der ausgewählten Reden informiert zunächst eine fachkundige Einleitung über die historische Situation, in der die Rede gehalten wurde, und über die politische oder künstlerische Position des Redners oder der Rednerin und die von ihm oder ihr vorgebrachten Argumente. Ferner behandelt die Einleitung nötigenfalls die Überlieferung und die Wirkung der Rede sowohl auf das zeitgenössische Auditorium als auch auf die spätere Leserschaft – die übrigens nicht immer denselben Text zu lesen bekam, der als Rede gehalten wurde.

„Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ – „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen.“ So prägnant beide Sätze die Haltung der Redner zusammenfassen, so eingängig sie formuliert sind – beide wurden während der Rede gar nicht gesprochen, sondern finden sich jeweils erst in später redigierten Versionen, die also nicht den Wortlaut des Gesagten, wohl aber den (wenngleich erst nachträglich konstatierten) „Gesamtsinn“ der Rede wiederzugeben suchen.

Das damit angesprochene Problem ist seit der Antike bekannt: Im 5. Jahrhundert v.Chr. formulierte der bedeutende Historiker Thukydides in den methodischen Vorbemerkungen zu seinem Geschichtswerk (1,22) über den sogenannten Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta, aus dem auch die erste im vorliegenden Band wiedergegebene Rede stammt: „Was in Reden hüben und drüben vorgebracht wurde, teils während der Vorbereitungen zum Krieg, teils im Krieg selbst, davon den genauen Wortlaut im Gedächtnis zu behalten war schwierig, sowohl für mich, was ich selber anhörte, als auch für meine Zeugen, die mir von anderswo solche berichteten.“ Thukydides löste das damit beschriebene Problem so: „Wie aber meiner Meinung nach jeder Einzelne über den jeweils vorliegenden Fall am ehesten sprechen mußte, so sind die Reden wiedergegeben unter möglichst engem Anschluß an den Gesamtsinn des wirklich Gesagten.“

Genau zu rekonstruieren, was der Wortlaut einer Rede war, ist zwar spätestens seit dem 19. Jahrhundert dank exakter Mitschriften oder dank Tonaufzeichnungen möglich (die jeweils auch Reaktionen des Auditoriums – etwa Zwischenrufe – dokumentieren), doch sind damit spätere Redaktionen des „Gesamtsinns“ gleichsam, für die Nachwelt‘ nicht ausgeschlossen. Das gilt für Berichte über Reden etwa von Perikles, Boudicca oder Urban II. oder über die Unterredung von Metternich und Napoleon, aber auch für eigene Nachschriften der Redner, etwa von Luther oder Goethe, über dessen spontan wirkende Mündlichkeit in der Rede zum Shakespeare-Tag uns eine sehr sorgfältige Reinschrift des Autors informiert.

Auch zu der Rede von Willy Brandt nach dem Fall der Berliner Mauer hat man festgestellt: „Die gedruckte Fassung … dokumentiert … nicht die politische Position des Redners bzw. die vom Redner vorgebrachten Argumente im Moment seines Auftrittes vor dem Auditorium und somit auch nicht das, was auf das Auditorium wirkte, sondern nur die reflektierte, womöglich durch neue Erkenntnisse zusätzlich beeinflußte spätere Bewertung.“ (Rother 2001, S. 29). Beides, Wortlaut und „Gesamtsinn“, ist dabei von historischem Interesse.

15 große Reden – darunter eine Unterredung – von der Antike bis heute will unser Band vorstellen. Die fremdsprachlichen Texte erscheinen dabei in Übersetzung, die Rede Goethes in der originalen Orthographie. Vier der hier ausgewählten Reden aus dem 19. und 20. Jahrhundert – von Gagern, Bismarck, Stresemann und Goebbels – konnten nur gekürzt abgedruckt werden; Auslassungen sind dabei in eckigen Klammern gekennzeichnet, nötigenfalls stehen in diesen Klammern auch kurze Zusammenfassungen des Bearbeiters. Die für diese vier Reden überlieferten Zwischenrufe sind in geschweifte Klammern gesetzt. Hinweise auf die originalsprachlichen Quellen, auf Übersetzungen und auf weiterführende Literatur sind im Anhang zusammengestellt.

Der Band ist eine Gemeinschaftsarbeit. Die Auswahl der, großen‘ Reden aus der jeweiligen Epoche haben wir gemeinsam getroffen, die Einleitungen in je eigener Verantwortung geschrieben. Für die freundlich erteilte Genehmigung zum Abdruck von Übersetzungen danke ich den Verlagen Philipp Reclam jun. in Ditzingen bei Stuttgart und Artemis & Winkler in Düsseldorf, für die freundliche Erlaubnis, die Druckfassung von Willy Brandts Berliner Rede wiederzugeben, Frau Dr. Brigitte Seebacher-Brandt in Frankfurt am Main. Für die engagierte verlegerische Betreuung danke ich Wolfgang Hornstein vom Primus-Verlag Darmstadt, der 2007 eine revidierte Ausgabe in einem anderen Verlag vermittelt und nun die vorliegende zweite erweiterte Auflage im Primus-Verlag angeregt hat. Vor allem aber danke ich den Kollegen für ihre Bereitschaft zur Beteiligung an diesem Projekt.

Den Leserinnen und Lesern dieses Bandes wünschen wir viel Lesevergnügen und manch interessante historische Einsicht bei der Beschäftigung mit den 15 ausgewählten großen Reden – sowohl mit ihrem Wortlaut als auch mit ihrem „Gesamtsinn“.

Universität Erfurt

Kai Brodersen

I have a dream.

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