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Die ersten Juden in Osteuropa und die Ostslaven

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Herkunft und Vorgeschichte der Juden in Osteuropa

Die Anfänge jüdischer Präsenz in Osteuropa verlieren sich im Sagenhaften. Der Legende nach haben die ersten jüdischen Siedler den Kaukasus bereits nach der Zerstörung des Reiches Juda durch Nebukadnezar erreicht. Dort lebten vorindoeuropäische Völker wie die Georgier mit indoeuropäischen und später mit turkstämmigen Völkern auf relativ engem Gebiet miteinander. Auch recht kleine Gruppen konnten in unzugänglichen Bergtälern ihre sprachliche und kulturelle Identität wahren. In den Bergtälern v.a. des späteren Daghestan setzten sich auch jüdische Gruppen fest, die sogenannten Bergjuden, die einen iranischen Dialekt sprechen und in der Alltagskultur den übrigen Kaukasiern sehr ähnlich sind. Die Volkszählung von 1959 ermittelte 30.000 Personen, die sich dieser Gruppe zugehörig erklärten.

Die georgischen Juden (1959: 36.000) sprechen, seit es im 9. Jh. Aufzeichnungen über sie gibt, Georgisch. Damals bildete sich unter ihnen eine karaitische Gruppierung. Der Ursprung der Karaiten ist Kleinasien. Von dort breiteten sie sich bis nach Ägypten und im 11. Jh. nach Byzanz aus. Der nördliche Rand des Schwarzen Meeres, vor allem die Halbinsel Krim, war seit der Antike ein ökonomisch und militärisch wichtiger Vorposten der griechischen Welt. Da die Stimmung in Byzanz nicht immer judenfreundlich war, emigrierten immer wieder Gruppen aus dem Zentrum in die Rand- und Grenzgebiete, was sich am Nordrand des Schwarzen Meeres besonders anbot, weil die Oberschicht im benachbarten Chasarischen Reich sich zum Judentum bekannte. Außerdem war die Krim ein idealer Ausgangspunkt für den Fernhandel nach Norden und Osten. Hier entstanden größere jüdische Gemeinden mit einem bedeutenden Anteil an Karaiten. Zerstreut über viele Länder, konnten die Juden für den Fernhandel der Diasporasituation einen Vorteil in Form vielfältiger länderübergreifender Kontakte abgewinnen.

Die Attraktivität der Krim und anderer Orte der Schwarzmeerküste blieb auch erhalten, als im 10. Jh. die aus dem Norden kommende Rus’ militärisch präsent wurde. Ab dem Jahr 1223 begannen tataro-mongolische Truppen die Krim zu erobern, die bis auf wenige Flecken dem Reich der Horde eingemeindet wurde. 1455 entstand das selbständige Chanat „Kyrym“ oder „Krym“. Auch während der Herrschaft der Chane wanderten Juden von Byzanz auf die Krim aus, wo sie weniger in der eigentlichen Küstenregion als vielmehr im Hinterland, der sogenannten Berg-Krim, siedelten. Die Krim-Juden assimilierten sich sprachlich an ihre Umgebung. Auf der Basis der von den Krim-Tataren gesprochenen Turksprache entstand das „Krimtschakische“. Daß ihre Sprecher, soweit sie Rabbaniten waren, „Krimčaki“ genannt werden, geht auf die russischen Behörden im 19. Jh. zurück. Auf der Krim bildeten nämlich die Karaiten die Mehrheit unter den Juden, und weil für diese seit dem 18. Jh. besondere Bestimmungen galten, gibt es eine eigene Bezeichnung für die rabbanitischen Juden der Krim. Der Zensus von 1959 ermittelte noch etwa 1500 Krimtschaken, von denen etwa 10 % das Krimtschakische ihre Muttersprache nannten.

Als Untertanen des für die Krim zuständigen Chan waren die Karaiten auch in die gelegentlich stattfindenden militärischen Auseinandersetzungen mit den Litauern verwickelt, die ihr Reich möglichst weit nach Süden ausdehnen wollten. Auf diese Weise gerieten Karaiten als Kriegsgefangene bis nach Wilna und in andere Städte, wo sie Gemeinden bildeten. Mit dem massiven Zuzug rabbanitisch orientierter Juden aus West- und Mitteleuropa wurden die litauischen Karaiten zu einer Minderheit.

Über die Anfänge der Chasaren weiß man wenig. Sicher war ihr Reich, das mehr als vier Jahrhunderte bestand, ein Vielvölkerreich, in dem kaukasische, asiatische und Turkvölker zusammenlebten. Das Reich der Chasaren erstreckte sich in einem breiten Halbkreis nordöstlich des Schwarzen Meeres von der Krim bis zum Kaukasus. In ihrem Gebiet verliefen und kreuzten sich wichtige Handelsstraßen. In der West-Ost-Richtung waren es die Vorläufer der späteren Seidenstraße, in der Nord-Süd-Richtung war es die Verbindung aus dem persisch-arabischen Raum zur nördlichen Steppe über die Pässe des Kaukasus oder – diesen umgehend – an der Küste des Kaspischen oder des Schwarzen Meeres entlang. Die Kontrolle dieser Engpässe war für das Chasarenreich lebensnotwendig.

Als sich im 7. Jh. die Armeen des Kalifats anschickten, über den Kaukasus in die osteuropäischen Steppen vorzudringen, wurden sie von den Chasaren aufgehalten. Die muslimischen Nachbarn im Süden suchten von da an die Chasaren zum Islam zu bekehren. Deren politische Führung wollte sich jedoch nicht einem der beiden benachbarten Kulturkreise anschließen, was durch einen Übertritt zum Islam oder zum Christentum byzantinischer Prägung die notwendige Folge gewesen wäre. Angesichts dessen hatten jüdische Kaufleute und in deren Gefolge reisende Gelehrte die Chance, den Chasaren das Judentum nahezubringen. In der Tat entschloß sich – nach einigen Quellen um 740, nach anderen im 9. Jh. – die chasarische Oberschicht dazu, den jüdischen Glauben anzunehmen. Die Masse der Bevölkerung hing weiterhin Naturreligionen, dem Islam oder dem Christentum an, für das im 9. Jh. die späteren Slavenmissionare Kyrillos und Methodios während einer Missionsreise ins Chasarenreich besonders warben.

Durch das Auftauchen der skandinavischen Normannen bzw. Waräger entstand ein neuer Handelsweg in Nord-Süd-Richtung: „ot varjag do grek“ (von den Warägern zu den Griechen). Die Kaufmanns-Krieger aus dem Norden unterwarfen sich die slavischen Stämme und stellten Expeditionen bis in den Kaukasus oder nach Konstantinopel zusammen. Zumindest am Dnepr’ gerieten sie in einen Konflikt mit den Chasaren, der den Untergang des Chasarischen Reiches gegen Ende des 10. Jhs. zur Folge hatte. Die warägischen Rus’ eroberten 986 die Hauptstadt und rissen die Schlüsselpositionen im Fernhandel an sich. Die jüdische Oberschicht der Chasaren schloß sich den jüdischen Gemeinden auf der Krim, im Kaukasus oder in Innerasien an, wobei es auch Überlieferungen gibt, ursprünglich chasarische Juden hätten sich bis nach Spanien durchgeschlagen.

Die Kiever Rus’

Rus’ war ursprünglich ein Ethnonymikon für die Waräger, das dann auch auf die slavischen Untertanen und schließlich auf das Land Anwendung fand. Formen von Staatlichkeit hatte es sicher schon vor dem legendären Gründungsjahr 861/62 gegeben, aber erst im 9. Jh. war der Fernhandel so ertragreich geworden, daß der Zusammenschluß der einzelnen Territorien von der Ostsee bis tief in die Steppe hinein organisiert und umfassend gesichert werden mußte. Die Oberschicht der Rus’ ging schon nach wenigen Generationen völlig in der bodenständigen Bevölkerung auf.

Die Hauptstadt war Kiev, in dem bereits die ältesten Stadtbeschreibungen ein „židovski vorota“ (Judentor), und ein „židove“ erwähnen. Ob es sich hierbei um einen ganzen jüdischen Stadtbezirk oder nur um einige Kaufmannshöfe handelte, ist unklar und auch umstritten. Angesichts der Tatsache, daß sich in Kiev verschiedene Handelswege kreuzten, darf man annehmen, daß nicht nur chasarische, sondern auch aus Byzanz und Westeuropa stammende jüdische Kaufleute in einer gewissen Anzahl und vor allem auch dauerhaft in der Stadt lebten.

Als sich die Oberschicht der Rus’ zu einer größeren kulturellen Annäherung an einen Nachbarn durch Annahme der dortigen Staatsreligion entschied, wurde die Wahl – wie schon vorher bei den Chasaren – nicht zufällig getroffen. Bei der Rus’ war es Byzanz, das zwar mächtig, aber auch genügend weit entfernt, d.h. nicht in die Rus’ hinein expansiv war. Die relativ späte Christianisierung im Jahr 988 hatte die Übernahme des byzantinischen Kulturmodells zur Folge, das allerdings nicht in seinen über Jahrhunderte gewachsenen Differenzierungen, sondern nur in wesentlichen Zügen „übersetzt“ wurde. Missions- und Kultsprache war slavisch, weshalb die entstehende orthodoxe Kultur der Rus’ „einsprachig“ war. Die Aufwertung des Slavischen zur Schriftsprache hatte sicher vieles für sich. Ein entscheidender Nachteil war jedoch, daß sie nur eine partielle Teilhabe an der europäischen Kultur, wie sie sich im tradierten lateinischen und griechischen Schriftgut sedimentiert hatte, erlaubte, soweit sie eben ins Slavische übersetzt war.

Die orthodoxe Kultur brachte es mit sich, daß man sich für die spätere Geschichte nicht so sehr an die direkten Erfahrungen aus der im großen und ganzen friedlichen Nachbarschaft von Juden und Christen erinnerte, sondern es wurden vielmehr die im Schrifttum tradierten Vorstellungen vom Judentum wirksam. Dieses stammte überwiegend aus der Zeit der frühchristlichen Abgrenzungen. Spätestens seit den christologischen Konzilien galt das Judentum als Häresie, da die Juden Jesus von Nazareth nicht als Messias und Gottessohn bezeugten. In der Rus’ war die Furcht vor Häresien besonders ausgeprägt, da – der fehlenden Sprachkenntnisse wegen – die über Jahrhunderte fortgeschriebene Kriteriologie nicht direkt nachvollziehbar war. Wegen vieler Fragen mußten sich die Bischöfe nach Byzanz wenden.

Die Juden waren jedoch nicht die einzigen und nicht die wichtigsten Häretiker, mit denen sich die theologisch eher ängstlichen ostslavischen Mönche konfrontiert sahen. Die stärkeren Angriffe galten den Lateinern. Angesichts des unaufhaltbar scheinenden Schismas – vollzogen wurde es 1054 – wurden klare Grenzen gezogen. Das Abendmahl mit Azymen statt mit gesäuertem Brot zu feiern, galt als ebenso jüdische wie lateinische Häresie. Die Unterschiede zu den Andersgläubigen, unter ihnen den Juden, wurden in der Literatur sehr deutlich akzentuiert.

Als besonders autorisierte Texte galten dabei die Predigten des Johannes Chrysostomos Adversus Iudaeos, die im 12. Jh. ins Slavische übersetzt worden waren. An ihnen orientierten sich einheimische Homileten, aber es bedurfte ihrer nicht, um aus dem Gegensatz Judentum – Rus’ theologische Funken zu schlagen: Ilarion, der erste Slave auf der Kathedra des Metropoliten von Kiev, verfaßte bereits um 1056 eine Predigt Slovo o zakone i blagodati (Predigt von Gesetz und Gnade), in der er die Paulinische Deutung (Gal 4, 22–31) der Sara-Hagar-Dichotomie (Gen 11–23) auf Judentum und Rus’ überträgt: So wie Hagar Abraham zuerst einen Sohn gebar, dann aber verstoßen wurde, so waren auch die Juden zuerst Gottes Volk, erwiesen sich dann aber dessen nicht würdig und wurden verstoßen. Und wie man neuen Wein nicht in alten Schläuche gieße (Mt 9, 17), so erfreue sich eben das zuletzt missionierte Volk – die Rus’ – der besonderen Zuwendung Gottes. Der Verweis darauf, daß die ersten die letzten und die letzten die ersten sein werden, stellt (erstbekehrte) Juden und (letztbekehrte) Rus’ in ein Spannungsverhältnis, das einerseits eine große Ähnlichkeit (Bewußtsein der Erwählung) impliziert, andererseits aber auch eine klare Konkurrenz und Abgrenzung.

Sieht man von dieser sehr offensichtlichen Indienstnahme bekannter Topoi ab, bleibt der ganze Bereich der unpolemischen Aneignung des Jüdischen: Unter Jaroslav dem Weisen (1019–1054) wurde das Bellum Iudaicum des Iosephus Flavius (über eine Mittlersprache) ins Slavische übersetzt. An ihm orientierten sich die Gattungen der Kriegerzählungen. Andere Texte, wie das biblische Buch Ester und einige nichtkanonische Werke, wurden anscheinend direkt aus dem Hebräischen übersetzt. Reiseberichte von Wallfahrten nach Palästina gaben Kunde vom Heiligen Land.

Byzanz war nicht nur in religiöser und allgemein kultureller Hinsicht das große Vorbild für die Rus’, es war es auch im Politischen. Dennoch hat die Rus’ dieses Ideal nicht in toto übernommen. So war z.B. ihr Rechtssystem eigenständig, wenn auch das christliche Reich byzantinischen Zuschnitts als Ideal wirksam blieb. Die in Byzanz gesetzlich fixierte Benachteiligung der Juden (Ausschluß von bestimmten Ämtern; Verbot, christliche Sklaven zu haben, usw.) war in der Kiever Rus’ daher nicht wirksam. Dort war die Politik anscheinend sehr pragmatisch. Die Chroniken erwähnen die Juden nur ganz selten. Erwähnung finden sie z.B. unter dem Jahr 1113, in dem es nach dem Tod des Großfürsten Svjatopolk in Kiev zu Übergriffen gegen Juden kam, die moderne Historiker in Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um das Salzmonopol bringen. Der neue Großfürst Vladimir Momomach verwies die Juden dann der Stadt.

Die Kiever Rus’ war ein politisch sehr instabiles Gebilde, das nicht erst des Tatareneinfalls im 13. Jh. bedurfte, um zu zerbrechen. Das Senioratsprinzip, das eine hohe Mobilität unter den Fürsten voraussetzt, hat nie richtig funktioniert, und die wirtschaftliche Entwicklung verlief in den einzelnen Fürstentümern sehr unterschiedlich. Zusammengehalten wurde die Rus’ durch das Bewußtsein, einen gemeinsamen Glauben, eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Geschichte, ein kulturelles Erbe zu haben.

(Norbert Franz)

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