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Rußland, Ukraine, Weißrußland, Baltikum (Lettland, Estland) Vorbemerkung

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Ein großer Teil der osteuropäischen Juden lebte über lange Perioden der Geschichte in den Gebieten der Staaten Rußland, der Ukraine, der Belarus’ (Weißrußland), Lettland und Estland. Das Verständnis der politischen und sozialen Entwicklung der Juden Osteuropas entzieht sich aber einer an den Grenzen der noch vergleichsweise jungen Nationalstaaten orientierten Perspektive. Den größten und kulturell wie religiös wohl bedeutendsten Ansiedlungsbereich der Juden Osteuropas stellte das Königreich Polen-Litauen dar, das lange Zeit weite Teile der ukrainischen und weißrussischen Gebiete unter seiner Herrschaft vereinigte. Nach den Teilungen Polens kam der größte Teil der osteuropäischen Judenheit zum Russischen Reich, das bereits im 18. Jh. die heute zu Lettland und Estland gehörenden Territorien Livlands und Kurlands inkorporiert hatte. Die Geschichte der Juden Osteuropas ist durch die politischen und sozioökonomischen Bedingungen in diesen Vielvölkerreichen nachhaltig beeinflußt worden.

Einige wichtige Zentren der osteuropäischen Judenheit, wie z.B. Galizien, die Bukowina oder die Karpatho-Ukraine, können in diesem Beitrag nicht behandelt werden, auch wenn sie heute teilweise Bestandteil des ukrainischen Staates sind. Die Geschichte der Juden in diesen Regionen, die lange Zeit zum Habsburgerreich (Galizien: 1772–1918; Bukowina: 1775–1918) gehörten, wird in anderen Länderartikeln ausführlich berücksichtigt. Zudem unterschieden sich die für die Juden relevanten staatsrechtlichen und politischen Bedingungen im Habsburgerreich in mancher Hinsicht von denen im Zarenreich. Ähnliches gilt für das seit dem Wiener Kongreß mit dem Zarenreich verbundene Königreich Polen („Kongreßpolen“), das trotz seiner im Laufe der Zeit immer engeren Anbindung an das Zarenreich stärker als die früheren Ostgouvernements Polen-Litauens den Charakter eines Gebietes eigener Art bewahrte und ebenfalls im Artikel zu Polen-Litauen Erwähnung findet.

Der in historischen Darstellungen für die Juden Osteuropas häufig verwendete Begriff des „Ostjudentums“ wird hier weitgehend vermieden. Der Begriff wurde 1903 erstmals von Nathan Birnbaum benutzt. Er sollte den in seinem Volk und in den Traditionen verwurzelten Juden von dem assimilierten Juden westeuropäischen Typs abgrenzen. In der historiographischen Literatur lebt der Terminus fort, häufig allerdings als Oberbegriff für die Juden Osteuropas verwendet, oder er bezeichnet eine besondere Form jüdischer kultureller Identität, die sich im 18. Jh. innerhalb der Judenheit Osteuropas u.a. auf der Grundlage der Frömmigkeitsbewegung des Chassidismus und der Ausbildung einer eigenständigen Sprache, des Ostjiddischen, herausgebildet habe. Die Gründe für die weitgehende Vermeidung des Begriffs „Ostjuden“ liegen zum einen darin, daß in diesem Artikel nur am Rande auf die Lebenswelt der Juden in Polen-Litauen – dem eigentlichen Kerngebiet des „Ostjudentums“ – eingegangen wird. Wichtiger aber noch ist die Einsicht, daß ein einheitlicher Begriff auch eine weitgehende kulturelle Identität suggeriert, die aber angesichts der Vielfalt, die die Judenheit Osteuropas vor allem im 20. Jh. kennzeichnet, kaum plausibel bestimmt werden kann.

Für antijüdische Maßnahmen und Einstellungen bis in die Zeit des ersten Drittels des 19. Jhs. werden grundsätzlich die Begriffe „antijüdisch“ oder „judenfeindlich“ verwendet, da der Begriff des Antisemitismus vor allem mit ideologischen Strömungen verbunden ist, die ihrerseits in engem Zusammenhang mit Industrialisierung und den politischen Strukturen der Massengesellschaft standen, die zum Ende des 19. Jhs. aufkamen.

Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa

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