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Das Zarenreich von den Teilungen Polens bis zur Oktoberrevolution
ОглавлениеAufklärerisch-absolutistische Integrationskonzepte (1772–1855)
Durch die erste Teilung Polens im Jahr 1772, bei der sich Rußland die Wojewodschaften Polock, Vitebsk, Mstislav und Polnisch-Livland sicherte,1 wurden mehr als 100.000 Juden Untertanen der russischen Zarin Katharina II. (1762–1796). Nun hatte auch Rußland, was man später eine „jüdische Frage“ (evrejskij vopros) nannte: die tatsächlichen und eingebildeten Probleme um die Emanzipation der Juden und das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden. Zu diesen Problemen hatte sich bereits seit dem frühen 18. Jh. ein neuer Aspekt gesellt. Von der „kommerziellen Marginalisierung Osteuropas“ (Hildermeier) waren vor allem die Städte betroffen, so daß ein großer Teil der jüdischen Stadtbevölkerung bereits verarmt war und wirtschaftliche Alternativen sich nicht abzeichneten.
Der Judenpolitik Katharinas II. lag das Prinzip der Gleichbehandlung zugrunde, das sich, wie es in der von aufklärerischen Grundsätzen getragenen Judenpolitik anderer Staaten auch der Fall war, mit der Forderung und dem Bemühen verband, die traditionellen jüdischen Lebensformen aufzubrechen und die jüdische „Andersheit“ einzuebnen. Hinzu kam, daß sich in Rußland der Gedanke der Aufklärung mit einem tradierten Absolutismus verband, was zur Folge hatte, daß der Staat viel stärker als z.B. in Polen mit Reglementierungen in das wirtschaftliche und soziale Leben der Juden eingriff und die Gemeindeautonomie, die ihnen zugestanden wurde, zu einem Instrument seiner Verwaltung machte. Es war nun kein Recht mehr, sondern eine für alle Juden geltende Pflicht, sich in Kehillot zu organisieren, über die Kahal-Verwaltungen die Steuern zu entrichten und vor diesen Rechtsstreitigkeiten zu klären.
Andere Maßnahmen zielten auf eine vorsichtige Integration der wohlhabenderen Juden: Seit 1778 durften sie in den Teilungsgebieten in die Ständegesellschaft überwechseln. Besaßen sie mehr als 500 Rubel, stand ihnen die Klasse der Kaufleute offen, waren sie nicht ganz so reich, das Stadtbürgertum. Anfangs war ihnen noch das Wahlrecht für Magistrat und Stadtgericht vorenthalten, das sie jedoch 1783 erhielten. Die sogenannte Gnadenurkunde von 1785, die Rechte und Pflichten aller Bewohner der Städte festlegte, schloß die Juden nicht aus, weshalb diese ihre Rechte im Bedarfsfall einklagen konnten, auch wenn die christlichen Kaufleute hier gegen heftig protestierten.
Die der aufklärerischen Vernunft geschuldeten Maßnahmen waren für die Juden jedoch nicht nur günstig. Vor allem in Rußland war das Projekt der Aufklärung mit einem „social engineering“ großen Stils verbunden – man denke nur an die Reformen Peters des Großen. Der Ehrgeiz Katharinas II. richtete sich auf den Süden und Westen. Ganze Landstriche wie das Wolgagebiet und die Schwarzmeerküste sollten besiedelt werden und reiche Ernteerträge einfahren, neu gegründete Städte sollten Handel, Verkehr und nicht zuletzt die Kultur beleben. An dem von den Städten erwarteten Innovationsschub für Wirtschaft und Gesellschaft sollten nach Katharinas Vorstellung auch die Juden mitwirken. So erging 1782 ein Ukaz, der die jüdische Bevölkerung verpflichtete, in die Städte umzuziehen. Auf dem Land erfüllten sie in den Augen der Monarchin keine produktive Funktion, es sei denn, sie bearbeiteten den Boden. Das Betreiben von Schenken wurde ihnen verboten. Statt dessen erhielt der Landeigner, der in der Regel ein Großgrundbesitzer war, das Alkoholmonopol für seinen Bereich.
Einige Juden suchten als Bauern im Süden ihr Glück, aber die Zahlen waren vergleichsweise gering. Auch die Abwanderung in die Städte erfaßte längst nicht die gesamte jüdische Bevölkerung. In einem so großen und schwach organisierten Reich wie dem russischen wurden bei weitem nicht alle Weisungen aus der Hauptstadt umgesetzt. Der Umgang mit Ge- und Verboten war und ist – abgesehen von den Jahrzehnten des Totalitarismus im 20. Jh. – immer pragmatisch. „Rußland ist groß, und der Zar ist weit weg“, heißt es in einem Sprichwort.
In den Städten erhielten die Juden 1786 zwar wieder das Schankrecht, aber diese Erlaubnis nützte denjenigen nichts, die bis dahin in andern Funktionen, z.B. als Verwalter, Müller o.ä., auf dem Land tätig gewesen waren. So entstanden die Ansätze zu einer jüdischen Dreiklassengesellschaft: die reichen Kaufleute, die nicht ganz so reichen Bürger und die vielen anderen, denen auf dem flachen Land faktisch keine und in den Städten nur wenige Berufe offenstanden. Die Verpflichtung, in Städten zu leben, wirkte sich auch deshalb besonders nachteilig aus, weil Juden sich nicht in allen Städten zu annehmbaren Bedingungen niederlassen konnten. So konnte sich außerhalb der Teilungsgebiete kein Jude in die Kaufmannslisten irgendeiner Stadt einschreiben lassen. Die Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der städtischen Gesellschaft waren also geographisch eng begrenzt. Daher blieben die Juden in der Regel in den Teilungsgebieten ansässig.
Die zweite Teilung Polens brachte 1793 den ganzen Osten Polens bis zu einer Linie Düna burg–Chotin an Rußland, mit der dritten Teilung 1795 kam noch das polnische Li tauen, der Rest von Schwarzrußland, Poslesien, Wolhynien, Kurland und Semgallen hinzu. Die Situation in den neuen Gebieten war schwierig. So zeigte der Kosciuszko-Aufstand von 1794, an dem sich polnische Nichtjuden und Juden gleichermaßen beteiligten, daß viele die Eingliederung in das russische Imperium nicht einfach hinzunehmen bereit waren. St. Petersburg mußte also mit länger andauerndem Widerstand rechnen und ließ deshalb in polnischen Angelegenheiten nun größere Vorsicht walten. Gleichzeitig aber bestand Handlungsbedarf, denn die christlichen Kaufleute aus den Westgebieten beschwerten sich über die Massierung jüdischer Konkurrenz, und die Juden selbst kämpften um den Anspruch, sich auch in Moskau, St. Petersburg oder in einer beliebigen anderen größeren Stadt niederlassen zu können.
Bereits im Dezember 1791 hatte Katharina II. den Juden die Niederlassung als Kaufleute in den innerrussischen Provinzen und den Hafenstädten verboten. Nach der zweiten Teilung Polens wurde am 23. Juni 1794 eine Liste derjenigen Gebiete erstellt, innerhalb deren Juden siedeln durften. So entstand der sogenannte „Ansiedlungsrayon“ (čerta osiedlosti), der die Gebiete von Minsk, Izjaslav (Wolhynien), Brazlaw (Podolien), Polock (Vitebsk), Mohilev, Kiev, Černigov, Novgorod-Seversk (Poltava) und das im Süden neu hinzugewonnene Gebiet Novaja Rossija (Ekaterinoslav und Taurien) umfaßte. Dieser Rayon wurde nach der dritten Teilung Polens um Wilna, Grodno und Kurland und im 19. Jh. durch Astrachan, den nördlichen Kaukasus (1804) und Bessarabien (1812) erweitert.
Der Ansiedlungsrayon war keine Schutzzone für die Juden, vielmehr ein groß dimensioniertes Ghetto. Wer versuchte, sich anderswo niederzulassen und dabei ertappt wurde, mußte eine Strafe in Höhe von drei Jahressteuersätzen entrichten und wurde dann in den Rayon zurückgesiedelt. Wer blieb oder neu hinzuzog, hatte die hohen Steuern zu zahlen, die für alle nicht der Staatskirche angehörenden Untertanen galten. Neben den Juden waren dies z.B. die Altritualisten, die sich 1667 von der Staatskirche getrennt hatten. Auch war die Beschränkung der Mobilität keine Maßnahme, die ausnahmslos die Juden getroffen hätte. Sie war eher ein Charakteristikum der Zeit: Der weitaus größte Teil der russischen Bevölkerung, die leibeigenen Bauern, hatten in den Jahrzehnten der katherinäischen Regierung die letzten Spuren ihrer früheren Unabhängigkeit verloren und waren nicht nur an den Boden gebunden, den sie bewirtschafteten, sondern ganz zum frei verfügbaren Besitz der Gutsbesitzer geworden. Auch die Städter, ja selbst die Kaufleute waren Freizügigkeitsbeschränkungen unterworfen. Dies waren die Komplementärerscheinung zu dem ausgeprägten wirtschaftlichen Protektionismus.
Innerhalb des Ansiedlungsrayons waren die Juden weiterhin auf die Städte beschränkt, wo nur die Wohlhabenden als Bürger oder Kaufleute die Möglichkeit der politischen Partizipation hatten. Eine den Wünschen der christlichen Stadtbewohner Rechnung tragende Bestimmung engte diese jedoch noch einmal ein: Juden durften nur maximal ein Drittel der Mandate im städtischen Magistrat halten. Die Beschränkung auf die Städte verschärfte die sozialen Probleme, weshalb die Situation der Juden bald zur „jüdischen Frage“ wurde. Armut und Not der jüdischen Bevölkerung waren im Siedlungsbereich der Juden am Ende des 18. Jhs. jedenfalls schärfer ausgeprägt als im russischen Kernland.
War die Verstädterung, die allerdings, wie angedeutet, nicht konsequent und nur selten mit Gewalt durchgesetzt wurde, eine eher problematische Folge aufklärerischer Politik, so wirkte sich die Anerkennung des Judentums als Religion positiv aus. Der absolutistische Staat verhielt sich gegenüber den Untertanen, die nicht der russisch-orthodoxen Kirche angehörten, tolerant. Dies schlug sich in der Verwaltungspraxis nieder, die die Religionszugehörigkeit nur als ein Personenmerkmal unter vielen in den Dokumenten seiner Untertanen fixierte. Hierzu wurde das Wort „evrej“ (Hebräer) verwendet, das im Gegensatz zu dem häufig abwertend gemeinten „žid“ bis ins zeitgenössische Russisch hinein als stilistisch neutral gilt.
Parallel zu dem Zugewinn an Land und Untertanen im Westen durch die Teilung Polens erfolgte die Expansion Rußlands nach Süden. In Kriegen mit dem Osmanischen Reich eroberte Katharinas Günstling Fürst Potemkin die Schwarzmeerküste und die Krim (1784). Die abgesetzte tatarische Verwaltung erreichte bei den Übergabeverhandlungen an die Russen u.a. eine Sonderbehandlung für die Karaiten. Diese wurden 1795 den Christen unter der Voraussetzung gleichgestellt, daß sie keine Krimčaken in ihre Gemeinden aufnahmen. Die rabbanitischen Juden, deren Zahl gegenüber dem 15. Jh. deutlich zurückgegangen war, mußten wie in den Westgebieten höhere Steuern zahlen und sollten nur in den Städten wohnen. Nicht zuletzt wegen der den Krim-Karaiten zugestandenen Privilegien setzte eine Wanderbewegung der in Polen-Litauen verstreuten Karaiten in Richtung Krim ein. ČufutKale und Evpatorija wurden zu Zentren der karaitischen Kultur mit eigenen Schulen und Druckereien. Dies wiederum verstärkte die Tendenz zur Ausbildung einer eigenen karaitischen Identität gegenüber den rabbanitischen Juden.
Die Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung war während der langen Regierungszeit Katharinas II. von insgesamt drei Prinzipien getragen: dem Toleranzgedanken, physiokratisch-merkantilistischen Ideen und der Maßgabe des Staatsnutzens. Katharinas Motive ähnelten denen, die etwa in den Debatten um die Emanzipation der preußischen Juden, z.B. von Christian Wilhelm Dohm in seiner programmatischen Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781), angeführt wurden. Ihre Maßnahmen waren, auch wenn sie auf längere Sicht wenig Wirkung zeigten, doch zunächst konsequenter als die vieler ihrer regierenden Zeitgenossen, Joseph II. eingeschlossen. Mit ihren gesetzlichen Regelungen legte Katharina II. den Grundstein für die ganze spätere Politik der russischen Zaren gegenüber ihren jüdischen Untertanen.
In den weißrussischen Gebieten, die nach den Teilungen Polens in das Russische Reich inkorporiert worden waren, kam es bald nach dem Tod Katharinas II. (1796) zu Spannungen zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Bevölkerung. 1797 wurden nach einer Mißernte, die eine Hungersnot zur Folge hatte, die Juden angeklagt, sie hätten durch den Alkoholausschank die Bauern zu Faulheit und Trunksucht angestiftet. Beschuldigungen dieser Art waren nicht neu. Da das Ausmaß der Hungersnot jedoch erheblich war, wurde eine Untersuchungskommission unter der Leitung des früheren Justizministers Gavriil R. Deržavin eingesetzt. Dieser legte ein Gutachten vor, dessen Titel bereits zeigt, zu welchen Ergebnissen er gekommen war: Meinung des Senators Deržavin über die Beseitigung der Getreidenot Weißrußlands durch Eindämmen der gewinnsüchtigen Gewerbe der Juden. Mit den „gewinnsüchtigen Gewerben“ war der Alkoholverkauf gemeint, den der Senator tatsächlich als letzte Ursache für die Getreideknappheit ausmachen zu können glaubte. Dieser Vorwurf sollte als diffamierendes Stereotyp in der russischen Gesellschaft während des ganzen 19. Jhs. und auch noch im 20. Jh. lebendig bleiben: Die armen Weißrussen, Ukrainer oder Russen werden von den Juden aus purer Gewinnsucht verführt und ausgebeutet.
In seine Untersuchung integrierte Deržavin auch noch zwei von jüdischer Seite entwickelte Projekte, die ganz dem aufklärerischen Zeitgeist verpflichtet waren: Zum einen sollten die Juden stärker assimiliert werden. Zu diesem Zweck sollten alle jüdischen Kinder ab dem 12. Lebensjahr eine allgemeinbildende Schule besuchen, in Kleidung und Sprache sollte sich die jüdische Bevölkerung der nichtjüdischen anpassen, und zumindest im Geschäftsverkehr sollte sie sich des Russischen, Polnischen oder Deutschen bedienen. Eine staatliche hebräische Druckerei sollte die Produktion der religiösen Bücher „mit philosophischen Noten“ übernehmen. Auch sollte die Kahal-Autonomie abgeschafft werden. Das zweite Anliegen bestand darin, die Juden stärker der „produktiven Arbeit“ zuzuführen. Deržavin befürwortete die Projekte und schlug zu ihrer Durchführung eine Reihe administrativer Maßnahmen vor, wie z.B. die generelle Registrierung der Juden und die Zuteilung zu einer der vier „produktiven“ Gruppen: Kaufleute, Stadtbürger, Handwerker bzw. Fabrikanten oder Bauern. „Unproduktive Juden“ sollten ins benachbarte Ausland abgeschoben werden. Pacht- und Schankwirtschaft sollten ihnen verboten sein.
Deržavins Gutachten wurde zur Arbeitsgrundlage für ein Komitee, das unter dem Vorsitz des Innenministers im November 1802 seine Arbeit aufnahm. Dieses Komitee legte nach knapp zwei Jahren Tätigkeit einen Vorschlag vor, der am 9. Dezember 1804 als „Polo ženie dlja evreev“ (Judenordnung) Gesetzeskraft erlangte. Diese Ordnung schrieb sowohl den Ansiedlungsrayon mit seinen elf Gouvernements als auch die Konzentration der Juden auf die Städte fest. Eine Ausnahme wurde für diejenigen gemacht, die tatsächlich Landwirtschaft betrieben. Für die Umsiedlung in die Städte wurden konkrete Fristen – zwei oder drei Jahre – gesetzt. Auch in vielen anderen Punkten folgte die Ordnung dem Gutachten Deržavins, etwa in der Frage der Registrierungspflicht, der Kleiderordnung und dem Sprachengebot, das nicht nur die Amts- und Geschäftssprache regelte, sondern auch die Schulsprache. Die Kahal-Autonomie blieb dagegen bestehen, und die freie Religionsausübung wurde als Recht festgeschrieben. Als Grundgedanke der Ordnung ist erkennbar, daß die Integration an eine (zumindest partielle) Assimilation gebunden war. Emanzipation wurde nicht gewährt, sie mußte erkauft werden.
Die Judenordnung von 1804 steht in einer ganzen Reihe von Reformmaßnahmen, die Alexander I. nach seiner Thronbesteigung in Auftrag gab. Dazu gehörten eine Verwaltungsund eine Rechtsreform, eine Bildungsreform und Ansätze zur Verbesserung der Lage der leibeigenen Bauern. Selbst eine Verfassung schien im Bereich des Möglichen. Die allgemeine Schulpflicht für jüdische Kinder stellte also nicht allein eine Assimilierungsmaßnah-me dar, sondern war vor allem eine Folge des 1802/03 umgebauten Bildungswesens. Die Auswirkungen, die der Erlaß der Judenordnung auf die Betroffenen hatte, waren ambivalent. Einerseits schuf sie eine gewisse Rechtssicherheit, die in der Folgezeit durch Maßnahmen wie den 1817 verordneten Schutz vor leichtfertigen Anklagen noch weiter ausgebaut wurde, andererseits verstärkte und systematisierte sie die staatlichen Eingriffe in das Leben der jüdischen Bevölkerung. In den Jahren nach dem Erlaß der Ordnung bemühten sich die Juden daher um mäßigende Ausführungsbestimmungen, die die unangenehmsten Folgen der Judenordnung abmildern bzw. außer Kraft setzen konnten. Dies wurde nach 1812 möglich, als Rußland alle Kräfte mobilisieren mußte, um Napoleons Grande Armée wieder aus dem Land zu drängen.
Trotz der Emanzipationsgesetze, die in den von den napoleonischen Truppen besetzten Gebieten Europas erlassen worden waren, sah das osteuropäische Judentum in Napoleon mehrheitlich einen nicht legitimierten Aggressor und unterstützte daher die bestehenden Regierungen in ihren Abwehrkämpfen. Juden dienten, ohne daß sie der Wehrpflicht unterlegen hätten, in der russischen Armee, waren Sanitäter, Kundschafter und Lieferanten. Vertreter der Selbstverwaltungsorgane betrieben in St. Petersburg Lobby-Politik, indem sie als „Deputierte des jüdischen Volkes“ auftraten, und sie erreichten tatsächlich Steuererleichterungen.
Die im Jahr 1812 bewiesene Loyalität trug nicht lange Früchte. Zwar wurde die Einrichtung der Deputierten bis zum Tod Alexanders I. im Jahr 1825 beibehalten, aber ansonsten zeigte der Zar für die Anliegen der Juden wenig Verständnis. Nach der Vertreibung Napoleons sah er sich als „Retter Europas“. Die religiöse Überhöhung, die er dieser Rolle beilegte, wird in der Gründung der auf sein Betreiben zustande gekommenen „Heiligen Allianz“ zwischen den christlichen Monarchien Österreich-Ungarn, Preußen und Rußland ebenso deutlich wie in seiner innenpolitischen Propagierung eines stark moralisierenden christlichen Biblizismus, der den zarischen Absolutismus ideologisch untermauern sollte. Die Juden hatten in einem solchen System nicht nur keinen Platz, sondern sie waren sogar verstärkten Missionierungsbemühungen von seiten der aus England stammenden und von Alexander I. unterstützten „Bibelgesellschaft“ ausgesetzt. Es wurde eine „Gesellschaft der israelitischen Christen“ gegründet, deren Ziel es war, die materielle Sicherstellung der getauften oder sich auf die Taufe vorbereitenden Juden zu gewährleisten. Die Bibelgesellschaft wurde 1826 von Alexanders Nachfolger Nikolaus I. aufgelöst, die „Gesellschaft der israelitischen Christen“ 1833. Über Erfolge, so es sie denn überhaupt gab, wurde nicht berichtet.
Die intensive Lobby-Politik der „Deputierten des jüdischen Volkes“ hatte nach 1812 erreicht, daß die in der Judenordnung von 1804 vorgesehenen Umsiedelungen vom Land in die Städte zunächst nicht wirklich in Angriff genommen wurden. Dies änderte sich in den zwanziger Jahren, als in den Gouvernements Mohilev und Vitebsk mindestens 20.000 Menschen ihre ländlichen Wohnsitze verlassen mußten. Im Süden dagegen machte man mit den Plänen zur zwangsweisen Verbäuerlichung der Juden ernst. Hunderte von Familien wurden in dem Gürtel nördlich des Schwarzen Meeres in Kolonien angesiedelt. Das Experiment war jedoch so schlecht vorbereitet, daß es bald wieder eingestellt werden mußte.
Die Herrschaft Nikolaus I. (1825–1855) war von einem großen Mißtrauen gegen jede Art von politischer Unabhängigkeit geprägt. Daß adelige Offiziere ihm vor seiner Inthronisation durch Eidverweigerung eine Verfassung abtrotzen wollten (Dekabristenaufstand), war eine lange nachwirkende Erfahrung. Geprägt durch das Militär, schwebte dem Zaren das Ideal einer Gesellschaft vor, die in den Kategorien von Befehl und Gehorsam funktionierte. Er baute die innenpolitischen Kontrollinstrumente aus und nutzte das Militär zur Homogenisierung der nachwachsenden Generationen. Das bedeutete konkret die Ausweitung der Wehrpflicht auch auf die Volksgruppen des Vielvölkerstaates, die sich bislang durch eine Wehrsteuer vom aktiven Dienst hatten loskaufen können. Mit Ukaz vom 26. August 1827 wurde der Wehrdienst auch für die Juden zur Pflicht, ohne daß sie jedoch in den Genuß der Rechte gekommen wären, die für die übrige Bevölkerung galten.
Der Wehrdienst bedeutete für Juden im Rußland des 19. Jhs. in der Regel einen völligen Bruch mit der eigenen Herkunft: Der Dienst dauerte 25 Jahre, eingezogen wurden Jungen und junge Männer im Alter von 12 bis 25 Jahren. Wer noch nicht das 18. Lebensjahr erreicht hatte, wurde zunächst in einer Kantonistenschule ausgebildet, deren Besuch auf die Dienstzeit angerechnet wurde. Beim Militär hatten die Juden in der Regel keine Gelegenheit, ihre Religion auszuüben, zumal die Angehörigen von Minderheiten üblicherweise auf unterschiedliche Einheiten verteilt wurden und im Fall der Juden auch konsequent eine Politik der Russifizierung und Christianisierung betrieben wurde. Der Kontakt zur Familie war schwierig bis unmöglich, die Ehefrauen der Soldaten mußten bei ihren Herkunftsfamilien unterkommen, da für sie jede Sozialfürsorge fehlte.
Normalerweise mußten 1000 Einwohner sieben Rekruten stellen, bei den Juden waren es zehn. Die Auswahl der Rekruten oblag den jüdischen Gemeinden, die hierzu eigene Kommissionen bilden mußten. Diese zogen anfangs Familienväter nicht ein, so daß frühe Heiraten zunahmen, eine Praxis, die schließlich jedoch durch die neue Judenordnung aus dem Jahr 1835, die Eheschließungen vor dem 18. Lebensjahr verbot, unmöglich gemacht wurde. Die Rekrutenaushebungen innerhalb der jüdischen Gemeinden führten bald auch zu einer neuen Form innerjüdischer Ausbeutung, da arme Haushaltsvorstände ihre Steuer oder andere Schulden bisweilen nur durch das Stellen eines Rekruten begleichen konnten.
Die am 13. April 1835 erlassene Neufassung der Judenordnung brachte kaum Verbesserungen, ja überhaupt nur wenige Änderungen: Der Ansiedlungsrayon wurde geringfügig ausgeweitet, dafür wurde 1843 an der Westgrenze des Reiches ein 50 Werst (ca. 53 km) breiter Streifen zur Verbotszone erklärt. Die Beschränkung auf die Städte wurde beibehalten, wobei es einige neue Anreize für Juden gab, die sich als Bauern niederlassen wollten. Die Verbesserungen betrafen das religiöse Leben. Die Bestimmungen für den Bau von Synagogen wurden vereinfacht, die Rabbiner wurden wie die christlichen Priester zu Staatsangestellten. Rechtlich etwas besser gestellt wurden nun auch die wohlhabenden Juden. Waren sie Kaufleute der ersten Gilde, durften sie sich in geschäftlichen Angelegenheiten bis zu sechs Monaten im Jahr außerhalb des Ansiedlungsrayons aufhalten. Kaufleute der zweiten Gilde durften dies für drei Monate, alle anderen nur für sechs Wochen. Die Beschränkungen für die Mitwirkung in den lokalen Institutionen wurden aufgehoben.
Nikolaus I. setzte zur Verwirklichung seiner politischen Vorstellungen von einer arbeitsamen und servilen Untertanenschaft mit patriotischer Gesinnung große Hoffnungen auf das Bildungssystem. Die Einrichtung von Schulen und Universitäten wurde forciert, ihnen fehlte jedoch innere Autonomie, ihr Bildungsauftrag beschränkte sich vielmehr auf dem Staat nützliche Funktionen. Im Rahmen dieser Politik nahm sich der Volksbildungsminister Sergej S. Uvarov der Neugestaltung auch des jüdischen Schulsystems an. Er versuchte, die Leitlinie von Integration durch Anreize und Verbote auch in der Schule umzusetzen und griff dabei auf Konzepte zurück, die ihm Juden vorgelegt hatten, die ihr Schulsystem für hochgradig reformbedürftig hielten. Sie sahen in dem Minister den glaubwürdigen Repräsentanten einer Integrationspolitik, von der sie sich letztlich die Emanzipation erhofften. Neben das Traditionswissen sollten ihrer Ansicht nach die Wissensbestände der Aufklärung treten, und die Schulen sollten die Absolventen auch auf ein Leben in einem nichtjüdischen Umfeld vorbereiten. Da die jüdischen Einrichtungen zu einer solchen Reform allein nicht fähig seien, sollte der Staat das Schulwesen an sich ziehen. In diesem Sinn äußerte sich z.B. Isaak Baer Levinsohn in seinem Buch Teuda be-jisrael von 1828.
Uvarov konnte den Pädagogen Max Lilienthal für das Schulreformprojekt gewinnen. Er holte ihn ins Russische Reich, übertrug ihm zunächst die Leitung einer Schule in Riga und beauftragte ihn dann 1841 mit dem Aufbau eines Systems staatlicher Schulen für jüdische Kinder. Da Lilienthal im Ansiedlungsrayon nicht genügend Lehrkräfte fand, die ihm für die Umsetzung seiner Vorstellungen geeignet erschienen, warb er deutsche Juden als Schulleiter für seine Reformschulen an. Diese Schulen stießen bei großen Teilen der Bevölkerung auf erbitterten Widerstand. Man befürchtete eine Entfremdung von den eigenen Traditionen, ja den Verlust der jüdischen Religion und der jüdischen Identität. Der Schulstreit wurde so zu einer innerjüdischen Auseinandersetzung zwischen Reformwilligen und Reformgegnern, die ganz ähnliche Diskussionen hervorbrachte, wie sie unter den christlichen Russen in der Petrinischen Epoche ausgetragen worden waren. Die Akzeptanz der staatlichen Schulen blieb gering, solange die dort erworbene Bildung nur theoretisch die Türen in die russische Gesellschaft öffnete und den wirtschaftlich-sozialen Aufstieg ermöglichte. Erst als in der Regierungszeit Alexanders II. den Juden mehr Berufe offenstanden, wurden die Schulprojekte zum Erfolg. Lilienthal jedenfalls gab auf und wanderte nach Amerika aus.
Daß sowohl in die Deržavinschen Konzepte als auch in die Uvarovschen Schulreformen Ideen aufgeklärter Juden, der Maskilim, Eingang gefunden hatten, macht deutlich, daß die Verbreitung aufklärerischer Ideen im Judentum andere Auswirkungen hatte als die bisherigen inneren Differenzierungen, die sich innerhalb der Judenheit vollzogen hatten. Die Maskilim verstanden sich als Teil einer nicht mehr nach Religionen und tradierten Kulturen unterscheidenden Menschheit, die sich an der Vernunft orientierte und dieser die zentrale Rolle im Aufklärungsprojekt zuwies. Die Haskala hatte, wie die vorstehenden Ausführungen deutlich gemacht haben, im 19. Jh. auch unter den Ostjuden Anhänger gefunden. Der erwähnte Levinsohn, den man den russischen Mendelssohn nannte, war einer der führenden Vertreter.
Die strenggläubigen Juden lehnten die Aufklärung und ihre Einrichtungen heftig ab. Eine der Ursachen für diese Reformunwilligkeit lag in den schlechten Erfahrungen, die viele Juden mit der staatlichen Verwaltung, in der Korruption und Mißwirtschaft nicht selten waren, gemacht hatten. Besonders spürbar war dies 1844 geworden, als den Kahal-Behörden zwar ihre Ordnungs- und Repräsentativfunktion abgesprochen wurde, die ungeliebten Aufgaben der Rekrutenaushebung und des Steuereintreibens jedoch blieben. Dadurch verschärften sich die Konflikte innerhalb der Gemeinden weiter. Daneben spielten jedoch religiöse bzw. ideologische Gründe eine große Rolle. Der innerhalb der Judenschaft geführte Streit um die Rolle der Tradition war der Nährboden für die Belebung der neuhebräischen und das Entstehen einer jiddischen Literatur in Osteuropa. Jiddisch wurde die Sprache der Aufklärung, denn nur über diese Sprache konnten die Maskilim die Massen erreichen.
Die Kahal-Verwaltungen wurden in der Regel von konservativen Kräften dominiert, was die Neuerer zwang, sich eine Plattform außerhalb der bestehenden Institutionen zu schaffen. Hierfür kamen entweder Zeitungen und Zeitschriften oder aber Theater in Frage. Letzteres galt traditionell als religiös anstößig, so daß die Anfänge eines selbständigen jüdischen Theaters erst in den sechziger Jahren des 19. Jhs. liegen. Auch die Gründung von Zeitschriften erwies sich als nicht einfach, da diese der Genehmigungspflicht unterlagen. Erst 1862 erschien unter dem Namen Kol mewasser (Stimme des Boten) die erste jiddischsprachige Beilage zu der in Odessa herausgegebenen Zeitschrift Ha-meliz (Der Anwalt).
Daß der Erscheinungsort der ersten eigenständigen Publikation der Maskilim im Russischen Reich Odessa war, hängt damit zusammen, daß diese Stadt sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. zu einem Zentrum der osteuropäischen Haskala entwickelt hatte. Die erst 1794 vom Russischen Reich eingenommene Stadt war schnell zu einem bedeutenden Getreideexporthafen avanciert. Hier galten eine Reihe von Regelungen nicht, die die Juden in anderen Hafenstädten vom Fernhandel und von Finanzierungsgeschäften ausschlossen. Der jüdische Anteil an der Bevölkerung war schon in den zwanziger Jahren des 19. Jhs. groß, hier konnte profanes Wissen früh zu gesellschaftlichem Aufstieg nutzbar gemacht werden, so daß sich in der Entwicklung Odessas in nuce der Emanzipationsprozeß der bildungswilligen Juden veranschaulichen läßt. Odessa war in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall.
(Norbert Franz)
Zwischen Integration und Diskriminierung (1855–1917)
Die Regierungszeit Alexanders II. (1855–1881) war geprägt von tiefgreifenden inneren Reformen, die durch Rußlands Niederlage im Krimkrieg (1854–1856) angestoßen wurden. Sie sollten auch das jüdische Leben im Russischen Reich verändern. Die sogenannte „jüdische Frage“ rückte im letzten Drittel des 19. Jhs. zunehmend ins Zentrum der öffentlichen Diskussion, wobei es ihre soziale Dimension war, die ihr die Brisanz verlieh. Armut und Not der jüdischen Bevölkerung in den Gebieten des Ansiedlungsrayons waren schon Ende des 18. Jhs. groß und verschärften sich im Laufe des 19. Jhs. aufgrund des sich auch in Rußland durchsetzenden kapitalistischen Wirtschaftssystems.
Gemäß der Volkszählung von 1897 lebten 3,9 Mio. Juden im Russischen Reich, die polnischen Gebiete nicht eingerechnet. Zusammen mit diesen belief sich die jüdische Bevölkerung auf 5,2 Mio. Dies entsprach 4 % der Gesamtbevölkerung des Zarenreichs und machte etwa die Hälfte der damaligen jüdischen Weltbevölkerung aus. Im Ansiedlungsrayon lebten allein 4,9 Mio. Juden (11,5 % der dortigen Gesamtbevölkerung). Auf dem Land siedelten nur noch 13,5 % der Juden, 86,5 % lebten in den Städten. Dies stellte die sonst herrschende Stadt-Land-Proportion Rußlands auf den Kopf. Etwa 40 % – im Ansiedlungsrayon sogar 73 % – der erwerbstätigen Juden waren im Handel-, Bank- und Kreditwesen beschäftigt, weitere 40 % in Handwerk, Verkehrswesen und Industrie. Nur 3 % betrieben Ackerbau. Auch dies war der Gesamtbevölkerung, von der drei Viertel in der Landwirtschaft beschäftigt waren, entgegengesetzt.
Der Handel entwickelte sich allmählich zur wichtigsten Erwerbsquelle der Juden. Das Handwerk war aufgrund der Billigkonkurrenz der Industrie einem ruinösen Wettbewerb ausgesetzt, und die jüdischen Handwerker verarmten gerade während des Wirtschaftsbooms Ende des 19. Jhs. massiv. Aufgrund des kapitalistischen Konzentrationsprozesses und der zunehmenden Dominierung des Handels durch Großkaufleute veränderte sich die für die Juden im Zarenreich so typische Mittlerfunktion zwischen Stadt und Land. Der jüdische „Dorfgeher“, der zwischen Stadt und Dorf pendelte und als Agent der Großhändler und Gewerbetreibenden auftrat, geriet immer mehr in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Mittlerfunktion verschob sich tendenziell von der direkten Vermittlung von Ware gegen Ware hin zur kapitalistischen geld- und großhändlerischen Warenvermittlung. Das jüdische Schankgewerbe, das bereits im ersten Drittel des 19. Jhs. stark eingeschränkt worden war, verschwand in den neunziger Jahren fast ganz. Dies war das Ende der traditionellen Mittlerposition der Juden zwischen der adeligen und der bäuerlichen Gesellschaft, die sich in der Vergangenheit allerdings häufig genug als problematisch erwiesen hatte.
Gleichzeitig entstand im Verlauf des 19. Jhs. vor allem in der Tabak-, Textil- und Nahrungsmittelindustrie eine jüdische Arbeiterklasse. Ebenso wie anderswo in Europa engagierten sich Juden in diesen Industriezweigen auch erfolgreich als Unternehmer. Sie kontrollierten zunehmend den bedeutenden Getreideexport über die Schwarzmeerhäfen, engagierten sich im Bankwesen und hatten vor allem in der Zeit zwischen 1850 und 1870 am Eisenbahnbau, dem gewinnträchtigsten Unternehmen der russischen Gründerzeit, erheblichen Anteil.
Den wenigen reichen jüdischen Großunternehmern stand jedoch eine verbreitete Armut gegenüber, die selbst im Ausland Aufsehen erregte. Die eingeschränkte Freizügigkeit und das niedrige wirtschaftliche Entwicklungsniveau im Ansiedlungsrayon bei einem gleichzeitigen enormen demographischen Wachstum begrenzten die Subsistenzquellen der jüdischen Bevölkerung auf einschneidende Weise. 1898 war ein Fünftel der Juden im Ansiedlungsrayon, wo diese zumeist auf engstem Raum in den überfüllten Städten lebten, auf die Armenfürsorge angewiesen. Das Erscheinungsbild dieser Städte wurde von den sogenannten „Luftmenschen“ geprägt, die keiner geregelten Tätigkeit nachgingen und von der Hand in den Mund lebten.
All das führte zur sozialen Polarisierung zwischen Arm und Reich innerhalb der Judenheit im Russischen Reich. Seit den neunziger Jahren des 19. Jhs. verschärften sich die Konflikte zwischen jüdischen Großunternehmern, verarmten Kleinunternehmern und Arbeitern. Mit der sozialen Polarisierung vertiefte sich auch die geistige und ideologische Ausdifferenzierung der Juden im Russischen Reich. Der Einfluß der jüdischen Oberschicht auf ihre Glaubensgenossen verringerte sich, der Widerstand innerhalb der Gemeinden gegen die exklusive und oligarchisch orientierte jüdische Selbstverwaltung und die Dominanz der Talmudgelehrten nahm zu. Jüdische Pächter von Staatsmonopolen lösten sich zuerst aus der Enge der Kahal-Oligarchie und faßten die rechtlich immer noch eng begrenzte Möglichkeit der Assimilation an die russische Mehrheitsbevölkerung als Ausweg aus der Krise ins Auge. Ein Teil der jüdischen Intelligenz strebte im Zeichen der Haskala weiterhin eine Modernisierung und Säkularisierung des jüdischen Lebens an. Die Reformära Alexanders II. schien diesen Bemühungen Vorschub zu leisten.
Die geschilderten sozialen Entwicklungen beeinflußten auch die Wahrnehmung der Juden durch die nichtjüdische Bevölkerung. Der Erfolg der jüdischen Oberschicht nährte antijüdische Vorurteile, obwohl die Mehrheit der Juden in Armut lebte. Im bäuerlichen Rußland, das in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. tiefgreifende sozioökonomische Veränderungen erlebte, wurden „die Juden“ als Sündenböcke für die negativen Auswirkungen des aufkommenden Kapitalismus verantwortlich gemacht. So stellt die Industrialisierung mit ihren für den Durchschnittsbürger nur schwer zu durchschauenden Distributions- und Produktionsprozessen einen wichtigen Schlüssel für das Verständnis der zunehmenden Juden feindschaft in der Bevölkerung dar.
Die Reformen Alexanders II. brachten jedoch zunächst einige Erleichterungen für die jüdische Bevölkerung. Im Sommer 1856 wurden die diskriminierenden „Kantonistengesetze“ aufgehoben und die Juden hinsichtlich der militärischen Dienstpflicht den anderen Landesbewohnern gleichgestellt. Die Aufhebung der rechtlichen Diskriminierungen wurde allerdings von der Bereitschaft der Juden abhängig gemacht, sich zu assimilieren, und außerdem sehr stark unter dem Gesichtspunkt des Nutzens für den Staat betrachtet. So blieb der Ansiedlungsrayon zunächst bestehen, doch erhielten wohlhabende und gebildete Juden – 1859 die Kaufleute der ersten Gilde, 1861 die Inhaber akademischer Grade, 1865 Zunfthandwerker, Brauer, Schnapsbrenner und Mechaniker sowie 1879 alle Absolventen der Universitäten und gleichartiger Bildungseinrichtungen – das Recht, sich im Inneren Rußlands niederzulassen. Die Gewährung von Freizügigkeit für entlassene gemeine Soldaten und deren Nachkommen (1867) sowie Handwerker bedeutete einen bescheidenen Einbruch der Reformen in die Unterschichten. Insgesamt war der Effekt der gewährten Freizügigkeit jedoch wahrscheinlich gering, da viele Juden aufgrund der wirtschaftlichen Rückständigkeit der westlichen Gouvernements gar nicht die Mittel zur Umsiedlung aufbrachten.
1856 wurde für Universitätsabsolventen und 1862 für Ärzte und Apotheker das Verbot, staatliche Ämter zu bekleiden, aufgehoben. Auch erhielten Juden nun wieder das Recht, Alkohol zu verkaufen und Pachtverträge zu schließen. Von der letzteren Möglichkeit machten sie allerdings nur in be scheidenem Umfang Gebrauch und investierten, sofern sie dazu in der Lage waren, eher in die anlaufende Industrie. Die allgemeinen Reformen in Politik, Justiz und Militär galten grundsätzlich auch für Juden ohne Einschränkungen. So durften Juden im Rahmen der Einrichtung der Zemstva, die den südlichen und ukrainischen Gebieten eine lokale Selbstverwaltung ermöglichte, ungehindert an dieser teilnehmen. Bei der Stadt reform von 1870 wurde dagegen die Quote von maximal einem Drittel jüdischer Abgeordneter aufrechterhalten, so daß den Christen auch in Gebieten mit jüdischer Mehrheitsbevölkerung die Kontrolle über die kommunalen Angelegenheiten verblieb. Zudem durften Juden nicht das Amt des Stadtoberhaupts bekleiden.
Im ganzen blieben die Reformen Alexanders II. in bezug auf die „jüdische Frage“ also ein vorsichtiger Kompromiß. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß sie zu einer erheblichen sozialen Mobilisierung der Juden führten. In der Zeit der „Großen Reformen“ wurde auch das Judentum im Russischen Reich von dem geistigen und politischen Umbruch erfaßt. Die Zahl der Juden in den allgemeinen Bildungseinrichtungen und Universitäten stieg deutlich an. Es formierte sich eine assimilationsbereite, verweltlichte Intelligencija, die vor allem in die freien Berufe wie den Anwaltsstand drängte. An den Universitäten kam diese Intelligencija mit der russischen revolutionären Bewegung in Kontakt, und einige Juden schlossen sich ihr an.
Indessen vollzog sich bereits zur Regierungszeit Alexanders II. eine Wende zu antisemitischen Ressentiments und Übergriffen. Nicht zufällig stockte die allmähliche Abschaffung der rechtlichen Diskriminierungen schon in den siebziger Jahren. Der mit den Reformen und dem wirtschaftlichen Wachstum verbundene zunehmende Wohlstand jüdischer Unternehmer und Großhändler hatte in der nichtjüdischen Bevölkerung Konkurrenzängste geweckt. Darüber hinaus war in der Auseinandersetzung mit den nichtrussischen Nationalbewegungen der Nationalismus in der russischen Gesellschaft spürbar gewachsen und beeinflußte seit den sechziger Jahren die Regierungspolitik. Die nationalistische Presse konnte einen bedeutenden Teil der gebildeten russischen Öffentlichkeit mobilisieren. Auf revolutionäre und nationale Bestrebungen, die als Gefahr für die Einheit des Reichs angesehen wurden, reagierte der Staat mit verstärkter Unifizierung, Repression und sprachlicher Russifizierung, insbesondere nach dem polnischen Aufstand von 1863. Sozialreformerische Bestrebungen verloren demgegenüber an Bedeutung.
Ein erstes Ergebnis der veränderten Haltung gegenüber den Juden war ein absolutes Landkaufverbot für Juden, das 1864 im Rahmen der Russifizierung der westlichen Gouvernements verhängt wurde und russische Interessenten vor jüdischer Konkurrenz schützen sollte. 1871 kam es in Odessa zu einem Pogrom gegen die dortige jüdische Bevölkerung, zu dem vor allem griechische Kaufleute, hauptsächlich aus Konkurrenzneid, angestiftet hatten. 1878 wurden mehrere Juden im kaukasischen Kutais des Ritualmords bezichtigt. Zwar wurden sie freigesprochen, doch diskutierte die Presse, ob Juden Christenblut mißbrauchten. Auch die Bürokratie wurde von antijüdischen Stimmungen erfaßt.
In diesem Zusammenhang muß auch der Schriftsteller Fedor M. Dostoevskij genannt werden. Ihm kommt „die zweifelhafte Ehre zu, den modernen Antisemitismus im russischen Denken salonfähig gemacht zu haben“ (Golczewski/Pickhan). Dem messianischen Nationalismus Dostoevskijs galten moderne westliche Institutionen als Symbol von Dekadenz, die für ihn wiederum die Juden repräsentierten. Dostoevskij stellte die angebliche Absonderung der Juden als „Staat im Staate“ der universalistischen russischen Idee gegen über. Festzuhalten ist, daß Dostoevskijs Antisemitismus keineswegs originell war, sondern sich aus der aktuellen antisemitischen „Spezialliteratur“ Europas speiste.
Nach der Ermordung Alexanders II. am 1. März 1881 ereigneten sich zahlreiche Pogrome, die endgültig erst 1884 ein Ende fanden. Dabei diente die Beteiligung einer Terroristin jüdischer Herkunft an dem Attentat, die in der Presse hochgespielt wurde, als Rechtfertigung. Die Pogrome, die sich vornehmlich auf die Ukraine konzentrierten, gingen vor allem von den städtischen Unterschichten aus, die die im Kleinhandel und Handwerk konzentrierten Juden für soziale Mißstände verantwortlich machten. Von den russisch geprägten Städten verlagerten sich die Pogrome auf das Land, wo sich auch ukrainische Bauern beteiligten. Die neuere Forschung hat die Meinung entkräftet, daß die Ausschreitungen von der Petersburger Zentralregierung organisiert wurden. Auch die lokalen Behörden haben die Übergriffe offenbar nicht angestiftet, sie aber doch geduldet und dadurch gefördert.
Die Ermordung Alexanders II. und die anschließenden Pogrome bedeuteten für die Juden Rußlands eine tiefe Zäsur: Sie schienen nicht nur die Fruchtlosigkeit aller Bemühungen um Integration und Assimilation zu belegen, sondern hatten auch einen Stopp der Reformpolitik und eine Verschärfung der Politik gegenüber den Juden zur Folge: Der neue Zar Alexander III. (1881–1894) und seine Regierung hatten die Pogrome zunächst als Beginn einer spontanen sozialen Revolution interpretiert. Obwohl ihnen aus Gründen der Staatsräson daran gelegen sein mußte, diese so schnell wie möglich niederzuschlagen, weigerte sich Alexander III. doch, die Juden ausdrücklich unter den Schutz des Staates zu stellen. Statt dessen wurde den Opfern der Pogrome und ihrem „religiösen Fanatismus“ die Schuld an den Ausschreitungen gegeben. Durch „Wucher“ und „Verschlagenheit“ hätten die Juden die eingesessene Bevölkerung ausgebeutet, die, so die absurde Erklärung, zu den Pogromen geradezu provoziert worden sei. Die Konsequenzen für die Politik ergaben sich aus dieser Bestandsaufnahme von selbst: Die als zarentreu und konservativ geltenden Bauern mußten vor den Juden geschützt werden.
Diskriminierende Maßnahmen, die die Ausgrenzung der Juden verschärfen sollten, ließen nicht lange auf sich warten: Die sogenannten „Maigesetze“ von 1882 verboten den Juden, sich auf dem Land niederzulassen und Pachtverträge abzuschließen. Einen besonderen Rückschlag für das Streben nach Gleichberechtigung stellte die Einführung eines Numerus clausus für Juden an Gymnasien und Hochschulen dar: Juden durften seit 1887 im Ansiedlungsrayon maximal 10 %, im übrigen Rußland maximal 5 % und in St. Petersburg und Moskau maximal 3 % der Studierenden stellen. Weil die Regierung auf Ausgrenzung setzte, waren die Juden von der unter Alexander III. massiv betriebenen Russifizierung nicht sonderlich betroffen. Die massenhafte Ausweisung von über 10.000 jüdischen Handwerkern aus Moskau im Jahr 1891 sollte dagegen bereits vorhandene Ansätze zur Assimilation unterbinden.
Die Politik der rechtlichen Diskriminierung und der zunehmende Antisemitismus trafen in Rußland nicht nur auf Zustimmung. Schriftsteller wie Nikolaj S. Leskov oder der Philosoph Vladimir Solov’ev setzten sich für Toleranz und Gleichbehandlung der Juden ein. Auch in der Regierung gab es Kräfte, die sich für eine vorsichtige Emanzipation der Juden aussprachen. Zu ihnen gehörte der russische Finanzminister Vitte, der mit seinen Hinweisen auf die positive Rolle der Juden bei der Industrialisierung des Landes vor allem wirtschaftlich-pragmatische Motive für seine Haltung anführte.
Die vom Zaren eingesetzte Kommission unter dem Vorsitz des Grafen Pahlen, die die „jüdische Frage“ zwischen 1883 und 1888 begutachtete, machte ebenfalls Vorschläge, die im deutlichen Gegensatz zur bisherigen Regierungspolitik standen. Von einer „jüdischen Gefahr“ könne keine Rede sein, das Hauptproblem sei die extreme Armut vieler Juden. Sie empfahl daher, als Remedur die rechtliche Gleichstellung anzustreben. Wesentliche rechtliche Verbesserungen für die Juden wurden jedoch nicht durchgesetzt, die Politik der Ausgrenzung dominierte bis 1917.
Nach der Wende von 1881 verfolgte die Regierung eine Politik der „defensiven Modernisierung“, um die Autokratie, die ständische Ordnung und die Dominanz des Adels zu bewahren. Im Zeichen der seit den neunziger Jahren betriebenen Industrialisierung breitete sich in Rußland ein reaktionärer und nationalistischer Antikapitalismus aus. Getragen wurde diese Politik vor allem vom Innenministerium sowie vom Oberprokuror des Heiligen Synods und ehemaligen Erzieher Alexanders III., Konstantin P. Pobedonoscev. Er prägte die Formel „ein Herrscher, ein Glaube, eine Sprache“ und hatte wesentlichen Anteil an der Ausbildung des russischen Nationalismus zur Staatsideologie. Innerhalb dieser stellte der Antisemitismus als „reaktionäre Utopie“ (Löwe) ein wichtiges Element dar.
Die Staatsführung nutzte judenfeindliche Parolen dazu, die eigene schrumpfende politische Basis und die Autokratie zu stabilisieren. Die Juden konnten in verschiedene Richtungen und mit einander zum Teil widersprechenden Vorwürfen als Sündenböcke für die aus der Industrialisierung resultierenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme instrumentalisiert werden. So ließen sich liberale Politiker mit Stereotypen von der „jüdischen Absonderung“ oder „Rückständigkeit“ mobilisieren. Die bäuerlichen Unterschichten waren für vormoderne, religiös motivierte antijüdische Vorurteile empfänglich. Den reaktionären Kräften wiederum galten die Juden als Vertreter des Kapitalismus und der westlichen Demokratie, die die Macht der traditionellen Herrschaftseliten gefährdeten. Mit dem extremen russischen Nationalismus verbanden sich Vorstellungen einer polnisch-jüdischen Konspiration und die Legende von einer Verschwörung der Juden zur Übernahme der Weltherrschaft. Diese Verschwörungstheorien fanden wahrscheinlich durch die 1905 erstmals im Anhang zur dritten Auflage des Buches Das Große im Kleinen von Sergej Nilus veröffentlichten Protokolle der Weisen von Zion weite Verbreitung. Bei den Protokollen handelt es sich erwiesenermaßen um eine Fälschung, die möglicherweise in Regierungskreisen beschlossen und durch die Geheimpolizei vorbereitet wurde. Wenn auch die genaue Herkunft und Wirkungsgeschichte der Protokolle noch nicht geklärt ist, so ist doch unbestritten, daß diese die weitere Geschichte des Antisemitismus bis hin zum Nationalsozialismus nachhaltig beeinflußt haben.
Unter den Juden riefen die Pogrome und die damit verbundene Diskriminierungspolitik vor allem zwei Reaktionen hervor: die vorübergehende Verstärkung der Emigration, die aus sozioökonomischen Gründen längst eingesetzt hatte, und die politische Radikalisierung. Zwischen 1881 und 1914 sind etwa zwei Millionen Juden aus Rußland, überwiegend aus den Gebieten des Ansiedlungsrayons, ausgewandert, meist nach Nordamerika. Neben der rechtlichen Diskriminierung seit 1881 waren es vor allem sozioökonomische Faktoren, die Juden zur Auswanderung veranlaßten. Diese erfolgte fast ausschließlich im Familienverband und stellte häufig eine definitive und endgültige Entscheidung dar.
Politische Ernüchterung hatte sich unter der integrationswilligen jüdischen Intelligencija bereits nach dem Berliner Kongreß von 1878 ausgebreitet, nachdem die Vertreter der russischen Regierung deutlich gemacht hatten, daß diese den Juden in den russischen Provinzen keine gleichen staatsbürgerlichen und politischen Rechte zugestehen wolle. Die jüdischen Reaktionen auf diese Enttäuschung und die nachfolgenden Pogrome und Diskriminierungen fielen keineswegs einheitlich aus. Zahlreiche Juden wandten sich jüdisch-nationalen, andere sozialistischen Ideen zu. Die jüdische Aufklärungsbewegung, die nach dem Ende der Reformära gescheitert schien, wirkte in diesen neuen politischen Strömungen in Form einer neuen, für die Juden im Zarenreich typischen, in ihren Schattierungen bisher noch nicht erforschten säkularen Identität, die allen Strömungen gemeinsam war, weiter. Trotz dieser Entwicklungen übten die traditionsorientierten Kräfte wie das Rabbinertum, das die religiösen Elemente jüdischer Identität betonte, oder ein weltabgewandter, mystischer Chassidismus weiterhin großen Einfluß auf weite Teile der jüdischen Bevölkerung aus.
Wie bei den anderen Nationalitäten des Reiches hatte sich auch unter den Juden seit der Mitte des 19. Jhs. auf der Basis der Überlegung, daß die Gleichberechtigung im Staat nicht als „Geschenk von außen“, sondern nur durch die Besinnung auf die eigene kulturelle Identität und die aktive Veränderung des politischen Systems zu erreichen sei, eine Nationalbewegung formiert, die kulturell u.a. eine Wiederbelebung der hebräischen Sprache und eine Aufwertung des Jiddischen propagierte und politisch Autonomierechte für die jüdische Bevölkerung im Russischen Reich forderte. Zielte diese Bewegung auf eine nationalkulturelle Konsolidierung der jüdischen Gemeinschaft in der Diaspora, so strebte der Zionismus, der seit den achtziger Jahren im Russischen Reich zahlreiche Anhänger fand, einen jüdischen Nationalstaat an. Die unabhängig vom späteren politischen Zionismus entworfenen Konzepte wie z.B. die bereits auf eigenes, nationales Territorium zielende Idee der „Autoemanzipation“ Leon Pinskers oder der „Kulturzionismus“ Achad Haams (ursprünglich: Ascher Ginzberg) waren vor dem Hintergrund des jüdischen Ansiedlungsrayons entstanden. Im Zionismus bestanden religiöse, bürgerliche und sozialistische Strömungen nebeneinander. 1905 wurde die Partei „Poale Zion“ (Arbeiter Zions) gegründet, die Sozialismus und Zionismus zu verbinden suchte und zur bedeutendsten zionistisch-sozialistischen Bewegung in Rußland wurde.
In Konkurrenz zum Zionismus formierte sich unter den Juden des Russischen Reichs eine Arbeiterbewegung, die schon in den neunziger Jahren Streikbewegungen organisierte und sich 1897 in Wilna als „Allgemeiner jüdischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und Rußland“ gründete. Bis zur Zulassung von Parteien im Oktobermanifest von 1905 agierte der „Bund“ illegal. Er wandte sich gegen den Zionismus und versuchte, nationale und sozialistische Forderungen zu synthetisieren. In Anlehnung an die nationalitätenrechtlichen Autonomieforderungen der österreichischen Sozialisten (Austromarxisten) forderte der „Bund“ für die jüdische Nation eine nicht an ein Territorium gebundene, personale Kulturautonomie mit einem jiddischsprachigen Bildungssystem. Ursprünglich verstand sich der „Bund“ als Teil der russischen Sozialdemokratie. Diese lehnte seine nationalen Ziele aber ab, was 1903 im Austritt des „Bund“ aus der Russischen Sozialdemokratie kulminierte. Bereits 1903 verfügte der „Bund“ über 25.000 Mitglieder und war die mitgliederstärkste marxistische Untergrundbewegung Rußlands vor 1914.
Nach der Thronbesteigung Nikolaus‘ II. (1894) veränderte sich die politische Situation der Juden im Russischen Reich nicht wesentlich. Zu Beginn des 20. Jhs. nahmen Diskriminierungen und Antisemitismus noch zu. Die angespannte Lage entlud sich in zahlreichen Pogromen. Eingeleitet wurden sie durch einen der berüchtigsten und wohl auch bekanntesten Pogrome, der sich am Ostersonntag 1903 im bessarabischen Kišinev (heute: Chişinau) ereignete und bei dem etwa 50 Juden, also mehr als bei allen Pogromen von 1881 bis 1884 zusammen, getötet wurden. Die Ereignisse entsetzten die Judenheit in aller Welt und lösten Entrüstung in ganz Rußland, aber auch im übrigen Europa und der Welt aus. Im September folgten weitere Übergriffe. Im Jahre 1904 kam es zu einer dritten Welle von 43 Pogromen. Während der vierten Welle, in der revolutionären Phase von 1905, kam es allein in der Periode zwischen Oktober 1905 und September 1906 zu rund 650 Pogromen, die sich durch ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß an Gewalt auszeichneten. Zahlreiche Pogrome ereigneten sich unmittelbar nach der Veröffentlichung des Oktobermanifests am 30. Oktober 1905, mit dem der Zar Zugeständnisse an die Revolutionäre machte. Allein in Odessa wurden direkt nach der Verkündigung des Manifests 800 Juden in einem Pogrom getötet.
Das komplexe Geflecht der Kausalitäten der Pogrome, das von der neueren Forschung differenziert herausgearbeitet wurde, kann hier nicht annähernd erschöpfend behandelt werden. Wie die Ausschreitungen der Jahre 1881–1884 waren auch diese Pogrome, die vorwiegend in den südlichen und südwestlichen Gouvernements des Russischen Reichs stattfanden, vor allem ein urbanes Phänomen. Beschleunigte Industrialisierung und Modernisierung verstärkten in den südlichen Städten die sozialen Spannungen. Teile der Bevölkerung machten für ihre wirtschaftlich schlechte Lage die Juden verantwortlich, die durch den Verlust ihrer Mittlertätigkeit in die Städte gezwungen worden waren. Zudem wanderten viele Juden von den rückständigeren weißrussisch-litauischen Städten im Nordwesten des Ansiedlungsrayons in die Städte des Südens, was die Spannungen verschärft haben könnte.
Zu den wirtschaftlichen Spannungen und einer antisemitischen Agitation in der Presse, die bereits 1881 für den Ausbruch der antijüdischen Gewalt ausschlaggebend waren, kamen in den Jahren 1903–1906 noch einige neue Momente hinzu: So wird z.B. als Grund für die Pogromwelle 1904 die Mobilmachung im Russisch-Japanischen Krieg genannt. Die antisemitische Presse bezichtigte die Juden der Kollaboration mit den Japanern und schob ihnen die Verantwortung für den Krieg zu. Für die Reservisten waren die Juden die Hauptverantwortlichen ihrer schlechten Lage und wurden zur Zielscheibe einer sich in Gewalt entladenden Frustration. Einen weiteren zentralen Faktor stellt die Revolution von 1905 dar, die zu einem Erstarken der russischen Rechten führte. Der Anstieg der antijüdischen Gewalt nach dem Oktobermanifest dürfte auf die Beteiligung der „Schwarzen Hundertschaften“, dem militanten Arm der russischen Rechten, zurückzuführen sein, die mit Propaganda und Straßengewalt gegen Juden vorgingen.
Eine Übereinstimmung zwischen den Ereignissen von 1881–1884 und 1903–1906 besteht darin, daß sich die lokalen Behörden und Militäreinheiten in den einzelnen betroffenen Gouvernements sehr unterschiedlich verhielten. Manche haben – sei es aus Unfähigkeit, sei es in stillem Einverständnis mit den Pogromisten – nicht direkt Maßnahmen gegen die Ausschreitungen ergriffen. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen die staatlichen Behörden versuchten, den Ausschreitungen Einhalt zu Gebieten. Schließlich haben häufig auch unklare Kompetenzverhältnisse und mangelnde Koordination zwischen den lokalen Verantwortlichen eine schnelle Beendigung der Übergriffe verhindert. Ähnlich wie 1881 wurden die Pogrome meist aus den russisch geprägten Städten aufs Land getragen, wo sich auch Ukrainer an ihnen beteiligten.
Lange Zeit umstritten war die Frage, ob die Zentralregierung diese Welle der Pogrome geplant habe. Zweifelsohne haben Regierungsmitglieder einschließlich des Zaren mit rechten, antisemitischen Organisationen wie der „Union des Russischen Volkes“ sympathisiert und vor allem den Juden selbst wie schon 1881 die Schuld an den Pogromen gegeben. Die neuere Forschung hat aber den Vorwurf der Initiierung der Pogrome durch die Zentralregierung entkräftet. Auch 1903–1906 hatte sie wenig Interesse an den Ausschreitungen, da sie die Stabilität des zarischen Regimes selbst hätten gefährden können. Gleichwohl trägt die Regierung eine gehörige Mitverantwortung an den Pogromen, da sie durch ihre Diskriminierungspolitik und das wohlwollende Verständnis für die Ausschreitungen den Pogromisten den Eindruck vermittelte, Übergriffe gegen Juden seien sanktioniert.
Infolge der Revolution von 1905 sah sich der Zar genötigt, politische Konzessionen zu machen und ein Parlament zu schaffen sowie den Erlaß von Grundrechten im „Oktobermanifest“ zu verkünden. In diesem Zusammenhang wurde auch den Juden das Wahlrecht für die 1906 zum ersten Mal gewählte Duma zugestanden, und die durch die Revolution geförderte Parteibildung kam ihnen ebenfalls zugute. Insgesamt wurden jedoch die von der Revolution genährten Hoffnungen der Juden auf Emanzipation enttäuscht. Zar Nikolaus II. lehnte diese eindeutig ab.
Die Lage der Juden verschärfte sich noch einmal nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Stolypin im Jahre 1911, unter dessen Regime die Pogrome unterdrückt worden waren. 1911 wurde der Kiever Jude Mendel Beilis des Ritualmordes an einem christlichen Jungen bezichtigt. Die Regierung, die daran interessiert war, bei den Wahlen für die 4. Dumaperiode die antiliberalen Kräfte zu unterstützen, bediente sich des Falls zu Propagandazwecken. Erst 1913 wurde Beilis aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Angesichts dieser Ereignisse, die das Ansehen des Zarenregimes im In- und Ausland beschädigten, schien Rußland am Vorabend des Ersten Weltkriegs weiter denn je davon entfernt zu sein, einen Ausweg aus der „jüdischen Frage“ zu finden. Mit Rumänien war es das einzige Land in Europa, das die Emanzipation der Juden noch nicht vollzogen hatte.
Die desolate Situation der Juden im Zarenreich setzte sich im Ersten Weltkrieg fort. Der Ansiedlungsrayon wurde zum Schauplatz der Kriegshandlungen, die Hunderttausende von Juden zur Flucht zwangen. Die russischen Militärbehörden und polnische Nationalisten streuten den Verdacht, die Juden spionierten für die feindlichen Mittelmächte. Unter dem Vorwand, die Juden verhielten sich illoyal, ging die zarische Militärverwaltung dazu über, diese in die Gegenden des Ansiedlungsrayons auszuweisen, die nicht vom Krieg betroffen waren. Als die Zustände dort immer unerträglicher wurden, gestattete die Regierung die Niederlassung im ganzen Reich. So wurde paradoxerweise der seit dem Ende des 18. Jhs. bestehende Ansiedlungsrayon im Zeichen der Repression beseitigt: Bei den Deportationen blieben Gewalttaten nicht aus, und viele Juden wurden in die Frontgebiete getrieben. Erst infolge der Februarrevolution und des Zarensturzes kam es vorübergehend zur Emanzipation der Juden in Rußland.
Insgesamt läßt sich sagen, daß die Zeit des späten Zarenreichs geprägt war von antijüdischen Diskriminierungen und der Ausbildung einer betont judenfeindlichen Ideologie. Der regierungsamtliche Antisemitismus und die restriktive Politik gegenüber den Juden lassen sich nicht allein mit der programmatischen Rückbesinnung des zarischen Regimes auf das autokratische Prinzip und seine traditionellen Stützen wie Orthodoxie und Volkstümlichkeit erklären. Die „jüdische Frage“ war in einer Phase der inneren Krisen des Zarenreichs auch deswegen brisant, weil die Gewährung der Emanzipation der Juden anderen Forderungen nach Demokratisierung hätte Auftrieb geben können. Mit anderen Worten: Die „jüdische Frage“ im späten Zarenreich war Teil eines größeren Problems, nämlich der Unfähigkeit der zarischen Regierung, zeitgemäße Antworten auf die Fragen von Modernisierung, Demokratisierung und Nationalitätenproblemen zu finden.
(Wilfried Jilge)