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Österreich nach 1918 1918–1938

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Das Ende des Ersten Weltkrieges und der Zusammenbruch des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn hinterließ im Reststaat der Ersten Österreichischen Republik eine exponierte jüdische Minderheit in einem mehrheitlich deutschsprachigen und katholischen Land. Die Trennung von den bisherigen Herkunftsgebieten, vor allem Galizien, Ungarn, Böhmen und Mähren, hatte auch soziale Konsequenzen. Mehr als 90 % der österreichischen Juden lebten nun in der Hauptstadt Wien und von ihnen waren wiederum mehr als 60 % in anderen Ländern als der Republik Österreich geboren worden.

Lediglich jener von Ungarn abgetretene Teil Westungarns, der den Namen Burgenland annahm, konnte auf die weit zurückreichende Tradition einer friedlichen Koexistenz von mehrheitlich orthodoxen Juden mit der nichtjüdischen Bevölkerung verweisen. Abgesehen von Enklaven wie dem vorarlbergischen Hohenems hatten ansonsten bis ins 19. Jh. in den übrigen Provinzen Ansiedlungsverbote für Juden gegolten. Lediglich die nach 1848 enorm angewachsene jüdische Gemeinde Wiens hatte mit ihrem Anteil von ca. 10 % an der Gesamtbevölkerung eine auch politisch relevante Dimension erreicht.

Mit dem Verlust der Kronländer fiel das frühere Reservat der Zuwanderung weg. Da in den Provinzen der jungen Republik nur wenige Juden lebten, litt die in ihrer Zahl abnehmende Wiener Gemeinde unter der ausbleibenden Zuwanderung und der allmählich einsetzenden Überalterung. Einen letzten Zustrom hatte sie von Flüchtlingen aus Galizien und der Bukowina im Ersten Weltkrieg erhalten, von denen ca. 25.000 in Wien blieben. Sie waren in den politisch brisanten Nachkriegsjahren Zielscheibe der Antisemiten aller Couleurs. Selbst die Sozialdemokratie kam der xenophoben Stimmung entgegen und forderte die ostjüdischen Flüchtlinge wiederholt zum Verlassen Österreichs auf.

Der Antisemitismus konnte in Österreich bereits auf eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte zurückblicken. Obwohl in der Ersten Republik das allgemeine Wahlrecht die Hegemonie der antisemitischen Christlich-Sozialen in Wien brach und mit der sozialdemokratischen Stadtregierung die Ära des „Roten Wien“ ermöglichte, konnten die Antisemiten auf Bundesebene ab 1919 die Regierungen in Koalitionen von Christlich-Sozialen und diversen deutschnationalen Parteigruppierungen majorisieren. Abgesehen von ihrem Kampf gegen das „Rote“ und das „Jüdische Wien“ ballte sich fast die gesamte deutschnationale Energie des in der Monarchie wütenden Nationalitätenkampfes gegen die Juden innerhalb der Landesgrenzen. Besonders die in den Landeshauptstädten und Landgemeinden lebenden Juden bekamen dies zu spüren. In Wien, wo knapp zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung in aneinander angrenzenden Bezirken lebten (Innere Stadt, Leopoldstadt, Brigittenau und Alsergrund), gewährte dieses kompakte Zusammenleben hingegen Schutz gegenüber einer feindlich gesinnten Umwelt. Andererseits war es kaum möglich, der antijüdischen Stimmung zu entrinnen. Häufig sind Berichte von Übergriffen in den Schulen überliefert, und nach wie vor blieb der katholische Antijudaismus mit seinem Bild von den uneinsichtigen Juden und den Juden als „Christus-Mördern“ ein maßgeblicher Faktor für die antisemitische Sozialisation. Berüchtigt waren die tätlichen antisemitischen Ausschreitungen an den Universitäten, die auch deswegen gewalttätig eskalierten, weil der Polizei der Zutritt zum Universitätsgelände untersagt war. Erschreckend nahm die Gewaltbereitschaft der Antisemiten zu: Der Journalist und Autor des Romanes Stadt ohne Juden, Hugo Bettauer, starb im März 1925 an den Folgen eines Attentates.

Nur wenige Bereiche des öffentlichen Lebens blieben von der Gehässigkeit des Antisemitismus verschont. Nach wie vor zehrte Österreich von der außerordentlichen Kreativität jüdischer Kulturschaffender, von denen freilich viele zur jüdischen Religion in Distanz standen. Dies gilt für den Bereich der Wissenschaft, der Hochkultur – man denke etwa an die Literaten Stefan Zweig, Franz Werfel, Karl Kraus, Arthur Schnitzler und Richard Beer-Hofmann – und ebenso für jenen der Unterhaltungskultur, etwa mit Hermann Leopoldi in Kabarett und Wienerlied.

Das soziale jüdische Leben hatte im damaligen Österreich, vor allem in Wien, einen regen Aufschwung zu verzeichnen, und es wurden unzählige Vereine neu gegründet. Die publikumswirksamsten Erfolge erzielte der Sportklub Hakoah, dessen mit einem Davidstern antretende Sportler in etlichen Sparten, etwa dem Ringen und Schwimmen, österreichische Meistertitel erzielten. Legendär wurde Hakoah vor allem durch den Gewinn der österreichischen Fußballmeisterschaft in der Spielsaison 1924/25. Hakoah war einer der vielen Versuche, das Selbstbewußtsein der jüdischen Jugend zu heben und dem Klischee von den körperlich schwachen Juden zu begegnen. Mit der Eröffnung eines jüdischen Privatgymnasiums 1919, das später den Namen Chajes-Realgymnasium erhielt und auch heute wieder besteht, gelang es, eine wichtige Institution für die Heranbildung der jüdischen Jugend zu installieren.

Das Gemeindeleben blühte einerseits auf, andererseits war es vom Zerfall in einzelne Fraktionen und Richtungen gekennzeichnet. Da die österreichische Gesetzgebung die Juden einer Region jeweils in einer Kultusgemeinde zusammenfaßte, mußte diese die Spannungen zwischen Orthodoxie, Chassiden, Reformorientierten und Säkularen aushalten. Lediglich die kleine sephardische Gemeinde konnte einen quasi-autonomen Status für sich in Anspruch nehmen.

Mit dem ab 1918 eingesetzten Oberrabbiner Zwi Perez Chajes (1876–1927) fand die Wiener Kultusgemeinde einen allgemein anerkannten Gelehrten, der auch innerhalb der internationalen zionistischen Bewegung hohes Ansehen genoß. Die Orthodoxen rund um die Schiffschul und die Agudas Jisroel versuchten dem ungarischen Vorbild zu folgen und die Klammer der Kultusgemeinde zu sprengen, allerdings ohne Erfolg. Lediglich im Burgenland bestanden die noch in ungarischer Zeit gegründeten orthodoxen und neologischen Gemeinden fort. Niederösterreich hatte mit 15 die größte Zahl an „Israelitischen Kultus gemeinden“, gefolgt vom Burgenland mit zehn und Oberösterreich mit zwei. In allen anderen Ländern bestand jeweils nur eine Kultusgemeinde.

Politisch wurde das jüdische Gemeindeleben anfangs von der liberalen Fraktion der „Union deutsch-österreichischer Juden“ bestimmt. Damit lebte der Liberalismus in einem kleinen gesellschaftlichen Segment fort, während er auf allgemein-politischer Ebene bereits mit dem Entstehen der Republik in die Bedeutungslosigkeit herabsank. Erst die Wiener Kultusgemeindewahlen Ende 1932 signalisierten mit dem Sieg der zionistischen Fraktionen eine Trendwende. Angesichts der Schwäche der linksgerichteten, sozialdemokratischen und orthodoxen Fraktionen kann diese Entwicklung auch als ein Hinwenden zur einzigen noch offenen politischen Option interpretiert werden. Andererseits zeigt sich darin auch die Polari sierung innerhalb der österreichischen und europäischen Gesellschaft. Spätestens der Erfolg der Nationalsozialisten in Deutschland signalisierte den Mißerfolg des auf Integration und kulturelle Assimilation abzielenden Konzepts des Liberalismus.

Der bekannteste innerhalb des jüdischen Lebens engagierte Politiker war der Zionist Robert Stricker, der in der Provisorischen Nationalversammlung sogar kurze Zeit ein Mandat innehatte. Außerhalb des jüdischen Gemeindelebens nahmen jüdische Politiker vor allem in der Sozialdemokratie wesentliche Positionen ein, allen voran der Theoretiker des Austromarxismus, Otto Bauer.

Der Zusammenbruch der demokratischen Kultur im Bürgerkrieg 1934 und der darauffolgende Austrofaschismus hatten mit dem Verbot der Sozialdemokratie die einzig relevante Kraft Österreichs, die den Antisemitismus weitgehend abgelehnt und ihre Reihen Politikern jüdischer Herkunft geöffnet hatte, aus dem politischen Leben verbannt. Das Verbot sozialdemokratischer Organisationen im Austrofaschismus traf die Jüdische Gemeinde jedoch nur begrenzt. Bei den Kultusgemeindewahlen lagen die Stimmenanteile der Sozialdemokraten zwischen 10 % und 15 %, d.h., sie nahmen keine führenden Funktionen ein.

Die Vertreter der Orthodoxie erhofften sich von der Maiverfassung 1934 eine Hinwendung zu theokratischen Prinzipien und somit einen Aufschwung ihrer Anliegen. Auch die anderen Fraktionen arrangierten sich mit der neuen Nomenklatur. Mit dem „Bund Jüdischer Frontsoldaten“ nahm eine Vereinigung einen beträchtlich Aufschwung, die sich dem Österreich-Patriotismus verpflichtet fühlte. Obwohl der Antisemitismus ein Programmpunkt der herrschenden Christlich-Sozialen geblieben war, stellte die neue Verfassung das Prinzip der Gleichberechtigung nicht in Frage. Im Gegenteil: Mit der Aufnahme jüdischer Funktionäre in wichtige Funktionen signalisierten die Austrofaschisten Kooperationsbereitschaft. Der Präsident der Wiener Kultusgemeinde, der Zionist Desider Friedmann, erhielt die wichtige Position eines Staatsrates. Je aggressiver der Antisemitismus in Hitler-Deutschland ausuferte, um so mehr war man auf den Schutz der Austrofaschisten angewiesen – eine bizarre Situation.

Trotz der Kooperation setzte sich der Siegeszug des Antisemitismus ungehemmt fort. Praktiken, die zuvor als charakteristisch für den osteuropäischen Numerus-clausus-Antisemitismus galten, machten sich breit. Beispielsweise wurden jüdische Jungärzte benachteiligt, jüdische Spitalsärzte wurden 1934 unter dem Vorwand früherer sozialdemokratischer Betätigung entlassen.

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