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Sowjetunion und Postsozialismus
ОглавлениеVon der Februarrevolution bis zum Tod Stalins (1917–1939)
Nach dem Sturz des Zaren in der Februarrevolution 1917 setzte die russische Provisorische Regierung als eine ihrer ersten Amsthandlungen die volle Gleichberechtigung der Juden durch. In der Periode zwischen dem Sturz des Zarentums im März 1917 und dem Machtantritt der Bolschewiki kam es zu einer bemerkenswerten Entfaltung der jüdischen Parteien und der Beteiligung der assimilierten Juden am politischen Leben des ganzen Landes. Auf der lokalen Ebene etablierten sich in Städten und Dörfern jüdische Gemeinden, deren Institutionen von der örtlichen jüdischen Bevölkerung demokratisch gewählt wurden. Dies war in den traditionell oligarchisch organisierten Gemeinden keineswegs selbstverständlich. Es entwickelte sich eine Publizistik in Hebräisch, Jiddisch oder Russisch, und jüdische Bildungsanstalten vom Kindergarten bis zum Lehrerseminar wurden geschaffen. Bereits vor der Revolution hatte sich in St. Petersburg und Moskau ein jüdisches Bürgertum herausgebildet, das die Revolution der Bolschewiki wenigstens in Teilen überlebte und bis in die zwanziger Jahre noch ansatzweise fortbestand.
Obwohl nach der Oktoberrevolution von 1917 die bereits in der Februarrevolution erreichte rechtliche Gleichstellung der Juden bestätigt wurde und sich unter dem neuen Re gime gerade für Juden, die sich bereits vor der Revolution in der sozialistischen Bewegung engagiert hatten, neue Betätigungsfelder eröffneten, brachte der nun ausbrechende Bürgerkrieg vor allem zwischen der Roten Armee der Bolschewiki und den konservativ-monarchistischen Verbänden der „Weißen“, der in den südlichen Gebieten des ehemaligen Zarenreichs tobte, zunächst eine neue Leidenszeit für die Juden.
Dies gilt speziell für die Ukraine, deren nationale Organisationen mit den roten und weißen Bürgerkriegsparteien konkurrierten und die Unabhängigkeit von Petrograd anstrebten. Bereits im Januar 1918 proklamierte die ukrainische Central’na Rada (Zentralrat) die von Rußland unabhängige „Ukrainischen Volksrepublik“ (UNR) und damit den ersten ukrainischen Nationalstaat. Die Minoritätenpolitik der Rada gab der jüdischen Bevölkerung zunächst Anlaß zur Hoffnung. So wurde wurde den zahlenmäßig größten Minoritäten, also Juden, Russen und Polen, in Anlehnung an austromarxistische Konzepte eine umfassende national-personale Autonomie zugebilligt. Jedem Individuum wurde unabhängig von seinem Wohnsitz der Schutz seiner nationalkulturellen und sprachlichen Rechte garantiert. Diese Rechte betrafen den Schulbereich, nationalkulturelle Organisationen und religiöse Vereinigungen. Zudem sollten nationalkulturelle Institutionen finanzielle Förderung von der Rada-Regierung erhalten. Es wurde sogar ein Ministerium für jüdische Angelegenheiten etabliert. Das Jiddische wurde eine der offiziellen Sprachen der UNR. Auch in der Weißrussischen Volksrepublik (BNR), die die kurze Phase der weißrussischen Nationalstaatlichkeit begründete, wurden den Nationalitäten in der Verfassung vom Februar 1919 der Schutz vor Repression und gleiche Rechte zugesichert.
1919 wurde die Ukraine jedoch zum Hauptschauplatz von Bürgerkrieg und Bauernaufständen und damit von Anarchie und Chaos. In diesem und im folgenden Jahr kam es hier, aber auch außerhalb der Ukraine zu Pogromen, die in ihren Ausmaßen die vorangegangenen übertrafen und mindestens 30.000 Juden das Leben kosteten. Antikommunistische Kräfte bedienten sich immer wieder des Klischees von der angeblich besonderen Affinität der Juden zum Bolschewismus als Vorwand für Übergriffe, obwohl sich nur ein kleiner Teil der russifizierten ukrainischen Juden für die Bolschewiki engagierte. Die Pogrome wurden vor allem, aber nicht ausschließlich von den irregulären Verbänden eigenmächtiger Atamane begangen, die formal unter dem Oberkommando Symon Petljuras standen, des Vorsitzenden des sogenannten „Direktoriums“, das seit November 1918 in der Ukraine regierte. Stark beteiligt waren zudem die aus russischen Offizieren und Kosaken bestehenden Truppen der „Weißen“. Von den bolschewistischen Truppen verübte Pogrome sind ebenfalls belegt. Die genaue Rolle, die die Direktoriums-Regierung bei diesen Pogromen spielte, ist in der Forschung umstritten. Im ganzen zeichnet sich jedoch ab, daß der ukrainischen Führung zumindest ein verspätetes und halbherziges Durchgreifen gegen die Ausschreitungen zur Last zu legen ist. Erst mit dem polnisch-sowjetischen Frieden von 1921 kehrte für die ukrainischen Juden weitgehend Ruhe ein.
Auch außerhalb der Ukraine erlebten viele Juden die Zeit des Kriegskommunismus (1917–1921) als einen Kampf um ihre physische Existenz. Maßnahmen der Bolschewiki wie die Zentralisierung der Produktion und Güterverteilung sowie das Verbot des Privathandels hatten für die Juden schwerwiegende Folgen, da sie überwiegend in Handel, Handwerk und Industrie beschäftigt waren. Besonders verhängnisvoll wirkte sich für sie die von den Bolschewiki eingeführte Klassifizierung der Bevölkerung in „Werktätige“ und „Nicht-Werktätige“ bzw. „Klassenfremde“ aus. Letzteren, den sogenannten „lišency“ (wörtlich: denen man etwas [das Recht] genommen hat), waren elementare Rechte wie das Recht zur Wahl der Sowjets genommen, die Registrierung auf den Arbeitsämtern untersagt und der Bezug von Lebensmittelkarten verwehrt, was einer Verweigerung des Lebensunterhalts gleichkam. Die Regelung sollte der Beseitigung „bourgeoiser Ausbeutung“ dienen und wurde beispielsweise auf Geistliche, Unternehmer, Gastwirte, Grundbesitzer und Zwischenhändler sowie deren Angehörige angewandt. Die Juden waren von dieser Maßnahme überdurchschnittlich betroffen: Etwa ein Drittel der Juden der Sowjetunion zählte zur Gruppe der „lišency“. Manche jüdische Händler wurden als Spekulanten erschossen, traditionelle Zwischenhändler verloren ihre Basis, und gleichzeitig verödeten die Schtetl-Strukturen. Erst 1928 wurde den „lišency“ die berufliche Integration in die Sowjetgesellschaft offiziell erlaubt.
Nachdem sich die Bolschewiki im Bürgerkrieg durchgesetzt hatten, wurde 1922 die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) gegründet, die auch die Ukraine und Weißrußland einschloß, nicht aber die nach der Revolution von 1917 abgefallenen Gebiete Polens, Finnlands, Litauens, Lettlands und Estlands. Um die Politik dieses neuen Staates gegenüber den Juden zu verstehen, muß man sich vor allem die Haltung Lenins und Stalins in der nationalen Frage und gegenüber dem Juden tum vor Augen führen.
Die Position der Bolschewiki in der „jüdischen Frage“ entwickelte sich in Auseinandersetzung mit den Zielen des „Bund“, der zwar die Forderung der Zionisten nach einem jüdischen Staat ablehnte, sich aber für ihre nationale Autonomie in den Staaten der Diaspora einsetzte. Lenin lehnte dieses Konzept mit der Begründung, daß den Juden die wichtigsten Merkmale einer Nation, nämlich Sprache – das Jiddische galt ihm als Relikt des Mittelalters – und Territorium, fehlten, scharf ab. Der Fortbestand des osteuropäischen Judentums als abgrenzbarer Gruppe beruhe ausschließlich auf dem Antisemitismus, der jedoch seinerseits als Produkt der gesellschaftlichen Konflikte im Kapitalismus unter der Integrationskraft des Sozialismus bald verschwinden müsse. Die Folge sei die vollständige Assimilation des Judentums im Rahmen der allgemeinen von den Marxisten angestrebten Verschmelzung der Nationen zu einer homogenen sozialistischen Weltgesellschaft.
Verbindlich in der Nationalitätenproblematik und damit auch in der „jüdischen Frage“ wurde für die Bolschewiki Stalins Aufsatz Marxismus und nationale Frage von 1912/13, in dem er den Juden ebenfalls die Merkmale einer Nation absprach. Das Ziel müsse daher die Assimilation der Juden sein. Autonomierechte könnten nur einer Bevölkerung mit einem abgegrenzten Territorium gewährt werden, nicht aber einer extraterritorialen Minderheit wie den Juden. Obwohl Lenin wie auch Stalin von allen Bevölkerungsgruppen die Aufgabe nationaler Eigenschaften erwarteten, waren die Juden doch die einzige Gruppe, von der sie eine so direkte und rasche Assimilation forderten.
Stalin äußerte sich zur „jüdischen Frage“ ohne tiefere Kenntnisse der Geschichte und Kultur der Juden im Ansiedlungsrayon. Von den 2,68 Mio. Juden in der Sowjetunion lebten 1926 in der ukrainischen Sowjetrepublik 1,57 Mio. (5,4 % der Republikbevölkerung), in der russischen Sowjetrepublik 624.000 (0,5 %) und in der weißrussischen Sowjetrepublik 407.000 (8,2 %). Im Unterschied zu Westeuropa war unter den Juden des Russischen Reiches das Selbstverständnis einer nationalen Gruppe sehr stark verbreitet. Dies äußerte sich auch im Wahlverhalten. In Rußland erhielten Ende 1917 bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung die national-jüdischen Listen 83,7 % der jüdischen Stimmen, wobei der mit Abstand größte Anteil auf die zionistischen Parteien entfiel. Gerade die Juden der westlichen Gebiete des ehemaligen Zarenreichs mit ihren Schtetl-Strukturen standen den ideologischen und sozialen Konsequenzen der Oktoberrevolution ablehnend bis feindselig gegenüber. Die ukrainischen und weißrussischen Gebiete waren Zentren jiddischer Kultur. Die dortigen Juden praktizierten die jüdische Religion, verfügten über eine spezifische, kulturelle Identität und waren daher meist assimilationsunwillig. Dies änderte sich erst mit den Pogromen 1919/20. Da diese Pogrome vor allem auf das Konto der „weißen“ Revolutionsgegner gingen, erschienen die Bolschewiki – trotz der Beteiligung einzelner Verbände an den Ausschreitungen – vielen Juden als Beschützer.
Nach dem Oktoberumsturz hatten sich die Bolschewiki angesichts des Bürgerkrieges zunächst gezwungen gesehen, ideologische Prämissen zwecks Sicherung von Macht und sozialer Stabilität zurückzustellen. Ein Kennzeichen der pragmatischeren, praxisorientierten Politik war eine flexible Nationalitätenpolitik. Kern dieser Politik war die „korenizacija“ (Einwurzelung). Diese vom Prinzip der Assimilation zunächst abrückende Politik zielte darauf, die Verwaltung der Randregionen loyalen, nichtrussischen Eliten zu übertragen und deren Anteil in den Republikapparaten der Sowjetunion zu erhöhen. Zudem sollten die durch Bürgerkrieg und Revolution erlittenen Verluste in den gebildeten russischen Oberschichten kompensiert werden. Dabei griff die Regierung ähnlich wie die vormoderne zarische Nationalitätenpolitik wieder auf die mobilen Diasporagruppen, vor allem auf Juden zurück. Diese strömten seit der Aufhebung ihrer Freizügigkeitsbeschränkungen in der Februarrevolution in die Städte, hofften auf sozialen Aufstieg und standen dem Sowjetregime häufig loyal gegenüber.
Die Bolschewiki schienen nun die zuvor vernachlässigte Tatsache zu berücksichtigen, daß es sich bei den Juden in den westlichen Gebieten der Sowjetunion um eine klar abgrenzbare Gruppe mit eigener kultureller Identität sowie einer besonderen Sozial- und Berufsstruktur handelte. Vor allem aber sah sich die sowjetische Führung angesichts des sozialen Elends der Ostjuden nach 1917 mit der Frage konfrontiert, wie die jiddischsprachige Bevölkerung in die Sowjetgesellschaft zu integrieren sei. Unter Stalin, dem Volkskommissar für Nationalitätenangelegenheiten, wurde nun auch gegenüber den Juden eine Politik der Nationsbildung betrieben, um sie in die sozialistische Gesellschaft einzugliedern.
Bereits 1918 waren das „Jüdische Kommissariat“ (Evkom) auf der Staatsebene und die „Jüdische Sektion“ (Evsekcija) auf der Parteiebene eingerichtet worden. Ihre Vertreter setzten sich aus Mitgliedern des „Bundes“, der „Poale Zion“ sowie den aufgelösten linken jüdischen Parteien zusammen. Das Evkom war ebenso wie die Institutionen anderer Nationalitäten seit 1920 Stalins Volkskommissariat untergeordnet. Die Führer der Evsekcii wurden nicht gewählt, sondern von der Partei ernannt. Nach kurzer Zeit schon wurde klar, daß es die eigentliche Aufgabe der neuen Organe war, die Parteibeschlüsse in der jiddischsprachigen Bevölkerung mit Hilfe einer jiddischen Presse und jiddischen Klubs umzusetzen. Schon wegen des Mißtrauens der Bolschewiki gegenüber den Bundisten und Zionisten sowie der jiddischsprachigen Bevölkerung, die sie des „kleinbürgerlichen Nationalismus“ verdächtigten, sollten Evkom und Evsekcija keine Organe freier Interessenartikulation der sowjetischen Juden werden.
In der ersten Phase konzentrierte sich das Interesse der Evsekcii darauf, die unabhängigen jüdischen Parteien und Organisationen zu bekämpfen. Nach inneren Spaltungsprozessen in pro- und antikommunistische Flügel kam es schließlich zum Beitritt zur Russischen Kommunistischen Partei (RKP). In Weißrußland versuchte der „Bund“, seine Selbständigkeit innerhalb der RKP durchzusetzen, was mißlang: Von 1921 an war der „Bund“ illegal. Nur die linke Fraktion der „Poale Zion“ blieb bis zu ihrem Verbot im Jahr 1928 ein von den Bolschewiki geduldetes Reservat des sozialistischen Zionismus.
Besonders repressiven Charakter trug die von den jüdischen Organen mitgetragene Kampagne gegen die Zionisten außerhalb der „Poale Zion“-Linken und gegen die hebräische Sprache. Seit 1920 wurden die verbliebenen Anhänger zionistischer Parteien massiv verfolgt, in Lager gesperrt oder nach Sibirien und Zentralasien verbannt. Zionismus wurde als „jüdischer Faschismus“ und Nationalismus gebrandmarkt, der die Verbreitung kommunistischer Ideen unter den jüdischen Massen erschwere. Gebrauch und Pflege der hebräischen Sprache wurden massiv behindert, auch wenn es kein formales Verbot gab.
Eine weitere Hauptaktivität der Evsekcii war die Durchführung der Antireligionskampagne 1921/22. Nachdem in der Anfangszeit der Sowjetunion die jüdischen Religionsschulen (Chedarim und Jeschiwot) noch eine Weile existieren konnten, leiteten die sowjetischen Behörden schon bald Repressionen gegen die religiösen Institutionen ein. Rabbiner, rituelle Schlachter und Lehrer wurden verhaftet. Wie die christlichen Kirchen und Moscheen wurden nun auch Synagogen und Bethäuser (23 % bis 1927) geschlossen, wobei einige von Evsekcii-Mitgliedern verwüstet oder in Arbeiterklubs umgewandelt wurden. Als Ersatz wurde den Juden eine „lebende Synagoge“ – analog zur „lebenden Kirche“ – mit linksorientierten Rabbinern angeboten. Die jüdischen Gemeindeinstitutionen als traditionelle Repräsentationsorgane der Juden sowie ihre karitativen Funktionen wurden liquidiert. Ebenso wie die anderen extraterritorialen Minderheiten, etwa Tataren und Deutsch-Lutheraner, wurden die Juden von diesen Repressionen besonders hart getroffen, weil die Wahrung ihrer kulturellen Identität stark an die traditionellen Institutionen gebunden war.
Die Auflösung des traditionellen jüdischen Lebens kann nicht als gezielt antijüdische Maßnahme gewertet werden. Der sowjetische Staat war an der Schaffung des „sozialistischen Menschentypus“ interessiert, nicht an der Erhaltung einer spezifischen, mit dem Religiösen eng verbundenen Identität. Die jüdischen Evsekcija-Aktivisten erprobten die sozioökonomische und kulturelle Neustrukturierung des sowjetischen Judentums und versuchten, an die Stelle traditioneller jüdischer Institutionen eine „sowjet-jiddische Ersatzkultur“ zu setzen. Tatsächlich blühte diese sowjet-jiddische Kultur von Mitte der zwanziger bis Mitte der dreißiger Jahre auf. Ein reges jiddischsprachiges Publikationswesen in Presse und Literatur begann sich zu entwickeln. Das von Solomon Micho’els geleitete Moskauer Staatliche Jüdische Theater war überregional bekannt. Zudem wurden jüdische Dorf- und Stadtsowjets, Gerichte und Polizeistationen eingerichtet, in denen das Jiddische einen offiziellen Status erhielt. Dennoch kam es nicht zu einer breiten Verankerung der jiddischen Sowjetkultur in der jüdischen Bevölkerung. Schon aus Gründen des sozialen Aufstiegs hatte es in der Judenheit bereits eine deutliche Hinwendung zur russischen Kultur gegeben, und für diejenigen, die ihre kulturelle Identität erhalten wollten, war eine von traditionellen Institutionen und Bräuchen gereinigte sowjet-jiddische Kultur unattraktiv.
Das zweite wichtige Element der Politik der Bolschewiki gegenüber den Juden war der Versuch, diese durch den Einsatz in der Landwirtschaft zu „produktivieren“ und so die verarmte jüdische Bevölkerung in die sozialistische Gesellschaft zu integrieren. Dies war kein genuin sozialistischer Ansatz: Schon seit Katharina II. hatten die Zaren versucht, mit Hilfe aufklärerischer Konzepte aus „unproduktiven Wucherern“ „nützliche Bauern“ zu machen. Zwar erhöhte sich aufgrund der sowjetischen Politik der Anteil der jüdischen Landbevölkerung deutlich, aber der Erfolg der Landansiedlung im Westen der Sowjetunion, vor allem auf der Krim in Weißrußland und der Ukraine, wurde begrenzt durch den Widerstand der jeweiligen Republikorgane sowie die Migrationen von Juden aus dem früheren Ansiedlungsrayonin die großen Städte – Kiev, Odessa, Moskau, St. Petersburg – im Zeichen der Ende der zwanziger Jahre forcierten Industrialisierung. Zwischen 1926 und 1939 wanderten etwa 300.000 Juden aus der weißrussischen und ukrainischen Sowjetrepublik in die russische Sowjetrepublik ein.
In engem Zusammenhang mit der Landansiedlung stehen die Projekte der Bolschewiki um die Schaffung eines autonomen jüdischen Territoriums in der Sowjetunion. 1928 entschied sich das Präsidium des ZK für das klimatisch und geographisch unattraktive Gebiet Birobidžan im Fernen Osten der Sowjetunion, das am 8. Mai 1934 sogar zur „Autonomen Jüdischen Provinz“ erklärt wurde. Dies bedeutete zugleich das Ende der Idee einer jüdischen Sowjetrepublik auf der Krim. Die Regierung nahm dabei Rücksicht auf den Widerstand der politischen Führungen der ukrainischen Sowjetrepublik und der Autonomen Republik der Krimtataren sowie auf Proteste in der ansässigen Bevölkerung. Vor allem wollten die Bolschewiki mit der Wahl Birobidžans das verbreitete antisemitische Klischee entkräften, sie seien „Handlanger der Juden“, denen sie die attraktive Krim schenkten, während sie russische und ukrainische Bauern ins unwirtliche Sibirien schickten.
In der Forschung werden neben der Produktivierung der Juden durch Landwirtschaft und dem Mangel an freiem Land in den westlichen Gebieten der Sowjetunion häufig auch wirtschaftspolitische (Erschließung von Bodenschätzen) sowie sicherheitspolitische (Sicherung der sowjetisch-chinesischen Grenze durch Kolonisierung) Interessen als Gründe der Sowjetführung für die Errichtung einer Autonomen Jüdischen Provinz Birobidžan genannt. Neuere Forschungen heben auch die Tatsache hervor, daß die Sowjetführung in Birobidžan – anders als auf der Krim – keinen Separatismus fürchten mußte, da dort die Bildung eines politisch-kulturellen Zentrums der Juden nicht zu erwarten war. Nationalitätenkonflikte drohten in dem dünnbesiedelten Gebiet ebenfalls nicht. Vor allem aber konnte Birobidžan das Prestige der Sowjetunion im Ausland heben. Eine Autonome Jüdische Provinz ermöglichte es, die Gleichberechtigung der Juden in einem multinationalen, sozialistischen Staat nach außen hin zu demonstrieren.
Die Übersiedlung erreichte nie die von der Regierung gesteckten Ziele. Viele Juden bevorzugten im Zeichen von Industrialisierung und Fünfjahresplan eher den direkten Weg in die Sowjetgesellschaft, die nun neue Arbeitsmöglichkeiten bot. Anstatt der für die Zeit von 1928 bis 1933 geplanten 60.000 Übersiedler gingen nur 20.000 Juden nach Birobidžan. Von diesen blieben nur 8500 dauerhaft dort. Die offiziellen Sprachen in Birobidžan waren Jiddisch und Russisch. Es entstanden Bibliotheken und 1934 ein eigenes Theater. 1937 gab es 16 Schulen mit Jiddisch als Unterrichtssprache. Während der politischen Säuberungen im Hoch- und Spätstalinismus 1934–38 und 1948–1953 wurde Birobidžan jedoch in Mitleidenschaft gezogen. Von einer eigenständigen jüdischen Kultur blieb nicht viel übrig. Hatten 1948 noch etwa 30.000 Juden in Birobidžan gelebt, so war die Zahl 1982, als die Autonome Jüdische Provinz aufgelöst wurde, auf unter 10.000 gefallen. Seit der Perestrojka verstärkte sich die jüdische Auswanderung, vor allem nach Israel, und hielt die gesamten neunziger Jahre hindurch an. Die von den jüdischen Kommunisten erhoffte Verwirklichung eines „Roten Palästina“ blieb ein Traum.
Insgesamt bedeutete die Zeit der frühen UdSSR für die Juden ein beachtliches Maß an Partizipation im Sowjetstaat. Dies wiederum förderte manches antijüdische Klischee. So wurde – und wird gelegentlich – die Tatsache der relativ hohen Anzahl von Personen jüdischer Herkunft in der Führungsspitze der Bolschewiki als Ausweis der besonderen Affinität der Juden zum Bolschewismus gedeutet. Für prominente Bolschewiki wie Trockij, Kamenev, Sverdlov oder Zinov’ev spielte die eigene jüdische Herkunft für ihr politisches Selbstverständnis jedoch keine Rolle. Vergleicht man den Anteil aktiver Juden innerhalb der Bolschewikimit ihrem Anteil bei den Menschewiki oder jüdischen Linksparteien, dann verschiebt sich die Frage nach dem Anteil von Juden bei den Bolschewiki hin zur allgemeineren Frage nach ihrer Aktivität in linken Bewegungen überhaupt. Dieses Engagement läßt sich wiederum mit den gesellschaftlichen Barrieren und Diskriminierungen im späten Zaren reich erklären, die viele Juden mit Hilfe der emanzipatorischen linken Parteien zu überwinden hofften.
Der urbane Charakter der jüdischen Sozialstruktur erklärt größtenteils den im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlichen Anteil von Juden in der Kommunistischen Partei, in der Städter grundsätzlich überrepräsentiert waren. Zudem bot der Parteieintritt neue Aufstiegsmöglichkeiten und eine politisch definierte neue Heimat, die fehlende Bindungen zur nichtjüdischen Umwelt zu kompensieren half. Die urban geprägte jüdische Sozialstruktur war auch ein Grund für den hohen Anteil von Juden in den Staatsbehörden der Ukraine und Weißrußlands (jeweils etwa 43 %). Unionsweit waren 30 % der Juden in staatlichen Unternehmen, Kooperativen mit Handel und im Kreditwesen vertreten. Staatliche Gesellschaften boten vielen Juden einen Ersatz für vorrevolutionäre Betätigungsfelder und Funktionen wie z.B. den zuvor für diese Bevölkerungsgruppe so bedeutenden Privathandel und konservierten sogar traditionelle jüdische Berufsstrukturen. Gleichzeitig wechselten viele Juden aufgrund ihrer überdurchschnittlich guten Bildung in wissenschaftliche, technische und freie Berufe.
Juden galten als urbane Bildungselite der UdSSR und waren im Hochschulwesen stark vertreten (1926/27: 16 %). In Weißrußland und der Ukraine stellten sie z.B. fast die Hälfte aller Medizinstudenten. Sowohl in der Partei als auch in den staatlichen Institutionen ging der Anteil von Juden im Verlauf der zwanziger Jahre zurück. Grund dafür war die zunehmende Rekrutierung von Ukrainern und Weißrussen im Zeichen der Nationsbildung. Die starke Partizipation von Juden in dem neu gegründeten sowjetischen Staat sollte jedoch nicht vergessen lassen, daß die Eingliederung in die Sowjetgesellschaft für viele Juden des ehemaligen Ansiedlungsrayons gravierende soziale und berufliche Umschichtungen mit sich brachte, die einen Teil von ihnen zunächst zu Verlierern der neuen Ordnung machte.
Nach dem Tod Lenins im Jahr 1924 brach ein Machtkampf zwischen Stalin und Trockij um die Führung von Partei und Staat aus. 1928 hatte Stalin seine innerparteilichen Konkurrenten ausgeschaltet. Als Generalsekretär der Kommunistischen Partei strebte er nun mit repressiven Mitteln in Form von Gleichschaltung, Terror und Zwangskollektivierung eine forcierte Industrialisierung an, die zu einer tiefgreifenden Transformation der Gesellschaft führte. Damit ging eine Abkehr von der bisherigen pragmatisch-flexiblen Nationalitätenpolitik im Sinne der Politik der „Einwurzelung“ und der Förderung nationalkultureller Autonomie einher. Nicht der „großrussische Chauvinismus“, sondern der „lokale Nationalismus“ der nichtrussischen Nationalitäten galt jetzt als Hauptgefahr. Ab 1934 wurde mit dem „Sowjetpatriotismus“ eine neue Mobilisierungs- und Integrationsideologie geschaffen, die den nicht mehr vorhandenen revolutionären Enthusiasmus ersetzen sollte. Der Sowjetpatriotismus war eine alle Völker überwölbende „Reichsidee“ (Gerhard Simon), die sowjetische Heimatliebe und Stalinkult mit russischem Nationalismus und Zarenglauben verband.
Als Vorboten der eigentlich erst Mitte der dreißiger Jahre einsetzenden neuen Nationalitätenpolitik Stalins konnte die Auflösung der jüdischen Sektionen, die bis zu einem gewissen Grad ein jüdisches Gemeinschaftsbewußtsein wachgehalten hatten, im Jahr 1930 gelten. Die jiddische Sprache wurde zurückgedrängt, jiddische Publizistik und Kultur wurden radikal dezimiert. Jüdische Verlage, jiddische Schulen außerhalb Birobidžan sowie das Institut für jüdische Kultur in Kiev wurden beseitigt.
Dem stalinistischen Terror in den „Großen Säuberungen“ der Jahre 1936–1938 fielen auch zahlreiche jüdische Wissenschaftler und Künstler unter dem Vorwurf des „jüdischen Nationalismus“ und des „Trockismus“ zum Opfer. Jüdische Politiker in Birobidžan blieben ebenfalls nicht verschont. Es ist jedoch festzuhalten, daß der stalinistische Terror der dreißiger Jahre sich nicht explizit gegen Juden, sondern grundsätzlich gegen internationalistische Alt-Bolschewiki der ersten Stunde richtete. Juden waren sowohl unter den Opfern als auch unter den Tätern. Ähnliches gilt für die seit 1928 verschärfte Verfolgung von Religion, die zur Schließung der Jeschiwot und bis 1939 der meisten Synagogen führte, was die jiddischsprachige jüdische Bevölkerung besonders hart traf. Insgesamt unterschied sich die Verfolgung der jüdischen Religion und Kultur qualitativ nicht von der anderer Religionen und Kulturen.
Eine tiefe Verunsicherung verspürten viele Juden der Sowjetunion, als Stalin 1939 einen außenpolitischen Kurswechsel vollzog und nicht mehr auf die Westmächte, sondern auf das nationalsozialistische Deutschland setzte, mit dem er am 23. August den später als „Hitler-Stalin-Pakt“ bekannt geworden Nichtangriffspakt schloß. Die Sowjetunion paßte sich nun der aggressiven deutschen Expansionspolitik an und verzichtete auf ihre bisherige Rhetorik, die zur Solidarität mit den unterdrückten und nach Gerechtigkeit strebenden Völkern und Klassen aufrief. Die sowjetischen Medien durften nicht mehr über die Verfolgungen und Diskriminierungen der Juden in Deutschland berichten.
Die Entlassung des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten Litvinov, der jüdischer Herkunft war, am 5. Mai 1939 sowie die anschließende Entlassung zahlreicher Juden aus dem diplomatischen Dienst, wurde weltweit als „antijüdische“ Geste Stalins gedeutet. Sie diente wohl zugleich als Beschwichtigungsmaßnahme gegenüber dem Deutschen Reich, da Stalin befürchtete, Hitler könne mit den Westmächten gegen die Sowjetunion paktieren. Gleichwohl sei darauf hingewiesen, daß Litvinovs Entlassung primär mit dem Scheitern seiner westlich orientierten Außenpolitik zusammenhing und auch nach dieser Aktion zahlreiche Funktionäre jüdischer Herkunft, wie z.B. Lazar Kaganovič, die zugleich zu den Vollstreckern von Stalins Terrorbefehlen zählten, an der Spitze der Führung der Bolschewiki verblieben. Von einer gezielt antijüdischen Maßnahme kann also allenfalls bedingt die Rede sein.
Die Annexion der ostpolnischen Gebiete 1939/40 durch die Sowjetunion bedeutete einen wichtigen Einschnitt für die dortige jüdische Bevölkerung. Nach einer kurzen Schonzeit und der anfänglichen Förderung jüdischer Kommunisten und anderer Linker in den „Revolutionskomitees“, die häufig freiwerdende Posten im zerschlagenen polnischen Staat einnahmen, begannen die stalinistischen Terrororgane mit der Zerstörung autonomer jüdischer Institutionen sowie der Verhaftung und Deportation der aktiven Vertreter der jüdischen Gemeinden in den annektierten Gebieten, bis schließlich ein eigenständiges jüdisches Leben vollends erloschen war. Den Eliten anderer Völker, z.B. der Polen, in den von der Sowjetunion annektierten Gebieten erging es freilich nicht besser.
Die aggressive Politik der Sowjetunion in Ostmitteleuropa im Bündnis mit Hitler erwies sich jedoch als Fehlkalkulation. Im Sommer 1941 wurde die Sowjetunion von den deutschen Truppen überrollt und mußte nun um ihr Überleben kämpfen. Grundsätzlich hatte das stalinistische Regime kein Interesse daran, die Leiden des jüdischen Volkes oder seine Beteiligung an den Kriegsanstrengungen hervorzuheben. Dennoch griff es in dieser Notsituation auf die Hilfe der Juden zurück, um die öffentliche Meinung im Ausland und vor allem in den Vereinigten Staaten zum Beistand im Krieg gegen Deutschland zu mobilisieren. Zu diesem Zweck gründete die Sowjetregierung im April 1942 das „Jüdische Antifaschistische Komitee“ (JAFK), das Juden in aller Welt aufrief, die Sowjetunion gegen das nationalsozialistische Deutschland zu unterstützen und vor allem in den angelsächsischen Ländern Sympathien für die Sowjetunion gewinnen sollte. Ihm gehörten bekannte Vertreter der jüdischen Intelligencija aus der Partei und der sowjetischen Gesellschaft an. Vorsitzender wurde der Schauspieler und Direktor des Staatlichen Jüdischen Theaters sowie Leninpreisträger Solomon Micho’els. Tatsächlich stand das JAFK unter Kontrolle des Geheimdienstes NKWD, mit dem alle Personalfragen und Aktivitäten abgestimmt werden mußten. Trotz seines unübersehbar propagandistischen Charakters wurde das JAFK zu einem Sammelpunkt jüdischen Lebens in der Sowjetunion und erinnerte an die gemeinsamen Bande, die die jüdischen Gemeinden in aller Welt verknüpften. Dies zeigt, daß die Bolschewiki, die ja in ihren Theorien die Existenz einer jüdischen Nation leugneten, in großer Not bereit waren, von ideologischen Prämissen abzurücken.
Die vorrückenden deutschen Truppen gingen mit brutalster Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung, die ihnen in die Hände fiel, vor. Von den 2,7 Mio. sowjetischen Juden, die in deutsche Gewalt gerieten, überlebten nur ca. 100.000 die Schoa. Die sowjetische Presse schwieg hierzu und wies, abgesehen von wenigen Ausnahmen, in ihren Berichten über die Greueltaten der nationalsozialistischen Einsatzgruppen und Sonderkommandos, an denen auch weißrussische Polizeieinheiten und ukrainische Hilfspolizei beteiligt waren, niemals auf den Sondercharakter der Ermordung der Juden hin. Ein Beispiel für dieses Verschweigen der Schoa, das sich auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fortsetzte, sind die Berichte der „Außerordentlichen Staatlichen Kommission“ in Moskau zur Untersuchung der nationalsozialistischen Verbrechen: In den nach langen Abstimmungsprozessen zur Veröffentlichung freigegebenen Akten über den von deutschen Einsatzgruppen verübten Mord an 33.771 Juden in der Kiever Schlucht Babij Jar am 29./30. September 1941 und über das Konzentrationslager Auschwitz durfte hinsichtlich der Opfer nicht von Juden, sondern nur von „friedlichen Sowjetbürgern“ oder „Bürgern europäischer Länder“ gesprochen werden.
Angesichts neuerer Forschungserkenntnisse läßt sich dieses skandalöse Verschweigen der nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden kaum mehr nur mit der Angst der Regierung vor einem „Antisemitismus von unten“ erklären. Es stand auch im Zusammenhang mit der Haltung der jungen, stalintreuen russischen Kader in Bürokratie und Partei in den vierziger Jahren, die für den russischen Chauvinismus im Gewand der offiziellen Ideologie des Sowjetpatriotismus sowie für antisemitische Stimmungen durchaus empfänglich waren.
Um dem Verschweigen der nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden entgegenzutreten, beschloß das JAFK, Dokumente über die Schoa zu sammeln und als „Schwarzbuch“ zu veröffentlichen. Die Idee eines „Schwarzbuches“ stammte von Albert Einstein und wurde vor allem von den Schriftstellern Il’ja Ėrenburg und Vassilij Grossman vorangetrieben. Doch das „Schwarzbuch“ durfte in der Sowjetunion nicht erscheinen und blieb bis zur Perestrojka Gorbatschows unter Verschluß.
Als die Sowjetregierung nach dem Zweiten Weltkrieg als erste den 1948 neu gegründeten Staat Israel anerkannte und die unter sowjetischem Einfluß stehende Tschechoslowakei Israel mit Waffen für seine militärischen Auseinandersetzungen mit den arabischen Staaten belieferte, begrüßten die sowjetischen Juden ebenso wie die Juden im Ausland diese „prozionistische Wende“ mit Hoffnung und Freude. Stalin diente die Unterstützung Israels freilich nur dazu, die britische und die amerikanische Position im Nahen Osten im Zeichen des Kalten Krieges zu untergraben. Als sich die sowjetisch-israelischen Beziehungen wegen der immer engeren Anlehnung des jüdischen Staates an den Westen massiv verschlechterten, ging die sowjetische Propaganda wieder dazu über, den Zionismus als Agent des amerikanisch-englischen Kapitalismus und als Feind der Arbeiter zu brandmarken.
Im Zusammenhang mit der „Antikosmopolitismus-Kampagne“, die sich seit 1946 gegen westliche Einflüsse und die „Ideologie der amerikanischen Weltherrschaft“ richtete, wurde trotz mancher Widersprüche der Antisemitismus seit dem Herbst 1948 zu einem festen Bestandteil der staatlichen Politik. Die Jahre 1948 bis 1953 werden auch als „schwarze Jahre“ des sowjetischen Judentums bezeichnet. Den Prolog zu der scharf antijüdischen Politik bildete die als Autounfall getarnte Ermordung des Leiters des JAFK, Solomon Micho’els, im Januar 1948. Anschließend wurde das JAFK wegen angeblich sowjetfeindlicher Spionage und als Organisation des „jüdischen Zionismus“ aufgelöst. Führende Mitglieder wurden Ende 1948/Anfang 1949 verhaftet. 1952 wurden dreizehn von ihnen zum Tode verurteilt und hingerichtet, darunter die bekannten Dichter Isaac Fefer und David Bergel’son. Das JAFK sollte in der Sowjetunion erst 1989 offiziell rehabilitiert werden.
Seit dem Herbst 1948 begann die Liquidierung sämtlicher jüdischer Institutionen, darunter auch des renommierten Moskauer Staatlichen Jüdischen Theaters. Zahlreiche jüdische Funktionäre wurden wegen antisowjetischer Tätigkeit verhaftet und beschuldigt, Teil eines imperialistischen Komplotts gewesen zu sein, dem auch zionistische Organisationen in Israel angehört hätten. Juden wurden in wahrscheinlich von Stalin redigierten Pravda-Artikeln als unzuverlässige „Kosmopoliten“ und antisowjetische „Verschwörer“ mit „Schma rotzern“ verglichen, die alles in der Welt zu zerstören trachteten. Diese Aussagen lassen sich nicht mehr als Anti-Zionismus auf dem Konto eines antinationalistischen „Internationalismus“ verbuchen, sondern weisen unübersehbare Analogien zur Sprache des Nationalsozialismus auf.
Einen Höhepunkt der Kampagne gegen die Juden nach 1948 bildete der sogenannte „Ärztekomplott“. Anfang 1953 meldete der sowjetische Geheimdienst eine „Verschwörung“ von Kremlärzten, die das Ziel gehabt habe, die Führer der Sowjetunion und Stalin zu ermorden. Die Verschwörung bestehe „zufällig“ ausschließlich aus Juden und sei vom US-Geheimdienst und internationalen jüdischen Organisationen gesteuert. Den verhafteten Juden drohte die Hinrichtung. Die Kampagne gegen Juden blieb aber nicht auf die Sowjetunion beschränkt, sondern wurde auf den gesamten kommunistischen Machtbereich ausgedehnt, was dem Nachweis der antisowjetischen Machenschaften des „Weltzionismus“ dienen sollte. Die Ärzte wurden nur durch Stalins Tod am 5. März 1953 gerettet: Der angekündigte Mordprozeß gegen sie fand nicht statt. Die Pravda sprach von einem schweren Irrtum des Geheimdienstes, und die Ärzte wurden rehabilitiert.
Die von Sowjetführung und Geheimdienst konstruierte Kampagne könnte als Auftakt zu weiteren Parteisäuberungen mit antisemitischem Hintergrund gedacht gewesen sein. Im Zusammenhang mit dem „Ärztekomplott“ haben einige Historiker darauf hingewiesen, daß sogar eine Deportation der Juden aus den Großstädten in den Fernen Osten geplant gewesen sei. Da Stalin während des Zweiten Weltkrieges ganze nationale Gruppen wie Krimtataren oder Deutsche deportieren ließ, ist eine solche Maßnahme durchaus vorstellbar. Für eine geplante Deportation von Juden konnten aber noch keine schriftlichen Belege angeführt werden.
Betrachtet man den Umgang der Bolschewiki mit der „jüdischen Frage“ für die gesamte Zeit von 1917–1953, dann läßt sich die Trennung in einen „Philosemitismus“ Lenins und einen Antisemitismus Stalins kaum aufrechterhalten. Zwar verurteilte Lenin die Pogrome gegen Juden im Bürgerkrieg ebenso scharf wie die spätzarische Diskriminierungspolitik. Aber seine Sympathien für die Juden waren klassenabhängig und bedeuteten keinen Einsatz für einen klassenneutralen Schutz der Juden vor Diskriminierungen. Die Gewährung einer jiddischen Sowjetkultur diente vor allem der „Übersetzung“ der kommunistischen Ideologie in die Sprache der jüdischen Massen. Die Frage nach Bedeutung und Ausmaß des Antisemitismus der Person Stalins ist umstritten. Jedenfalls zeigt Stalins Politik gegenüber den Juden mit all ihren Widersprüchen und ihrer Ambivalenz, daß er den Antisemitismus mit Rücksicht auf antijüdische Traditionen in der Bevölkerung dosiert einzusetzen wußte und bis 1948 auch durchaus bereit war, die projüdische Karte zu spielen. Philo- und Antisemitismus waren daher in mancher Hinsicht komplementäre Seiten ein und derselben Medaille, nämlich der hier wie dort betriebenen Instrumentalisierung der „jüdischen Frage“ zur Stabilisierung der bolschewistischen Herrschaft.
(Wilfried Jilge)
Zwischen Assimilierung und neuer Identität (1953–1985)
Stalins Tod ermöglichte es der Kommunistischen Partei, neue Führungskräfte zu etablieren, die die bisherige politische Linie des Terrors verließen und sich von ihr distanzierten. Nikita Chruščev warf auf dem XX. Parteikongreß 1956 Stalin vor, er habe „mit allen Mitteln die Glorifizierung seiner Person betrieben“ und die sozialistische Gesetzlichkeit vielfach verletzt. Bei der Auflistung der Verbrechen und politischen Fehler Stalins erwähnte Chruščev auch die ungerechte Behandlung der Minderheiten, nannte unter den Beispielen die Juden jedoch nicht.
Für diese endeten mit dem Tod Stalins zwar die „Schwarzen Jahre“, aber auch die poststalinistischen Sowjetführer waren nicht gewillt, von den Grundsätzen der Stalinschen Nationalitätenpolitik abzugehen. So gab es keine Chance, die Institutionen der jüdischen kulturellen Autonomie wiederherzustellen, selbst wenn diese, wie etwa das Jiddische Theater GosET, bis 1952 existiert hatten. Auch Chruščev sprach demonstrativ fast nur vom „sowjetischen Volk“ und lobte den hohen Grad der Assimilierung, den die jüdischen Bevölkerung erreicht habe. Diesen sah er durch eine Gewährung kultureller Autonomie gefährdet.
Der im Politbüro besonders mit Fragen der Ideologie betraute Suslov erklärte 1956, als er von kanadischen Kommunisten auf die Situation der jüdischen Bevölkerung angesprochen wurde, man wolle keine „tote Kultur“ wiederbeleben. Da die Partei die jiddischsprachigen Institutionen nur zugelassen hatte, um ihre eigenen Ziele zu befördern, fiel es für die Überlegungen nicht ins Gewicht, daß im Jahr 1959 bei der Volkszählung von den 2.267.000 Juden noch rund 400.000 Jiddisch ihre Muttersprache nannten. Kulturelle Institutionen über einen Bedarf „von unten“ zu begründen galt zumindest in der Chrusčev-Zeit als tendenziell sowjetfeindliche Einstellung. Immerhin erschienen ab 1959 wieder einige wenige Bücher in jiddischer Sprache, erst 1961 wurde in Birobidžan die Zeitschrift Sovietis Gejmland (Sowjetische Heimat) gegründet, die politisch ganz dem offiziellen Kurs folgte.
Die Zurückhaltung in bezug auf jüdische kulturelle Institutionen hatte ein Pendant in der Forcierung des Russischen als Verkehrssprache für alle Sowjetbürger und der Propagierung eines einheitlichen „sovetskij obraz žizni“ (sowjetischer Lebensstil), zu dem u.a. ein kämpferischer Atheismus gehörte. Seit 1960 wurde der Kampf gegen die Religionen, die als Erscheinungsformen nationaler Eigenheit und damit als Hindernisse auf dem Weg zu einem einheitlichen Sowjetvolk angesehen wurden, wieder besonders intensiv geführt. Wie Christentum und Islam war auch das Judentum Ziel vielfältiger Maßnahmen, die von Diffamierungen und Unterstellungen bis zur Zerschlagung der religiösen Gruppierungen und Schließung oder Zerstörung der Gotteshäuser reichten.
Während den Christen und Muslimen kleine Rückzugsgebiete in Form von Klöstern und Ausbildungszentren blieben, verfügten die Juden über keine einzige Rabbinerschule mehr, keine Druckerei zur Vervielfältigung der Gebetbücher. Fast alle rituellen Schlachtereien und Bäckereien waren geschlossen, das Backen von Mazzot stand zwischenzeitlich sogar unter Strafe. Bis zu dem Abebben der antireligiösen Propagandawelle fielen ihr fast 90 der etwa 150 aus der Stalinzeit verbliebenen Synagogen zum Opfer. Eigentliche Gemeinden hatte es auch schon vorher nicht mehr gegeben, nur noch „Dvadcatki“, Zusammenschlüsse von mindestens 20 Personen, die als religiöse Vereinigung registriert waren. Auch diese wurden nun dezimiert, da die Beschuldigungen, die zur Schließung von Synagogen führten, für nicht wenige Mitglieder der jeweiligen Dvadcatka mit Strafprozessen und Haftstrafen endeten.
Von der mit Chružčevs Distanzierung von Stalin verbundenen Liberalisierung, die nach dem Titel eines Kurzromans von Il’ja Ėrenburg als „Tauwetter“ bezeichnet wird, konnten auch Schriftsteller jüdischer Herkunft, die wie z.B. Ėrenburg selbst – weitgehend assimiliert waren, profitieren, solange sie das Jüdische nicht direkt thematisierten. Dies blieb wie alle Minderheitenprobleme tabu. Da während des „Tauwetters“ auch die Rehabilitierung von Opfern der stalinistischen Verfolgungen möglich wurde, konnten Werke verfemter oder ermordeter Klassiker, die wie z.B. Perec Markis vorrangig in Jiddisch publiziert hatten, nun wieder gedruckt werden. Die Auflagen waren freilich sehr niedrig.
Daß die Juden der Sowjetunion trotz der fortgeschrittenen freiwilligen und unfreiwilligen Assimilation noch als Gruppe erschienen, ist einerseits der Außenwahrnehmung geschuldet. In vielen Fällen machte die Umwelt die Akkulturation zunichte, indem sie die unterschiedliche Herkunft zu einem tatsächlichen Unterschied erklärte. Der Antisemitismus war als Begriff geächtet, nicht als diskriminierende Verhaltensweise. Andererseits gab es auch die Innenwahrnehmung der Juden als einer Schicksalsgemeinschaft, die von der Erfahrung von Unterdrückung und Verfolgung geprägt war. Darin, daß das Verhältnis von Innen- zur Außenwahrnehmung nicht offen angesprochen werden konnte, lag ein zentrales Problem jüdischer Existenz in der Sowjetunion. Die Juden konnten sich gegen den existierenden, aber geleugneten Antisemitismus ebensowenig wehren, wie sie ihre historischen Erfahrungen aufarbeiten konnten. Von staatlicher Seite wurden nicht nur, wie bereits erwähnt, die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Rassenideologie während der Zeit der deutschen Besatzung verschwiegen, sondern auch, der Logik der nur sehr selektiven Aufarbeitung des Stalinismus folgend, die stalinistischen Unterdrückungen der Juden tabuisiert.
Als Beispiel für den Umgang sowjetischer offizieller Stellen der nachstalinistischen Zeit mit den nationalsozialistischen und stalinistischen Verfolgungen der Juden kann noch einmal das bereits erwähnte Massaker in der Schlucht von Babij Jar bei Kiev herangezogen werden: Als der Stadtsowjet von Kiev plante, die Schlucht aufzufüllen und an ihrer Stelle einen Sportpark anzulegen, regte sich dagegen öffentlicher Protest, der zu einen Skandal eskalierte. Der damals 29jährige Evgenij Evtušenko plädierte in einem Poem für ein Denkmal und sprach vom gegenwärtigen Antisemitismus in der Sowjetunion. Er, der Dichter, sei deshalb ein echter Russe, weil er von den Antisemiten wie ein Jude gehaßt werde. Evtušenko, der das Poem in Auditorien und auf öffentlichen Plätzen vortrug, wurde stark angefeindet, auch Chruščev erklärte, er halte das Poem für überflüssig. Die Literaturnaja gazeta, die Zeitung des Schriftstellerverbandes, die schon die Protestbriefe gegen die Sportparkpläne publiziert hatte, druckte jedoch am 19. September 1961 den Text ab. Viele Intellektuelle unterstützten Evtušenko. Dmitrij Šostakovič z.B. widmete dem Poem seine 13. Sym phonie. Babij Jar erhielt 1976 ein Denkmal, das jedoch unterschlug, daß es sich bei den Opfern um Juden handelte.
Der Antisemitismus, der bei der Entscheidung im Kiever Stadtsowjet sichtbar wurde, ist methodisch schlecht faßbar. Er war nicht Teil einer Kampagne wie Stalins Vorgehen gegen das JAFK, sondern erscheint vielmehr als ein Klima der Rechtsunsicherheit, in dem kleinere und größere Diskriminierungen möglich waren, ja sogar als normal gelten konnten, zugelassen von Desinteresse und mangelnder Sensibilität für die Belange einer Minderheit. Auch der 1964 vollzogene Wechsel in der Parteispitze, bei dem Nikita Chruščev von Leonid Brežnev abgelöst wurde, führte in dieser Beziehung zu keinen erkennbaren Veränderungen. Obwohl die Rekonstruktion dieses latent antisemitischen Klimas und die Bestimmung der Rolle, die Regierung und Behörden bei seiner Aufrechterhaltung – eventuell sogar seiner Verdichtung – spielten, schwierig ist und entsprechende sozialwissenschaftliche Untersuchungen fehlen, erscheinen doch folgende, freilich aus einer Reihe von Einzelbeispielen gewonnenen Aussagen möglich:
Erstens: Die offizielle Politik ließ trotz aller Beschwörungen gegenüber dem Ausland die massenhafte Verbreitung von antisemitischen Stereotypen und Vorurteilen in Broschüren nichtamtlichen Charakters zu. Diese fanden sich in großer Zahl in Publikationen, die sich den Anstrich der „Wissenschaftlichkeit“ gaben, mit ihren „Enthüllungen“ über das Judentum jedoch lediglich alte Vorurteile neu präsentierten. Untersuchungen zu sowjetischen Massenmedien zeigen, daß es neben den auch im Ausland wahrgenommenen Karikaturen vor allem auch literarische Texte waren, die alte antisemitische Vorurteile aufwärmten: literarische Figuren mit jüdischen Namen verhielten sich geldgierig und illoyal und schadeten braven Sowjetbürgern. Die Verantwortung für diese Publikationen trug letztlich die Partei, die das Publikationsmonopol besaß.
Zweitens: Die offizielle Politik ließ nicht nur die Verbreitung von antisemitischen Vorurteilen in nichtamtlichen Publikationen zu, sondern auch die Regierungs- und Parteizeitungen schürten die Stimmung gegen Juden. Dies wird vor allem im Zusammenhang mit der Politik gegenüber Israel deutlich. Der „Ärztekomplott“ 1953, die Suez-Krise 1956 und der Sechstagekrieg 1967 führten zu politischen Konflikten mit dem Staat Israel, in deren Verlauf jeweils für begrenzte Zeit die diplomatischen Beziehungen abgebrochen wurden. Israel, die internationalen jüdischen Organisationen und auch die USA wurden in der Regierungs- und Parteipresse heftig angegriffen. „Zionismus“ wurde mit „Imperialismus“, bisweilen sogar mit „Faschismus“ gleichgesetzt, über das Schlagwort vom „Weltzionismus“ wurde wieder an alte Verschwörungstheorien angeknüpft. Die Karikaturen auch in den regierungsamtlichen Presseerzeugnissen hatten bisweilen eine fatale Ähnlichkeit mit denen im Stürmer.
Drittens: Gleichzeitig bemühte sich die sowjetische Führung, nach außen den Schein zu wahren, ihr sei an einem gleichberechtigten Miteinander der Kulturen gelegen. Antisemitismus gebe es in der Sowjetunion nicht. Ein besonders aussagekräftiges Beispiel dafür ist der im Februar 1966 gegen die Schriftsteller Julij M. Daniėl (1925–1988) und Andrej D. Sinjavskij (1925–1997) eröffnete Prozeß. Die beiden hatten unter den Pseudonymen „Nikolaj Aržak“ und „Abram Terc“ satirische Texte verfaßt und in Frankreich drucken las sen. Da der alltägliche sowjetische Antisemitismus Gegenstand der Satire war, argumentierten die Ankläger, die Autoren verbreiteten antisemitische Propaganda. Gleichzeitig hielt die regierungsamtliche Zeitung Izvestija Sinjavskij vor, es sei eines Russen „unwürdig“, ein jüdisches Pseudonym gewählt zu haben. Daniėl und Sinjavksij wurden zu fünf bzw. sieben Jahren Lager verurteilt.
Es ist auch festzuhalten, daß die sowjetische Führung nicht ausschließlich mit Repressionen auf den den Wunsch vieler Juden reagierte, das kulturelle Leben der Sowjetunion durch eigene Beiträge mitgestalten zu können. Dies kam vor allem, aber nicht ausschließlich, der jiddischsprachigen Kultur in Birobidžan zugute. Dort wurde ebenso wie in Wilna (heute: Vilnjus) und Kišinev ein jiddisches Theater wieder zugelassen, eine zweite Zeitschrift, stundenweise Rundfunksendungen u.ä. kamen hinzu. Dies waren Zugeständnisse in Rich tung auf eine „sprachliche Vielfalt“, die Inhalte waren jedoch die allgemein sowjetischen.
Viertens: Während der Regierungszeit Chruščevs und Brežnevs wurden Sowjetbürgern jüdischer Herkunft bestimmte berufliche Karrieren verwehrt bzw. erschwert. Seit den Stalinschen „Säuberungen“ hat es praktisch keine Juden mehr im Auswärtigen Dienst, im Außenhandelsministerium und in den hohen Offiziersrängen von Militär und Geheimdiensten gegeben. Sowohl für höhere Partei- und Staatsämter als auch für höhere Bildungseinrichtungen gab es inoffizielle „Judenquoten“, die in den siebziger und achtziger Jahren von Hochschulzulassungskommissionen nicht selten damit begründet wurden, man wolle ja nicht die Spezialisten für Israel ausbilden. Trotzdem hielt sich das Vorurteil zäh, Juden seien in den leitenden Funktionen „überrepräsentiert“, wobei sich statistisch nur feststellen läßt, daß Juden überdurchschnittlich häufig in „White-Collar-Berufen“ tätig waren. Unter den habilitierten Wissenschaftlern stellten sie nach den Russen die zweitgrößte ethnische Gruppe.
Daß sich die Innenwahrnehmung der jüdischen Gemeinschaft in der Sowjetunion als einer Minderheit mit eigenen historischen Erfahrungen zu einer gewissen Gruppenindentität entwickelte, hängt u.a. mit einem Wandel in der Intelligencija zusammen: In den sechziger Jahren wuchs unter den Enttäuschten der Widerstand gegen das Sowjetsystem, dessen humanistisches Pathos spätestens nach der Besetzung der ČSSR 1968 nicht mehr glaubhaft erschien. Der Widerstand war seit dem Ende der Stalinzeit nicht mehr direkt lebensgefährlich, zumal die Öffentlichkeit in den westlichen Ländern das Geschehen beobachtete und bei Verletzungen der Menschenrechte protestierte. In vielen der nun entstehenden Dissidentengruppen spielte die Analyse des Antisemitismus eine wichtige Rolle. Daneben gab es auch jüdische Gruppen, die über den Weg diskutierten, den die sowjetischen Juden einschlagen sollten. Die Renaissance jüdischen Selbstbewußtseins äußerte sich in einer Vielfalt von Optionen, die die starken Differenzierungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft – noch Anfang der achtziger Jahre war jeder sechste bis siebte erwachsene sowjetische Jude Mitglied der Kommunistischen Partei – reflektierten. Die sich neben dem Offiziellen etablierende Vielfalt fand in dem gut organisierten Untergrund entsprechende Ausdrucksformen.
Durch die forcierte Assimilierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte war in einem großen Teil der jungen Generation das Wissen um jüdische Traditionen verlorengegangen. Jüdisch – das war oft nur die im Paß eingetragene Nationalität. Vor allem diese Generation entdeckte in der jüdischen Subkultur eine ihr unbekannte Welt des Judentums, und der Reiz des Verbotenen tat das Seine. Jüdisches Selbstbewußtsein bedeutete für einige die Rückkehr zur jüdischen Religion, wie überhaupt in den sechziger Jahren das Religiöse in der Sowjetunion eine Renaissance erlebte. Politisch wichtiger aber waren die Diskussionen, die die zionistischen Ideale wiederbelebten und die Debatten der Jahrhundertwende gewissermaßen neu führten. Heftig wurde um die Rolle des Staates Israel gestritten: Sollte er das Ziel jüdischen Engagements sein oder doch eher die Veränderung der angestammten Sowjetunion?
Im Jahr 1967 organisierten jüdische und nichtjüdische Untergrundgruppen vor der Moskauer Choral-Synagoge eine Demonstration gegen den Antisemitismus, bei der 20.000 Menschen auf die Straße gingen. Die menschenrechtlich orientierten Gruppen, bei denen Julij Ėjdelman und Anatolij Ščaranskij eine zentrale Rolle spielten, sprachen sich für einen Kampf um Gleichberechtigung in der Sowjetunion aus. Sie engagierten sich in den sogenannten Helsinki-Komitees und erhielten Unterstützung von anderen Dissidenten, wie z.B. von Andrej Sacharov, der in seinem Offenen Brief an den Obersten Sowjet im Mai 1971 den Antisemitismus kritisierte. Die Anführer des jüdischen Untergrunds wurden seit 1970 in einzelnen Verfahren zu langen Freiheitsstrafen verurteilt, Ščaranskij z.B. 1977 zu 13 Jahren. Er durfte 1986 ausreisen und wurde in den neunziger Jahren in Israel Kabinettsmitglied.
Der latente Antisemitismus und die überzogene Polemik gegen die israelische Politik stärkten im ganzen das jüdische Selbstbewußtsein und den Zionismus. Es wuchs die Solidarität mit Israel und der Wunsch, dorthin zu emigieren. Das Ziel der Emigration war aber nicht nur Israel und das Motiv beileibe nicht immer der Zionismus. Für viele stellte die Emigration die einzige Möglichkeit dar, den Unzulänglichkeiten und Widrigkeiten der sowjetischen Lebensverhältnisse zu entkommen, weshalb Amerika oder Westeuropa als Ziele ebenfalls sehr attraktiv waren. Man sprach von diesen ausreisewilligen Juden als „Refuseniks“, weil sie es ablehnten, weiter in der Sowjetunion zu leben. Die Emigration schürte ihrerseits wiederum den Antisemitismus, der z.T. dem Neid entstammte, nicht selbst ausreisen zu können.
Seit der Mitte der sechziger Jahre versuchte die Sowjetführung, sich eines Teils des Drucks dadurch zu entledigen, daß sie mehr Personen ausreisen ließ. Zwischen 1954 und 1960 waren es insgesamt 1676 Juden, 1965 bereits 891 und 1966 2046. Ein Einbruch ist für die Jahre 1967 bis 1970 zu verzeichnen, eine Reaktion auf den Sechstagekrieg, den die Sowjetunion scharf verurteilte. Wie groß der Leidensdruck der Ausreisewilligen war, zeigte sich 1970, als eine verzweifelte Gruppe von Juden durch die Entführung eines Verkehrsflugzeugs nach Israel zu gelangen versuchte. Der Prozeß erregte internationales Aufsehen, zumal die Angeklagten zum Tode verurteilt wurden. Nach massiven ausländischen Protesten wurde das Urteil am 31. Dezember 1970 in Freiheitsstrafen umgewandelt.
Im Jahr 1971 begann die Sowjetführung, ihre Politik gegenüber dem harten Kern der Oppositionellen zu ändern. Zum ersten Mal verwies sie mit einer größeren Gruppe jüdischer Dissidenten unbequeme Mitbürger des Landes. In den Folgejahren konnten mehr als 172.000 Juden ausreisen. 1980 waren es noch einmal 20.000. Dann gingen die Zahlen kontinuierlich zurück. Mit weniger als 1000 im Jahr 1983 erreichte sie einen neuen Tiefstand. Auch Rußlanddeutsche und Armenier durften in größeren Kontingenten ausreisen. Aufsehen erregten die Zwangsausbürgerungen bekannter Intellektueller wie etwa 1974 die von Aleksandr Solženicyn, Viktor Nekrasov, Vladimir Maksimov oder Efim Ėtkind. Parallel zur Abschiebung wurde ein Propaganda-Feldzug in Gang gesetzt, der die Vorzüge der Sowjetunion für Juden hervorhob und die Vorwürfe des Antisemitismus zurückwies. Auch Juden wirkten dabei mit. So ließen sich 1983 genügend prominente Persönlichkeiten finden, die als „Antizionistisches Komitee“ gegen die Ausreisewilligen Stimmung machten. Zugleich hatte die Sowjetführung erkannt, daß sich für die Ausreise der Juden, wie für die der Rußlanddeutschen, in der internationalen Politik ein Preis erzielen ließ. In den siebziger Jahren spielten die Ausreisemöglichkeiten für sowjetische Juden widerholt eine Rolle bei amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen.
Im Jahr 1979 gaben noch 1,8 Mio. Sowjetbürger an, jüdischer Nationalität zu sein, das waren etwa 450.000 weniger als 1959. Fast 200.000 waren emigriert, zwischen 10 % und 15 % waren so weit assimiliert, daß sie sich nicht mehr als Juden bezeichneten. Der restliche Schwund erklärt sich mit der schon in den fünfziger Jahren relativ ungünstigen Alterspyramide und der für Städter typischen niedrigen Reproduktionsrate. Drei Viertel der sowjetischen Juden lebten im europäischen Teil der Sowjetunion, fast alle in Städten, mehr als ein Viertel allein in den Metropolen Kiev, Moskau und Leningrad.
(Norbert Franz)
Sowjetische Perestrojka und Postsozialismus
In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre traten in der Sowjetunion tiefgreifende Änderungen ein. Der am 11. März 1985 zum Generalsekretär gewählte Michail Gorbačev versuchte, die Sowjetunion gründlich umzubauen („perestrojka“). Die 1987 propagierte Transparenz („glasnost’“) sollte eines der Mittel des Umbaus werden: der schrittweise Abbau von Tabus und das Zulassen einer kritischen Öffentlichkeit. Dies ermöglichte die Diskussion von jüdischen Themen in der Öffentlichkeit, lange zurückgehaltene Bücher und Filme wurden freigegeben.
In den Jahren 1987 und 1988 entstand eine Reihe von jüdischen Organisationen und Gesellschaften, die als Träger kultureller und wissenschaftlicher Einrichtungen fungierten. Dabei erwies es sich als hilfreich, daß sich in Israel und den USA bereits eine russischsprachige jüdische Kultur etabliert hatte. Schätzungen zufolge soll 1995 die Zahl der jüdischen Kulturvereinigungen 400 bis 500 betragen haben. Diese gaben ca. 100 Zeitungen und Zeitschriften heraus. Zwei jüdische Universitäten wurden gegründet.
Neue Bestimmungen für die Religionsgemeinschaften erleichterten ab 1988 die Wiedererrichtung religiöser Institutionen. Vorsichtigen Schätzungen zufolge praktizierten etwa 10 % der Juden Rußlands ihren Glauben – verläßliche Zahlen liegen nicht vor. Deutlich ist ein kulturelles Interesse an den jüdischen Traditionen. Die Bildungseinrichtungen sind eher auf „Jewish studies“ ausgerichtet als auf die Vermittlung religiöser Grundlagen.
Glasnost’ bedeutete allerdings auch publizistische Freiheiten für die Minderheit, die den versteckten Antisemitismus nun öffentlich bekannte und propagierte. Die Aussicht auf marktwirtschaftliche Elemente im Wirtschaftsleben ängstigte vor allem viele Kulturschaffende, deren Wohlergehen zuvor weitgehend unabhängig vom tatsächlichen Verkauf ihrer Werke gewesen war. So formierten sich vor allem unter den Schriftstellern sehr schnell die Lager, die später die ganze Gesellschaft – soweit sie sich politisch engagierte – spalten sollten: Auf der einen Seite die Befürworter einer starken Westorientierung, die parlamentarische Demokratie und Marktwirtschaft einschließt, auf der anderen Seite die Anhänger eines politischen wie wirtschaftlichen „Sonderweges“. Die Lager waren und sind höchst heterogen und weniger zur Beschreibung der politischen Landschaft tauglich als zur Charakterisierung grundsätzlicher kultureller Optionen. Bei den Verfechtern des Sonderwegs ist der Antisemitismus zu einem verbindenden Element und zu einem Massenphänomen geworden, denn Nationalisten, Monarchisten, Faschisten, Leninisten, Stalinisten und viele andere haben außer der Reichsidee und der Ablehnung der westlichen Kultur und Zivili sation nicht viel Gemeinsames. Im Umfeld dieser Gruppierungen hat sich eine eigene Subkultur mit Zeitungen und Buchpublikationen herausgebildet, wo u.a. die alten Hetzschriften wie z.B. Die Protokolle der Weisen von Zion wiederaufgelegt werden.
Hatten bislang vor allem Juden den ganzen Komplex der (verweigerten) kulturellen und religiösen Selbständigkeit und des Antisemitismus „jüdische Frage“ genannt und dazu aufgerufen, diese öffentlich zu diskutieren, so versuchen nun die Antisemiten, den Terminus „jüdische Frage“ zu besetzen. Sie benutzen ihn, um damit ihre Verschwörungstheorien zu bezeichnen, die alle Fehlentwicklungen in Staat, Ökonomie und Gesellschaft den Juden anlasten. Ihre am weitesten verbreitete Formulierung haben diese Verschwörungstheorien in dem Essay Rusofobija des Mathematikers und Schriftstellers Igor Šafarevič gefunden. Aus Angst vor den ihm zahlenmäßig überlegenen Russen hätte „ein kleines Volk“ den Entschluß gefaßt, dessen „religiöse und nationale Lebensgrundlagen endgültig zu zerstören“. Das „kleine Volk“ sei die wurzellose Intelligencija, innerhalb deren die Juden eine besondere Rolle spielten. Die Kultur sei jüdisch „zersetzt“ (Freud, Schönberg, Picasso[!], Brodskij), der „lebendige Volkskörper“ werde „abgeschlachtet und zerteilt“. Die Oktoberrevolution und der ganze Sozialismus werden als Werk einer jüdischen Clique gedeutet, und die Russen werden zur Wehrhaftigkeit aufgerufen. In ähnlichen Mythen werden Juden und Freimaurer gleichgesetzt.
In den seit dem Ende des Sozialismus in Rußland abgehaltenen Wahlen haben die radikalen Parteien zwar keine Mehrheiten erhalten, gleichwohl ist der postsowjetische Antisemitismus ein Massenphänomen und nicht mehr, wie noch zur Zarenzeit oder unter den Sowjets, ein vom Regime eingesetztes Instrument. Während einzelne Politiker, angefangen vom Präsident Boris Jelzin bis in die Stadträte, und auch der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche antisemitische Auswüchse beim Namen nennen und verurteilen, teilen weite Kreise der mittleren Ebene in Staat und Kirche die antisemitischen Vorurteile oder dulden diese zumindest. Durch die Passivität der Staatsorgane bleiben antisemitische Hetze und Aufrufe zur Gewalt gegen Juden meist ungeahndet, selbst die Abgeordneten der Duma konnten sich 1998 nicht mehrheitlich zu einer Rüge für den kommunistischen Abgeordneten Viktor Il’juchin durchringen, der den Juden im Parlament „Genozid im großen Maßstab am russischen Volk“ vorgeworfen hatte. Auch der KP-Chef Gennadij Sjuganov stuft heute den Zionismus gefährlicher ein als den Faschismus.
Die Vertreter der russische Kultur tun sich schwer damit, daß aus der Konkursmasse der Sowjetunion auch eine russischsprachige jüdische Kultur hervorgegangen ist, die sich mit der russischen in vielen Bereichen deckt, aber nicht in allen. So wurden etwa Romane, die den Mord an dem Vorsitzenden des JAFK Micho’els literarisch bearbeiten (z.B. A. u. G. Vajner: Petlja i kamen’ …; A. Askol’dov: Vozvraščenie v Ierusalim), interessiert aufgenommen, aber schon der Versuch, die Geschichte des 20. Jhs. ganz konsequent aus einer jüdischen Perspektive zu gestalten (F. Gorenštejn: Psalom), stieß fast nur noch auf Unverständnis.
Das Schicksal Rußlands ist unsicher, viele Juden haben in den letzten anderthalb Jahrzehnten das Land verlassen. Während der Perestrojka wanderten 39.141 Juden aus, in den Jahren 1989 bis 1994 sollen es laut Neue Zürcher Zeitung ca. 800.000 gewesen sein. Sollten diese Schätzungen durch genaue Recherchen bestätigt werden, wäre die Zahl der „russischen Juden“ schon unter die Marke von einer Million gesunken.
(Norbert Franz)