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Die Juden in Lettland und Estland

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Die Juden in Livland, Kurland und Lettgallen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts

Die Geschichte der Juden insbesondere in den Territorien Kurlands und Livlands ist – mit Ausnahme einiger jüngerer Arbeiten – noch nicht intensiv erforscht und wird in Übersichtsdarstellungen oft vernachlässigt. Es fehlen gründliche, archivgestützte Gesamtdarstellungen, die die auch in einschlägigen Lexika meist unkritisch übernommenen und häufig widersprüchlichen Angaben, insbesondere zur rechtlichen Lage, aber auch zur Datierung von einzelnen Ereignissen, überprüfen würden. Ähnliches gilt für die Forschungslage zur Geschichte Lettlands und Estlands in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs.

Livland (lett. Vidzeme), Estland, Kurland und Semgallen (lett. Kurzeme bzw. Zemgale; im folgenden nur: Kurland) gehörten seit dem 13. Jh. überwiegend zum Besitz des Livländischen Zweiges des Deutschen Ordens sowie zum Erzbistum Riga (lett. Rı¯ga). Im Verlauf des Livländischen Krieges (1558–1582) zwischen Moskau, Schweden und Polen-Litauen löste sich der Livländische Ordenszweig auf, und Altlivland wurde unter Polen-Litauen und Schweden aufgeteilt: Estland wurde schwedisch, Lettgallen (lett. Latgale), die südöstliche Region des heutigen Lettland und das übrige überdünische Livland kamen zu Polen-Litauen. Aus dem ehemaligen Ordensbesitz südlich der Düna wurde das Herzogtum Kurland unter polnischer Lehnshoheit gebildet. Riga konnte seine Un abhängigkeit bis 1581 bewahren, mußte sich dann aber Polen unterwerfen. In allen drei Gebieten blieb die tonangebende Rolle des deutschen Adels, der von der Wirtschaftskraft seiner estnischen und lettischen Bauern abhing, sowie der deutschen Stadtbewohner, die von Handel und Handwerk lebten, erhalten. Nachdem Livland und Estland bereits 1710, Lettgallen 1772 und Kurland sowie das Stift Pilten dann 1795 in das Russische Reich eingegliedert worden waren, standen die Territorien der heutigen Staaten Lettland und Estland gänzlich unter russischer Herrschaft.

Der Beginn jüdischer Präsenz in Altlivland ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Gemäß einem Erlaß des livländischen Ordensmeisters, der aus dem Jahre 1309 datiert, war den Juden der Aufenthalt auf Ordensterritorium untersagt. Diese Bestimmung ist jedoch offensichtlich nicht immer streng befolgt worden. Man nimmt im allgemeinen an, daß die Anfänge jüdischer Geschichte in Riga bis zur Mitte des 16. Jhs., in Kurland und Estland aber bis zum 14. Jh. zurückreichen. Aber auch diese Datierungen sind in der Literatur bisweilen umstritten.

In der Urkunde, mit der sich der letzte livländische Ordensmeister Gotthard Kettler 1561 Sigismund II. August, König von Polen und Großfürst von Litauen, unterwarf, wurde festgelegt, daß die Juden auf immer von Handel und Zollpacht in Livland ausgeschlossen sein sollten. Diese Bestimmung, die sich sowohl auf das überdünische, an Polen gefallene Livland als auch auf das Herzogtum Kurland und Semgallen bezieht, läßt nicht klar erkennen, ob sie für bereits anwesende Juden galt oder den Zuzug von Juden beschränken sollte. Dies bleibt auch im Privileg König Sigismunds III. von 1593 offen, wenn er auf Ersuchen der Rigaer Bürgerschaft festsetzte, daß Juden „wie bisher“ weder in Riga wohnen noch sich dort aufhalten dürften. De facto kam die Bestimmung aber einem Niederlassungsverbot für Juden gleich.

Daß die Klagen der Rigaer Bürgerschaft, die die wirtschaftliche Konkurrenz der Juden fürchtete, auch nach 1593 nicht verstummten, deutet darauf hin, daß die zahlreichen rechtlichen Bestimmungen, die den Aufenthalt von Juden verboten, nicht viel fruchteten. Dies galt für das Land noch mehr als die für Stadt Riga. In ländlichen Kleinstädten wurden Juden zeitweilig geduldet, wenn es der dortigen Bürgerschaft nützlich war. Solange die Juden keine unliebsame Konkurrenz für die ortsansässigen Kaufleute darstellten und solange sie als Vermittler des Handels mit Polen-Litauen dienen konnten, sah man den Geschäftsverkehr mit ihnen als notwendig an.

Nach der Eroberung Livlands durch Schweden 1621 erneuerte der schwedische König Gustav Adolf das Aufenthaltsverbot für „Juden und Fremde im Lande“. Diese Maßnahme war für das streng protestantische Schweden, das den Juden im eigenen Land noch lange den Aufenthalt verwehrte, selbstverständlich. Dennoch gab es auch unter dem Druck der schwedischen Herrschaft einige wenige Juden in Livland, die im Interesse des Handels mit Polen-Litauen als Vermittler geduldet wurden. Um die Mitte des 17. Jhs. brachten jüdische Kaufleute aus Polen und Litauen vor allem Holz auf der Düna nach Riga. Dort verkauften sie ihre Waren und kauften andere ein, was auch für die Rigaer Kaufleute ein gewinnbringendes Geschäft war. Die Zahl der Juden in Riga blieb aber insgesamt gering: 1645 lebten 20, 1728 60 Juden in Riga. Das Bestreben, den Aufenthalt der Juden zu verkürzen und zu kontrollieren, führte zur Einrichtung von besonderen Judenherbergen, deren Anfänge wahrscheinlich im Jahr 1638 liegen.

1710 eroberte Zar Peter I. Estland und Livland. Die allgemeine Rechtslage der Juden blieb davon unberührt. Da die Grundprinzipien russischer Eingliederungspolitik – Wahrung des Status quo und Kooperation mit der fremden Elite – angewandt wurden, blieben die gewachsenen ständisch-korporativen Institutionen der Ritterschaften und Städte weitgehend unangetastet. In der Kapitulationsurkunde wurden die Juden zwar nicht speziell erwähnt, aber alle früheren Privilegien, wie die von 1593 und 1621 wurden bestätigt, einschließlich der für die Juden relevanten Bestimmungen. Auch während der russischen Herrschaft gab es zahlreiche Klagen und Gesuche der Bürgerschaft am Zarenhof, um den Aufenthalt der Juden in der Stadt zu unterbinden. Einige „Hofjuden“ wie der Goldschmied Isaac Marcus Salomon, die starken Einfluß und Fürsprecher am Zarenhof besaßen, konnten solche Bestimmungen jedoch umgehen. Die Petersburger Regierung kam ihren Bitten um Verbleib in der Stadt auch aus finanzpolitischen Gründen nach, da diese einzelnen Juden eine große Summe an Zöllen ins Land brachten.

In der ersten Hälfte des 18. Jhs. durften Juden, auch bestens empfohlene jüdische Kaufleute, sich in Riga nur in der Vorstadt und in der Judenherberge aufhalten. Die Dauer des Aufenthalts war auf wenige Wochen (meist die Messezeit) begrenzt, wobei dem Bürgermeister im Fall der Aufenthaltsbewilligung ein Geleitgeld zu zahlen war. Unter der Zarin Elisabeth (1741–1762) verschlechterte sich die Situation der Juden in Livland noch einmal. Der Ukaz der Zarin vom 2. Dezember 1742, der die bedingungslose Ausweisung der Juden aus allen Teilen des Russischen Reichs vorsah, wurde auch in Livland und Riga angewandt. Auch eine Interventionen des Rats der Stadt Riga, der entgegen den früheren Klagen nun offenbar bei einer Ausweisung der Juden eine Beeinträchtigung des Handels mit Polen befürchtete, konnte die Vertreibung nicht verhindern.

Die Änderungen der rechtlichen Lage der Juden in Riga im letzten Drittel des 18. Jh. waren eng verknüpft mit der Thronbesteigung Katharinas II. (1762) und ihrer von aufgeklärt-absolutistischen Ideen geprägten Politik. Zwar verfügte Katharina II. keine offizielle Wiederzulassung der Juden im Russischen Reich, doch wurde unter ihrer Herrschaft das immer noch gültige Ansiedlungsverbot Elisabeths I. unterlaufen. Im Rahmen dieser Politik wurde seit 1764 auch die Niederlassung jüdischer Kaufleute in Riga geduldet. Bezeichnenderweise wurde in den entsprechenden Dokumenten das Wort „Jude“ nicht erwähnt. Statt dessen wurde der Begriff „neurussische Kaufleute“ verwendet, hinter dem sich kurländische Juden verbargen, die laut Erlaß vom Sommer 1764 angeblich für die Organisation der Übersiedlung von Ausländern nach „Neurußland“ in die Stadt Riga gesandt worden waren.

In der Folgezeit verfestigte sich die Duldung der Ansiedlung von Juden in Riga zu einem ständigen Aufenthaltsrecht. So bestimmte die durch den livländischen Generalgouverneur genehmigte Verordnung des Rates der Stadt Riga vom Februar 1766, daß sich Juden zur Beförderung des ausländischen Handels, v.a. mit Polen, Litauen und Kurland, sechs Wochen lang in Riga aufhalten dürften. Die privilegierten „neurussischen Kaufleute“ erhielten als „Schutzjuden“ das Wohnrecht in der Stadt. Der Aufenthalt der Juden hing jetzt nicht mehr vom Wohlwollen der städtischen Obrigkeit ab, sondern war mit kaiserlicher Zustimmung gesetzlich geregelt. Laut kaiser lichem Ukaz von 1785 erhielten Kaufleute „ohne Unterschied der Nation und Religion“ die Erlaubnis, sich im 26 Meilen von Riga entfernten Kirchspiel Schlock (Sloka), das 1783 von Kurland an Rußland abgetreten und dem Gouvernement Livland zugeschlagen worden war, niederzulassen. Zahlreiche Juden ließen sich nun in Schlock registrieren, um von dort aus in Riga ihren Geschäften nachgehen zu können.

Im Herzogtum Kurland gab es trotz der seit 1561 geltenden Beschränkungen für die wirtschaftliche Tätigkeit von Juden kein formelles Aufenthaltsverbot. Dennoch siedelten sich erst um die Mitte des 17. Jhs. als Folge des Chmel’nickij-Aufstandes eine größere Zahl von Juden in den ländlichen Bezirken Kurlands an. Die Geschichte der Juden im Kurland des 17. Jhs. bedarf noch intensiver Erforschung. Fest steht jedoch, daß der kurländische Herzog Jakob (1642–1682) sich des Kapitals und der Handelsverbindungen der Juden bediente, um die Wirtschaft in seinem Herzogtum auf der Grundlage des Merkantilismus zu fördern. In dieser Zeit, die auch als das „Goldene Zeitalter“ des Herzogtums Kurland gilt, ist beispielsweise die Tätigkeit von Juden in der Zollaufsicht belegt. Ende des 17. Jh. erhielten Hofjuden wie z.B. der Juwelenhändler Isaak Wulf aus Memel vom kurländischen Herzog das Recht, in Kurland Handel zu treiben. Die wenigen Aufenthaltsbeschränkungen, die für Juden im 17. Jh. in Kurland ausgesprochen wurden, wurden ebenso halbherzig umgesetzt, wie die Landtagsbeschlüsse von 1692, 1698 und 1699, die die Handelstätigkeit der Juden verboten.

Einen Sonderfall stellt die Situation der Juden im Stift Pilten dar. Um möglichst großen Nutzen aus seinen Besitzungen zu ziehen, erlaubte der Bischof reichen Juden die Niederlassung in dem aus dem Bistum Kurland hervorgegangene Stift Pilten (lett. Piltene). Im Jahre 1559 verkaufte der kurländische Bischof die Rechte auf seine Länder dem dänischen Königshaus. Bereits 1570 genossen die Juden in Pilten das Stadtbürgerrecht sowie das Recht auf Immobilienbesitz und Teilhabe an der Selbstverwaltung. Als Pilten zum Königreich Polen-Litauen kam, wo die Juden eine umfassende Gemeindeautonomie genossen, blieben diese Bestimmungen in Kraft. Auch nach der Eingliederung Piltens in das Herzogtum Kurland im Jahr 1685 – im Jahr 1717 wurde es bereits wieder ausgegliedert – blieb die Situation für die Juden hier immer noch vergleichsweise günstig.

Im 18. Jh. verschlechterte sich die rechtliche Lage der Juden in Kurland. 1713 und 1714 befahl Herzog Ferdinand (1711–1737) die Ausweisung der Juden aus Kurland. Die Wiederholungen dieses Befehls zeigen, daß er offensichtlich nicht befolgt wurde. Ob diese Maßnahme, wie in der Literatur manchmal angegeben wird, auf den Einfluß des Russischen Reiches zurückzuführen ist, in dessen Machtbereich Kurland im Zuge des Nordischen Krieges (1700–1721) geriet, ist fraglich. Im weiteren Verlauf des 18. Jh. verboten zahlreiche Landtagsabschiede den Aufenthalt von Juden in Kurland. Schon die Vielzahl dieser Verbote legt nahe, daß diese selten oder gar nicht zur Anwendung kamen. Darüber hinaus gibt es auch eine Reihe von Landtagsabschieden, die den Juden gegen Zahlung einer Steuer den Aufenthalt in Kurland gestatteten.

Häufig war es der Adel, der sich für eine Tolerierung der Juden einsetzte, da ihm die von den Juden gezahlten Steuern direkt zugute kamen und er außerdem von ihrer Mittlerrolle beim Kauf und Verkauf von Waren über die Grenzen Kurlands hinaus profitierte: Belegt ist das Engagement von jüdischen Kaufleuten beim Import von Waren aus Königsberg über Litauen ins kurländische Mitau (lett. Jelgava). Wichtig war auch ihre Rolle in dem Handel, der über den Hafen von Libau (lett. Liepāja) oder über Mitau durch Litauen nach Königsberg und Memel abgewickelt wurde. Die deutschen Stadtbürger sahen in den jüdischen Kaufleuten und Handwerkern dagegen vor allem eine unliebsame Konkurrenz. Ihre Klagen an die polnische Krone richteten sich aber grundsätzlich gegen „fremde Kaufleute“, wobei nicht unbedingt Juden gemeint sein mußten.

In Lettgallen, das sich zwischen 1561 und 1772 unter polnischer Herrschaft befand, siedelten sich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jh. verstärkt Juden an, die vor den Pogromen im Rahmen des Chmel’nickij-Aufstandes geflohen waren. Hier waren die Juden wie in den anderen Gebieten Polen-Litauens vor allem mit Zollpacht, Propination und Kleinhandel sowie der wirtschaftlichen Mittlertätigkeit zwischen Konsument und Produzent beschäftigt.

(Wilfried Jilge)

Unter russischer Herrschaft

Nach der ersten Teilung Polens kam Lettgallen zum Russischen Reich und gehörte zunächst zum Gouvernement Pskov, dann zum Gouvernement Polock und schließlich bis zu seiner Eingliederung in die Republik Lettland 1918 zum Gouvernement Vitebsk. Gemäß dem Dekret Katharinas II. für die ehemals polnischen Gebiete von 1778 wurden den Gemeinden Lettgallens alle religiösen Rechte und Eigentumsrechte eingeräumt, die sie bis 1772 besaßen. Lettgallen gehörte zu dem 1794 gebildeten Ansiedlungsrayon. In kultureller und sozialer Hinsicht war die Situation der Juden in Lettgallen der in den anderen westrussischen Gouvernements des Ansiedlungsrayons sehr ähnlich.

Mit der dritten Teilung Polens im Jahr 1795 wurden das Herzogtum Kurland und das Stift Pilten in das Russische Reich eingegliedert. Für die weitere Geschichte der Juden in dem neu gebildeten Gouvernement Kurland und in dem bereits seit 1710 bestehenden Gouvernement Livland sind die gesetzlichen Regelungen von 1799 und 1835 von Bedeutung, die zum einen der rechtlichen Angleichung an die oben geschilderten judenrechtlichen Bedingungen im Russischen Reich, wie sie Katharina II. geschaffen hatte, dienten und zum anderen Sonderregelungen für die Juden dieser beiden Gouvernements trafen, die der Bedeutung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit für Handel und Industrie in der Ostsee region Rechnung trugen.

Das Gesetz von 1799 verlieh den Juden Kurlands, das ebenso wie Livland nicht zum Ansiedlungsrayon gehörte, das Wohnrecht unter der Bedingung der jährlichen Paßerneuerung, das Recht auf Eintritt in die Kaufmannsgilde sowie das Recht auf Ausübung von Handel und Handwerk, letzteres gegen Zahlung einer Steuer, die das Doppelte der von Christen zu zahlenden Steuer betrug. Weiterhin wurde den Juden die Teilnahme an Wahlen zum städtischen Magistrat, die Gründung von Gemeinden und der Bau von Synagogen gestattet. Im Verlauf des 19. Jhs. erhöhte sich die Zahl der Juden in Livland und Kurland nicht zuletzt wegen des Zustroms von Juden aus dem Ansiedlungsrayon ständig. Eine Verordnung von 1829 bestimmte daher die Ausweisung derjenigen Juden, die gemäß ihren Pässen zu anderen Gouvernements gehörten, während die Juden, die eine legale Beschäftigung vorweisen und den Unterhalt für sich und ihre Familie garantieren konnten, bleiben durften. Die Verordnung von 1835 bestätigte den Juden im Gouvernement Kurland und in Schlok, Gouvernement Livland, die bei der letzten Revision dort registriert waren, das Wohnrecht und gewährte ihnen das Recht, sich wie die übrigen Bewohner in Handel, Handwerk und freien Berufen zu betätigen. Denjenigen Juden, die die Gouvernements Kurland und Livland verlassen hatten, war die Rückkehr untersagt. Wer bei der letzten Revision nicht registriert war, mußte in den Ansiedlungsrayon übersiedeln. Eine Zuwanderung von Juden war nicht gestattet.

Von 1850 bis 1897 wuchs die Anzahl der Juden in Livland von 9000 auf 26.900 (3,5 % der Gesamtbevölkerung) an. In Riga lebten 1869 5254 Juden, 1897 21.962 und 1913 33.615. Im Gouvernement Kurland lebten 1850 22.700 Juden und 1897 bereits 51.000 (7,6 % der Gesamtbevölkerung). Insgesamt lebten 1897 auf den später zu Lettland gehörenden Gebieten einschließlich Lettgallens 139.700 und 1914 bereits etwa 190.000 Juden. Im Zusammenhang mit dem ökonomischen Aufschwung in Rußland in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. verbesserte sich die materielle der Lage der Juden Kurlands und Livlands. Ihr Anteil am Export- und Importhandel sowie in der Industrie erhöhte sich. Juden waren am Anfang des 20. Jhs. stark an der Entwicklung des Holzexports nach England beteiligt, der zu einer führenden Branche im Außenhandel Kurlands und Livlands wurde.

Riga und Kurland wurden früh zu Zentren der Haskala. Die Diskussion um Emanzipation, rechtliche Gleichstellung sowie kulturelle und soziale Integration wurde in Kurland viel eher geführt als in anderen Gouvernements des Russischen Reichs. In Riga wurde 1839/40 mit Erlaubnis der russischen Regierung und gegen den Willen des Stadtrats eine Gemeindeschule eröffnet, nach Tarnopol, Uman und Odessa die viertgrößte im Russischen Reich. Diese Schule wurde nicht zuletzt aufgrund der Tätigkeit ihres ersten Direktors, des Rabbiners Dr. Max (Menachem) Lilienthal (1815–1882) aus München, der zugleich Mitglied der Kommission des Grafen Kiselev zur Reform des jüdischen Lebens in der Hauptstadt St. Petersburg war, zum Vorbild für die Reform der staatlichen jüdischen Schulen im Ansiedlungsrayon.

Die Einflüsse der deutsch-jüdischen Aufklärung sowie die fehlende Verbindung zu den kulturellen und religiösen Zentren der russischen Judenheit ließen einen spezifischen Typus des kurländischen Juden entstehen. Die Muttersprache der kurländischen Juden war bis in die zweite Hälfte des 19. Jhs. vorrangig Deutsch, das erst dann im Zuge der kulturellen Russifizierung vom Russischen überlagert wurde. Daneben sprach man das kurländische Jiddisch, das einen reichen Schatz deutscher Wörter enthielt. Trotz der deutschen Akkulturation waren die Juden Kurlands daher nicht assimiliert, sondern bildeten eine bemerkenswerte Synthese der Kultur der deutsch-westeuropäischen und litauisch-osteuropäischen Judenheit.

Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Riga kamen vorwiegend aus den lettgallischen und weißrussischen Gebieten, aber auch aus Kurland. Die kurländischen Juden nahmen dabei die führenden Positionen innerhalb der jüdischen Gemeinde ein und stiegen auch innerhalb der Rigaer Bürgerschaft auf. Riga war lange Zeit eine der modernsten jüdischen Gemeinden im Zarenreich, zu deren wichtigsten Merkmalen die Akkulturation in russischer und deutscher Form gehörte.

Laut Angaben der Kratkaja Evrejskaja Ėnciklopedija lebten in Lettgallen, das seit 1802 zum ehemaligen russischen Gourvernement Vitebsk und damit zum Ansiedlungsrayon gehörte, 1847 etwa 11.000 Juden, 1897 64.200 und kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges etwa 80.000. Ihre ökonomische Lage war deutlich schlechter als die der Juden in Kurland und Livland. Im Jahr 1898 sollen 18,5 % der jüdischen Familien von der Armenfürsorge abhängig gewesen sein. Die Mehrheit der lettgallischen Juden war jiddischsprachig und orthodox, der Chassidismus war sehr stark verbreitet. Die jüdische nationale Politik blühte. Auch hinsichtlich der jüdisch-christlichen Beziehungen unterschied sich das katholische Lettgallen von den evangelisch geprägten Regionen Kurlands und Livlands. Bei anhaltendem Analphabetentum weiter Bevölkerungsteile war die Einstellung zu den Juden in gewissem Maße von antijüdischen kirchlichen Vorurteilen beeinflußt. So fand der einzige Ritualmordprozeß auf dem Gebiet der späteren Republik Lettland (Ludsen/lett. Ludza 1886) in Lettgallen statt. Doch entwickelten sich unter den Bedingungen des Schtetls zwischen Christen und Juden nicht nur Gegensätze, sondern auch Formen eines engeren Zusammenlebens. Die Kontakte der jüdischen Intelligencija mit den Gebildeten ihrer Umwelt waren auf der Basis der gemeinsamen russischen Sprache sehr rege.

In den Gebieten des südlichen Livland und Kurland, die zusammen mit Lettgallen später die Republik Lettland bildeten, gab es keine ausgeprägten christlich-religiös oder national begründeten Traditionen der Judenfeindschaft. So war auch die lettische Nationalbewegung des 19. Jhs. deutlich weniger antisemitisch geprägt als vergleichbare Bewegungen in anderen Ländern. Antijüdische Stimmen fanden sich vor 1918 vor allem in der konservativen russischen Presse. Gleichwohl waren erste Anzeichen eines sich allmählich herausbildenden, vor allem ökonomisch motivierten Antisemitismus Ende des 19. Jh. in den Großstädten festzustellen, wo die vom Land zuwandernden aufstrebenden Letten die jüdischen Kaufleute und Intellektuellen als Konkurrenten betrachteten. 1905/06 blieben die Pogrome in den baltischen Gouvernements weitgehend aus. Die Ausschreitungen in Riga im Oktober 1905 wurden von den prozarischen Schwarzhundertschaften initiiert. Nicht zuletzt lettische Arbeiterpatrouillen, die gemeinsam mit jüdischen Arbeitern für die Revolution kämpften, verhinderten, daß er größere Ausmaße annahm.

Im Ersten Weltkrieg streuten offizielle russische Stellen erfundene Berichte, die den Juden Kollaboration mit den Deutschen unterstellten, um von dem Versagen der militärischen Führung und den russischen Niederlagen abzulenken. 1915 wurden die Juden Kurlands auf Befehl des Oberkommandos der zurückweichenden russischen Armee ins Innere Rußlands verschickt. Von den etwa 185.000 Juden auf den Gebieten der späteren Republik Lettland wurden während des Ersten Weltkriegs 40.000 deportiert. Wie andere nichtjüdische Bevölkerungsteile flüchteten außerdem 80.000–90.000 Juden nach Innerrußland. Da viele nach dem Krieg nicht mehr nach Lettland zurückkehrten, war die Zahl der Juden in der späteren Republik Lettland im Vergleich zur Vorkriegszeit erheblich niedriger.

Zur Entstehung von jüdischen Gemeinden in Estland kam es erst im 19. Jh. Bereits 1828 wurden jüdische Rekruten nach Reval (estn. Tallinn) gebracht, um in den speziell für die Kantonisten vorgesehenen militärischen Erziehungsanstalten ausgebildet zu werden. Diese Rekruten sowie andere dort stationierte jüdische Soldaten gründeten die dortige jüdische Gemeinde. 1856 gab es in Reval bereits einen jüdischen Friedhof und eine Synagoge. Aufgrund der im Rahmen der „stufenweisen“ Emanzipation von Zar Alexander II. seit 1856 erlassenen Verordnungen, die außer jüdischen Kaufleuten der ersten Gilde, Inhabern akademischer Grade und Zunfthandwerkern auch den demobilisierten Nikolaj-Soldaten erlaubten, den Ansiedlungsrayon zu verlassen und sich in den Städten niederzulassen, kamen Angehörige der letzteren Gruppe nach Reval und schlossen sich der dortigen jüdischen Gemeinde an. 1897 lebten in Estland rund 4000 Juden, davon allein 1200 in Reval.

(Wilfried Jilge)

Die Juden in Lettland und Estland seit 1918

Am 18. November 1918 rief der lettische Volksrat die unabhängige und demokratische Republik Lettland aus. Doch erst mit dem lettisch-sowjetischen Frieden von Riga am 1. August 1920 wurde der Unabhängigkeitskampf, an dem auch bis zu 1200 Juden teilgenommen hatten, beendet und die Eigenstaatlichkeit auch völkerrechtlich endgültig gesichert. Die lettische Republik umfaßte nun die südlichen livländischen und kurländischen Territorien sowie die Region Lettgallen. In der Republik Lettland lebten 1925 95.474 Juden (1935: 93.479), was einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 5,33 % (1935: 4,79 %) entspricht. 43,67 % der lettischen Juden lebte 1935 in der Hauptstadt Riga. Knapp ein Drittel der Juden Lettlands wohnte in Lettgallen, fast der gesamte Rest in Kurland (12,8 %) und Semgallen (7,88 %). In Livland lebten nur 2458 (2,63 %) Juden. Etwa 60 % der Juden Lettlands lebten in den Städten Riga, Daugavpils (dt. Dünaburg) und Liepāja.

Die Mehrheit der Juden Lettlands war mehrsprachig – 1925 beherrschten etwa 65 % drei und mehr Sprachen. Hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. das Russische das Deutsche zum Teil verdrängt, so nahm nun der Einfluß des Deutschen angesichts engerer Beziehungen zu Westeuropa vor allem im jüdischen Mittelstand sowie in der Intelligencija im Westen des Landes und in Riga wieder zu. In den zwanziger und dreißiger Jahren lernten jüdische Schüler auch Lettisch. Daneben wurde weiterhin biblisches Hebräisch gelehrt, was eine gute Voraussetzung für die Erlernung des modernen Iwrit schuf, das zusammen mit den Ideen des politischen Zionismus zunehmende Verbreitung fand. Die wichtigste Sprache der lettischen Judenheit blieb jedoch weiterhin das Jiddische, das 1897 86,5 % und 1925 immer noch 85 % als ihre Muttersprache angaben. Das jüdische Theater in Riga war jiddischsprachig, und es existierten zahlreiche jiddische Bücher und Zeitschriften sowie große jiddische Tageszeitungen (z.B. Dos Folk und Frimorgen).

Die Unabhängigkeit Lettlands beförderte die Solidarität und die Bildung eines säkularnationalen Bewußtseins unter den lettischen Juden in den verschiedenen Landesteilen. Denn einerseits verloren die deutsche und russische Kultur mit der lettischen Eigenstaatlichkeit etwas an Bedeutung, andererseits hatte der lettische Staat ein Interesse daran, die jüdische Bevölkerung mit einer jüdischen Nationalität zu identifizieren, anstatt sie der russischen oder deutschen Nationalität zuzuordnen. Obwohl es unter den Juden Lettlands einen bemerkenswerten Grad von Akkulturation an die russische bzw. deutsche Kultur gab, führte dies keineswegs zur Assimilation und Übernahme einer nichtjüdischen Nationalität.

In Lettland existierten günstige politisch-rechtliche Rahmenbedingungen für die jüdische Minderheit, die auf der Verfassung von 1922 und dem Schulgesetz der Minderheiten Lettlands von 1919 beruhten. Die Verfassung gewährte den Juden wie den Mitgliedern anderer Nationalitäten die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung, die ihnen ein hohes Maß an Partizipation am politischen Leben Lettlands ermöglichte. So saßen bereits in der konstituierenden Versammlung sechs jüdische Abgeordnete. In den nachfolgenden Parlamenten (lett. Saeima) zwischen 1922 und 1934 besaßen jüdische Abgeordnete immer zwischen drei und sechs Mandaten. Die wichtigsten, mindestens in einer Parlamentsperiode vertretenen Parteien waren die streng-religiöse Partei „Agudat Israel“ (Vereinigung Israels), die jüdische nationaldemokratische Partei, die Allgemeinen Zionisten, die religiös-zionistische „Misrachi“-Partei (Geistiges Zentrum), die zionistisch-sozialistische Partei „Zeirei Zion“ (Eiferer Zions) sowie der sozialdemokratische „Bund“, der mit der lettischen Sozialdemokratie zusammenarbeitete.

Die zionistische Bewegung genoß in weiten Teilen der jüdischen Bevölkerung starke Sympathien, auch wenn sich das nicht immer in der parlamentarischen Repräsentation entsprechend niederschlug. Wichtige Bedeutung kam der Revisionistischen Partei zu, die zionistisch eingestellt war und ein radikal-nationalistisches Programm vertrat. Sie war nicht im Parlament vertreten und bezog ihre Stärke unter anderem aus den mit ihr assoziierten Jugendorganisationen wie z.B. der Organisation „Beitar“ („Brit Trumpeldor“). Zwischen 1925 und 1935 emigrierten etwa 6500 Juden aus Lettland, von denen etwa 4500 ins Mandatsgebiet Palästina auswanderten.

Gemäß dem Schulgesetz von 1919 durften die Minderheiten ihr Schulwesen selbst verwalten und besaßen ein durchaus beachtliches Maß an kultureller Autonomie. Fünf Minderheiten – Russen, Deutsche, Juden, Polen und Weißrussen – haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und eigene Schulverwaltungen beim Kultusministerium gegründet. Ihre Leiter hatten Beamtenstatus und wurden von den betreffenden Parlamentsfraktionen der Minderheiten ernannt. Die jüdische Abteilung beim Bildungsministerium verwaltete ein breites Netz von Schulen, in denen Iwrit und Jiddisch gelehrt wurden. 1928/29 lernten etwa 10.300 jüdische Kinder bei 599 Lehrern in 85 Grundschulen.

Die jüdische Minderheit in Lettland entfaltete in den zwanziger und dreißiger Jahren ein vielseitiges kulturelles und geistiges Leben, aus dem berühmte Persönlichkeiten in Wissenschaft und Kunst hervorgingen. Stellvertretend genannt seien nur Joseph Rosen (1858–1936), Rabbiner in Daugavpils und eine bedeutende Autorität des Chassidismus, Jeschajahu Leibowitz (1903–1994), ein bekannter jüdischer religiöser Denker, der in Riga geborene Philosoph Isaiah Berlin (1909–1997) und der Historiker Simon Dubnow (1860–1941), der 1933 von Berlin nach Lettland emigrierte und 1941 im Rigaer Ghetto ermordet wurde.

Die Juden Lettlands waren in allen Bereich der Wirtschaft tätig, vorwiegend in Handel (48,81 %) und Industrie (27,66 %). 5,89 % arbeiteten in freien, vor allem akademischen Berufen. 2,85 % waren im Transportwesen und 0,93 % in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Zugang zum Staatsdienst gestaltete sich dagegen für Juden schwierig. Während die Juden Lettlands einerseits eine verhältnismäßig breite Schicht des begüterten gehobenen Mittelstands bildeten, dürften andererseits mindestens etwa 10 % der jüdischen Bevölkerung zu den Armen des Landes gehört haben.

Die Juden spielten eine wichtige Rolle im Wirtschaftsleben Lettlands in der Zwischenkriegszeit. Der junge lettische Staat verfügte nach seiner Gründung über kein Kapital und nicht genügend einheimische Führungskräfte zur raschen Behebung der Kriegsschäden. Beim Wiederaufbau der Industrie, des Handel-, Banken- und Kreditwesens und anderer Sektoren spielten Juden in der Anfangsphase der Republik eine entscheidende Rolle. Dank ihrer guten internationalen wirtschaftlichen Verbindungen haben gerade jüdische Bankiers zur Stimulierung der lettischen Wirtschaft beigetragen.

Die jüdisch-lettischen Beziehungen waren besonders in der Anfangsphase der Republik und dann während der Weltwirtschaftskrise nicht frei von Spannungen. Bereits zwischen 1919 und 1921 kam es zu Ausschreitungen gegen Juden, ebenso in den zwanziger Jahren an der neugegründeten Universität Lettlands in Riga. Nach Erlangung der Unabhängigkeit begann sich der Antisemitismus in Lettland politisch und organisatorisch zu konsolidieren. Organisationen wie der 1922 gegründete „Latvju Nacionālais Klubs“ (Lettischer Nationaler Klub) sowie einige nationalistische und rechtskonservative Presseorgane wie die im Sinne des Nationalen Klubs agierende Zeitung Latvijas Sargs (Die Wacht Lettlands) oder die Zeitung des „Christlich-Nationalen Vereins“ Tautas Balss (Die Volksstimme) verbreiteten antisemitische Parolen.

Zum wichtigsten Sammelbecken antisemitscher Kräfte wurde jedoch die 1930 von Jānis Greble gegründete und seit 1932 von Gustav Celminš geführte rechtsextreme Organisation „Feuerkreuz“ (lett. Ugunskrusts), die nach ihrem Verbot in „Donnerkreuz“ (lett. Pērkonkrusts) umbenannt wurde. Unter der Parole „Lettland den Letten, Brot und Arbeit den Letten!“ vertraten die Donnerkreuzler einen radikalen lettischen Nationalismus mit scharf antijüdischer und antideutscher Stoßrichtung. Neben der Beseitigung der Demokratie forderten sie, den Juden (und anderen Minderheiten) die staatsbürgerlichen Rechte abzuerkennen, diskriminierende Gesetze einzuführen und ihre Verbannung aus Lettland vorzubereiten. Die Donnerkreuzler zählten rund 6000 Mitglieder und waren vor allem in den Städten konzentriert, wo sie Zulauf von lettischen Studenten erhielten.

Dennoch sind die beschriebenen antisemitischen Gruppen und Presseorgane nicht repräsentativ für die politische Szene Lettlands. Die lettische Sozialdemokratie trat aktiv gegen den Antisemitismus auf. Für die überwiegende Mehrheit der lettischen Parlamentsfraktionen war Judenfeindschaft kein bestimmendes Element ihres Programms. Die „jüdische Frage“ stand nicht im Mittelpunkt der parlamentarischen Auseinandersetzungen. Allerdings ist der lettische Antisemitismus der Zwischenkriegszeit ein noch keineswegs hinreichend erforschtes Thema.

Nach dem Staatsstreich am 16. Mai 1934 von Kārlis Ulmanis wurde die Verfassung von 1922 sistiert, die parlamentarische Demokratie beseitigt und ein autoritäres Regime installiert. Die Rechte der Minderheiten wurden beschnitten, die Schulautonomie eingeschränkt, das Parlament aufgelöst, die Parteien verboten und die Presse einer Zensur unterworfen. Hierdurch wurde auch die jüdische Autonomie beeinträchtigt. Alle jüdischen politischen Organisationen und Parteien außer dem konservativ-religiösen „Agudat Israel“ und der zionistisch-revisionistischen Organisation „Beitar“ („Brit Trumpeldor“) wurden verboten. Die jüdischen Schulen wurden der Aufsicht der „Agudat Israel“ unterstellt, woraufhin alle jiddisch-säkularen Schulen geschlossen und die hebräisch-säkularen Schulen ihres Inhalts entleert wurden. An der Universität Riga existierten nun inoffizielle Quoten für jüdische Studenten.

Das Ulmanis-Regime führte außerdem Maßnahmen zur „Lettisierung“ der Wirtschaft durch, die für viele jüdische Unternehmer nachteilige Konsequenzen hatten. Diese Wirtschaftspolitik war aber weniger antisemitisch als antikapitalistisch: Sie richtete sich nicht nur gegen jüdische, sondern auch gegen deutsche und lettische Unternehmer. Insgesamt war das Ulmanis-Regime zwar minderheitenfeindlich, aber nicht von einem spezifischen regierungsamtlichen Antisemitismus geprägt. Ob und inwieweit Kārlis Ulmanis selbst ein Antisemit war, ist umstritten. Sicher ist jedoch, daß antisemitische Schriften und Literatur nach 1934 verboten und die bereits im März 1934 verbotenen „Donnerkreuzler“ unter Ulmanis besonders scharf verfolgt wurden. Auch wenn die Frage des lettischen Antisemitismus zur Zeit des Ulmanis-Regimes noch näher untersucht werden muß, läßt sich doch sagen, daß die Lage der Juden in Lettland in den dreißiger Jahren besser war als z.B. in Polen oder Rumänien. Die Grenzen des lettischen Staates blieben zwischen 1933 und 1939 länger als die anderer Länder – einschließlich Schwedens – für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich geöffnet, genaue Zahlenangaben sind jedoch schwer zu ermitteln.

Im Sommer 1940 endete die Unabhängigkeit des lettischen Staates. Im Geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939 waren Lettland und Estland der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen worden. Obwohl die sowjetische Besetzung ein völkerrechtswidriger Gewaltakt war, stieß sie bei etwa 10 % der Bevölkerung auf Unterstützung oder Sympathie. Dies galt auch für viele Juden Lettlands, die von den Greueltaten der deutschen Einsatzgruppen wußten und sich von der sowjetischen Besatzung Sicherheit vor dem nationalsozialistischen Deutschland erhofften. Juden waren zweifelsohne stark in der kommunistischen Untergrundbewegung vor 1940 vertreten und besetzten auch Vakanzen im Staatsdienst während der sowjetischen Herrschaft, in entscheidenden Positionen in Partei und Tscheka waren sie jedoch eher unterproportional vertreten. Die Hoffnungen der Juden wurden jedoch ebenso enttäuscht wie die der lettischen Arbeiter und Kommunisten. Sofort nach der Besetzung begann die Sowjetisierung auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft. Nationale und lokale Organisationen wurden aufgelöst. Die Reste jüdischer Autonomie wurden beseitigt, kulturelle und religiöse Freiheiten beschnitten. Jüdische Fabriken und Unternehmen wurden ebenso wie die anderer Nationalitäten verstaatlicht.

Durch die Deportation „antisowjetischer“ Kreise sollte der latente Widerstand gegen das sowjetische Regime in der lettischen Bevölkerung gebrochen werden. Zu diesem Ziel wurden am 13. und 14. Juni 1941 etwa 15.000 lettische Staatsbürger ins Innere der Sowjetunion deportiert. Nachdem die Wehrmacht einige Tage später Lettland besetzt hatte, wurde diese Deportation von der nationalsozialistischen und lettischen Propaganda als „Judenwerk“ dargestellt. Bis heute wirkt dieser Vorwurf nach. Manche Letten sahen und sehen in den lettischen Juden nicht Opfer, sondern Verbündete der Kommunisten und damit Unterdrücker des lettischen Volkes. Zusammen mit der Behauptung vom angeblich guten Verhältnis der Juden zu den Sowjets dürfte dieser Vorwurf während der nationalsozialistischen Herrschaft 1941–1944 als Motiv für die Kollaboration lettischer Einheiten an der Ermordung der Juden eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Forschung hat aber eindeutig bewiesen, daß auch lettische Juden unter den von der Sowjetmacht Deportierten waren, und zwar in einer im Verhältnis zum jüdischen Bevölkerungsanteil hohen Anzahl. Die Schätzungen schwanken zwischen 1800 und 5000.

Die eigentliche Leidenszeit der Juden Lettlands begann mit der deutschen Besetzung im Juni/Juli 1941. Zur Zeit des deutschen Einmarsches lebten etwa 75.000 Juden in Lettland. Ungefähr 4000 Juden hatten Lettland bereits vor der sowjetischen Okkupation verlassen, und zahlreiche Juden waren von den Sowjets im Juni 1941 deportiert worden. Als die Wehrmacht vorrückte, gelang etwa 15.000 Juden die Flucht ins Innere der Sowjetunion. Dem planmäßigen Massenmord der im Gefolge der Wehrmacht eintreffenden Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst (SD) fielen Zehntausende von lettischen Juden zum Opfer. Im Verlauf des Juli 1941 wurden in dem nahe Riga gelegenen Wald von Biķernieki mehrere tausend Juden erschossen. Am 30. November, dem „Rigaer Blutsonntag“, sowie am 8. Dezember wurden im Wald von Rumbula (unweit von Riga) etwa 25.000 bis 28.000 Juden von den Deutschen umgebracht, darunter der Historiker Simon Dubnow. Tausende von Juden aus dem deutschen Reichsgebiet wurden nach Lettland deportiert und dort ermordet. Insgesamt dürften nur etwa zwischen 1000 und 1300 der nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Lettland verbliebenen Juden die Schoa überlebt haben. Einige Hundert von ihnen wurden durch die nichtjüdische einheimische Bevölkerung unter drohender Lebensgefahr gerettet.

Nachdem die Schoa in sowjetischer Zeit tabuisiert war, wird dieses Thema sowie die Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an der Ermordung der Juden erst in jüngster Zeit äußerst kontrovers und emotionsgeladen diskutiert. Unumstritten ist jedoch inzwischen, daß lettische Formationen, wie z.B. die lettische Polizei (Provinz- und Hilfspolizei), an den Ermordungen beteiligt waren, auch wenn das genaue Ausmaß, die Qualität und die Gründe dieser Kollaboration noch intensiver Erforschung bedürfen.

Besonders berüchtigt war das nach dem Polizeioffizier Viktors Arājs benannte „Arājs-Kommando“, das sich überwiegend aus Letten zusammensetzte. Es war an zahlreichen Hinrich tungen in Riga und in den Provinzgebieten beteiligt. Zudem spielte es auch eine wichtige Rolle bei den Erschießungen in den Bik, ernieki-Wäldern, in Weißrußland und der Ukraine. Insgesamt wurden in Lettland rund 26.000–30.000 Juden von dem „Arājs-Kommando“ ermordet. Die Beteiligung der „Perkonkrusts“ an der Ermordung von Juden ist schwer ermittelbar, ihre Verantwortung scheint vor allem in der Verbreitung antisemitischer Propaganda unter den Letten in der Spätphase des Parlamentarismus und den ersten Monaten der deutschen Okkupation zu liegen. Mitte August 1941 wurden sie von den Deutschen verboten. Handeln und Struktur der erst 1943 gegründeten „Lettischen SS-Freiwilligenlegion“ müssen noch intensiver untersucht werden. Laut Andrew Ezergailis war sie nach bisherigen Erkennt nissen nicht an Ermordungen beteiligt.

Nach dem Krieg ermunterten die sowjetischen Behörden Bürger aus der Sowjetunion, darunter viele Juden, sich in Riga anzusiedeln. 1959 lebten bereits 36.592 Juden in Lettland, davon über 30.000 in Riga. Rund 13.000 von ihnen waren Flüchtlinge, Überlebende der Konzentrationslager oder Überlebende der Deportationen nach Sibirien, doch die überwiegende Mehrheit waren „neue“ Einwanderer aus dem Innern der Sowjetunion.

Ähnlich wie die Juden in anderen Teilen der Sowjetunion waren auch die Juden der lettischen Sowjetrepublik von den Ressentiments und Repressionen im Zusammenhang mit der „Antikosmopolitismus-Kampagne“ 1949–53 und den späteren antizionistischen und antisemitischen Kampagnen der Brežnev-Ära betroffen. Ein jüdisches nationales und religiöses Kulturleben wurde vom Sowjetregime auch in Lettland nicht gestattet. Jüdische nationale Aktivitäten konnten aber nicht ganz unterdrückt werden. Sie äußerten sich in der unmittelbar nach dem Krieg besonders in Lettland aktiven Untergrundorganisation „Bricha“ (Flucht), die die illegale Auswanderung der Juden aus Osteuropa nach Palästina organisierte, jedoch vom sowjetischen Innenministerium aufgedeckt wurde.

Die Erinnerung an die Opfer der Schoa wurde in Lettland – auch dies in Übereinstimmung mit den Entwicklungen in anderen Teilen der Sowjetunion – zum Kristallisationspunkt eines neuen jüdischen Nationalbewußtseins. In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren wurde Riga eines der Zentren des wiedererwachten national-jüdischen Bewußtseins in der UdSSR und des Kampfes um Ausreisegenehmigungen für Israel. 1970 lebten in Lettland 36.680 Juden, die überwiegende Mehrheit in Riga (30.581 Personen). 1996 waren es noch 14.551. In den folgenden Jahren nahm ihre Zahl durch Auswanderung noch weiter ab.

In Estland lebten 1922 4566 Juden, was 0,4 % der Gesamtbevölkerung entsprach (1934: 4381; 0,4 %), davon fast die Hälfte in der Hauptstadt Tallinn und in Tartu (dt. Dorpat). 30,4 % der Juden waren im Handel, 14,8 % im Handwerk, 9,4 % in den freien Berufen, 5 % als Unternehmer und 14 % als Arbeiter beschäftigt. 8,9 % aller Ärzte in Estland waren Juden. Neben den Russen, Deutschen und Schweden waren die Juden eine von vier Minderheiten, denen das estnische Parlament 1925 eine umfassende nationalkulturelle Autonomie gewährte, die sich am austromarxistischen Personalitätsprinzip orientierte. 1926 wurden autonome jüdische Institutionen etabliert, die von einem gewählten Kulturrat geleitet wurden. Im Kulturrat waren die Zionisten stets die stärkste Kraft. Neben zionistischen existierten auch sozialistische politische Gruppen. Es gab keinen jüdischen Vertreter im estnischen Parlament.

Einer der Hauptstreitpunkte innerhalb der jüdischen Gemeinschaft war die Frage, ob das Jiddische oder das Hebräische als Unterrichtssprache in den jüdischen Schulen bevorzugt werden sollte. Der Streit wurde schließlich zugunsten des Hebräischen entschieden, obwohl Jiddisch die Muttersprache der überwiegenden Mehrheit der Juden Estlands war. Etwa 75 % der jüdischen Kinder besuchte jüdische Schulen. An der Universität Tartu wurde ein Lehrstuhl für Hebräische Sprache und Literatur etabliert.

Als Mitte der dreißiger Jahre die Organisation der nationalistischen, antiparlamentarischen und antisemitischen „Eesti Vabadussõjalaste Keskliit“ (Zentralverband der estnischen Freiheitskämpfer), die 1926 als Veteranenverband gegründet wurde, unter den Bedingungen des fortschreitenden wirtschaftlichen Niedergangs an Einfluß gewann, verstärkten sich Forderungen nach einer Zurück drängung des jüdischen Einflusses in der Wirtschaft Estlands und einer Reduzierung der Zahl jüdischer Studenten. In der Phase des autoritären Regimes unter Konstantin Päts blieb die Autonomie der Minderheiten jedoch fast völlig unangetastet. Bei Kriegsausbruch 1939 lebten etwa 5000 Juden in Estland. Zur Zeit der sowjetischen Besetzung wurden jüdische wie estnische Fabriken und Unternehmen verstaatlicht und die kulturellen und religiösen Freiheiten der jüdischen Minderheit beschnitten. Rund 11.000 Bürger Estlands wurden deportiert, darunter 500 Juden. Die meisten verbliebenen Juden, etwa 4000, konnten noch vor der Eroberung Estlands durch die Deutschen in die Sowjetunion fliehen. 250 Juden wurden zum Estnischen Korps der Roten Armee eingezogen.

Etwa 1000 Juden blieben in Estland zurück, fast alle fielen den Mordaktionen während der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft zum Opfer. Auch in Estland haben sich Einheimische an der Ermordung der Juden beteiligt. Genannt seien hier nur die Omakaitse-Einheiten, aus Esten bestehende, von der deutschen Besatzungsmacht zusammengestellte „Heimatselbstschutzeinheiten“, die die SS-Sonderkommandos unterstützten. Das Thema der Kollaboration ist heute in Estland umstritten. Ähnlich wie in Lettland wurde seitens des Staatspräsidenten eine Kommission eingesetzt, die u.a. die Zeit der deutschen Besatzung aufarbeiten soll.

Zwischen 1944 und 1950 kehrten etwa 1500 Juden, die 1941 aus der Sowjetrepublik Estland geflüchtet waren, wieder nach Estland zurück. Auch den Überlebenden der sibirischen Verbannung wurde schließlich die Rückkehr nach Estland gestattet. Zusammen mit „neuen“ jüdischen Einwanderern aus anderen Gebieten der Sowjetunion lebten 1959 wieder 5436 Juden in Estland. Von diesen nannten 25 % das Jiddische als Muttersprache. Heute dominiert das Russische. Von 1989 bis 1997 sind rund 1000 Juden nach Israel ausgewandert, die Zahl der jüdischen Bevölkerung betrug 1997 etwa 2500.

(Wilfried Jilge)

1 Zu den Teilungen Polens und ihre Auswirkungen auf die Situation der Juden in den betroffenen Gebieten vgl. auch den Artikel zu Polen in diesem Band S. 241f.

Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa

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