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Vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg
ОглавлениеIn der ersten Hälfte des 18. Jhs. kamen zahlreiche jüdische Einwanderer nach Ungarn. Viele von ihnen siedelten sich auf den Landgütern von Gutsherren an, wo sie Teile des Grundbesitzes pachteten, verschiedene Gewerbe-, Dienstleistungs- und Handelstätigkeiten ausübten und als Gegenleistung für den gewährten Schutz Abgaben zahlten. Die Ursache für diese Zuwanderung waren in erster Linie die 1726 von Karl VI. für die österreichischen Provinzen erlassenen sogenannten Familiantengesetze, nach denen in jeder jüdischen Familie nur ein männliches Mitglied eine rechtsgültige Ehe eingehen und Ansässigkeit erhalten konnte. Viele der dortigen Juden, vor allem aus Böhmen und Mähren, wanderten daher nach Ungarn aus.
Als Galizien mit seinem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil nach der ersten Polnischen Teilung im Jahr 1772 Teil der Habsburgermonarchie geworden war, nahm die Zuwanderung von Juden nach Ungarn noch einmal stark zu. Waren bei der ersten nationalen Erfassung der Juden in Ungarn im Jahr 1735 noch 11.621 Personen gezählt worden, wobei 35 % der Familienoberhäupter Ungarn als Geburtsort angaben, so waren es laut einer auf Befehl Kaiser Josephs II. im Jahr 1787 durchgeführten Registrierung bereits 83.000. Selbst wenn man berücksichtigt, daß die Zahl der ungarischen Juden 1735 wahrscheinlich höher lag als die angebenen 11.621 Personen, da die Zählung nicht in jedem Komitat (Verwaltungsbezirk) durchgeführt wurde, ist der Zuwachs doch beträchtlich. Bei der Volkszählung von 1825 wurden 193.000 Juden gezählt, bei der von 1840 239.000. 1857 lebten 410.000 Juden auf dem Gebiet des ungarischen Staates (4 % der Gesamtbevölkerung), 1880 waren es 624.737 (4,4 %) und 1910 909.531 (ca.5 %).
Unter der Herrschaft Maria Theresias wurden die Juden 1746 auf ein Gesuch der Bürger von Ofen hin aus der Stadt ausgewiesen und konnten sich erst 1783 wieder hier ansiedeln. Maria Theresia führte 1749 auch die sogenannte Duldungssteuer ein, die die Juden für die Duldung ihres bloßen Daseins an die Reichskasse zu zahlen hatten. Die Höhe dieser Steuer stieg ständig. Während der Gesamtbetrag 1749 noch 20.000 Forint betrug, lag er 1813 schon bei 160.000 Forint.
Die Herrschaft Josephs II. veränderte das Leben des ungarischen Judentums entscheidend. Sein Toleranzedikt von 1781 und seine Systematica Gentis Judaicae Regulatio von 1783 garantierten den Juden das Recht der Freizügigkeit (mit Ausnahme der Bergbaustädte), hoben die bestehenden beruflichen Beschränkungen vollständig auf und schafften die demütigende Verpflichtung zum Tragen eines Kennzeichens ab. Um den Gebrauch des Hebräischen und Jiddischen unter der jüdischen Bevölkerung zu beschränken und den der deutschen Sprache zu fördern, wurde die Einrichtung deutsch-jüdischer Schulen unter staatlicher Kontrolle angeordnet. Auch wurde den Juden der Besuch der christlichen Schulen und der Universitäten gestattet. 1787 verordnete Joseph II. außerdem, daß jeder Jude, der bis dahin keinen Familiennamen getragen hatte, ab Januar 1788 verpflichtet war, einen deutschen Familiennamen anzunehmen. Nach dem Tod des Kaisers versuchten die Städte, einige der früheren die Juden betreffenden Beschränkungen wiederzubeleben. Dies wurde jedoch von der Krone und vom ungarischen Parlament verhindert.
Während der Parlamentssitzungen der Jahre 1839/40 wurde die Forderung erhoben, die Duldungssteuer abzuschaffen, das Judentum als gleichberechtigte Religionsgemeinschaft anzuerkennen und die Juden den nichtadeligen Bewohnern des Landes gleichzustellen. Der kaiserliche Hof stimmte dieser Forderung jedoch nicht zu. Dennoch ist das Gesetz Nr.29 aus dem Jahr 1840 als Fortschritt zu betrachten, da es den Widerwillen der Städte gegen die Ansiedlung von Juden endgültig brach (mit Ausnahme der oberungarischen Bergbaustädte) und den Juden die Gründung von Firmen, die freie Gewerbetätigkeit und den Erwerb von städtischen Immobilien ermöglichte. Ferdinand I. schaffte 1846 die schon lange nicht mehr gezahlte Duldungssteuer ab.
Die von Joseph II. ausgelösten Veränderungen spalteten auch in Ungarn die Einheit der traditionellen jüdischen Gemeinschaft. Durch die Vermittlung des Arader Rabbiners Aaron Chorin gelangten zu Beginn des 19. Jhs. die Haskala und das Gedankengut der Reform auch hierher. 1827 wurde der „Cultustempel“ der Pester Gemeinde eröffnet, in dem die Ideen der Reform umgesetzt werden sollten. Ebenfalls zu Beginn des 19. Jhs. wurde eine der größten Persönlichkeiten der Orthodoxie, Moses Sofer (Chatam Sofer), an die Spitze der traditionsreichen Preßburger Gemeinde und Jeschiwa gewählt. Zu dieser Zeit gewann mit Rabbiner Moses Teitelbaum aus Sátoraljaújhely auch der Chassidismus an Einfluß.
Als Reaktion auf die vom Parlament diskutierte Emanzipation der Juden und das Gesetz aus dem Jahr 1840 wurde die Idee der „Ungarisierung“ in den Reihen des ungarischen Judentums begeistert aufgenommen. Auf Initiative der Pester Israelitischen Gemeinde entstand 1842 der „Magyar Izraelita Kézmû- és Földmûvelésügyi Egyesület“ (Ungarischer Israelitischer Handwerks- und Ackerbauverein), der neben der Pflege der ungarischen Sprache auch die Verbreitung der verschiedenen Handwerks- und Gewerbetätigkeiten sowie des Ackerbaus unter den Juden anstrebte.
Während der ungarischen Revolution von 1848 flammte der Antisemitismus wieder auf. In den ersten Wochen der Revolution kam es in Preßburg, in Pest und in anderen Städten zu antisemitischen Unruhen. Im April wurde dann die Aufnahme der Juden in die Nationalgarde ausgesetzt. Die antisemitische Stimmung war auch dafür verantwortlich, daß die Emanzipation der Juden in die von der revolutionären Gesetzgebung verfaßten sogenannten April-Gesetzen des Jahres 1849 nicht aufgenommen wurde. Dennoch unterstützte die Mehrheit des ungarischen Judentums begeistert die Revolution und den nationalen Freiheitskampf gegen die habsburgische Herrschaft. An ihm beteiligten sich etwa 20.000 jüdische Soldaten. Um dies anzuerkennen, wurde am 28. Juli 1849 im Parlament zu Szeged das Gesetz über die Emanzipation der Juden verabschiedet. Dieses trat jedoch nach dem Sturz der revolutionären Regierung nicht mehr in Kraft.
Nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstands waren von den habsburgischen Vergeltungsmaßnahmen auch die Juden betroffen. Viele emigrierten, andere kamen ins Gefängnis. General Haynau verpflichtete die ganze jüdische Gemeinschaft, Kontributionen zu zahlen. Kaiser Franz Joseph I. senkte 1850 die geforderte Summe und bestimmte, daß davon ein Unterrichtsfonds eingerichtet werden sollte. Diese Maßnahme stellte einen von mehreren Schritten zur weiteren Säkularisierung des jüdischen Schulwesens dar. Jede Gemeinde wurde zudem verpflichtet, eine öffentliche Grundschule einzurichten, in der das Lehrmaterial vom Staat bestimmt wurde. Diese Grundschulen sollten die traditionellen jüdischen Schulen, die Chedarim, ablösen. 1857 wurde die aus den Mitteln des Fonds aufgebaute „Országos Izraelita Tanítóképzô Intézet“ (Israelitische Landeslehranstalt) eröffnet. Durch den Entzug der politischen Rechte verschwand der noch verbliebene gemeinrechtliche Charakter des jüdischen Gemeinwesens, und die jüdischen Gemeinden wurden erst in dieser Zeit zu reinen Glaubensgemeinschaften.
Die Lage der Juden änderte sich erst, als die europäische Machtposition der Habsburgermonarchie geschwächt wurde. Die Verordnungen des Kaisers von 1859 und 1860 genehmigten es den Juden wieder, christliche Diener und Mägde zu beschäftigen, schafften die Verpflichtung der Juden ab, vor einer Eheschließung die Genehmigung der Obrigkeiten einzuholen, gestatteten den Juden jegliche Gewerbetätigkeit für Juden, und erlaubten ihnen auch die Ausübung früher verbotener Tätigkeiten wie der Pharmazie, der Schankwirtschaft, der Schnapsbrennerei usw. Auch die Tore der oberungarischen Bergbaustädte standen den Juden nun offen, und es war ihnen jetzt erlaubt, Immobilien im gesamten Reichsgebiet zu erwerben.
Im Jahr des „Ausgleichs“ (1867), unmittelbar nach der Entstehung der österreich-ungarischen Doppelmonarchie wurde das Gesetz über die Emanzipation der Juden im ungarischen Parlament verabschiedet. Das Gesetz Nr. 17 von 1867 garantierte die Gleichstellung der Juden in bürgerlicher und politischer Hinsicht. Das Gesetz definierte das Judentum als Religionsgemeinschaft, die allerdings den christlichen Konfessionen nicht gleichgestellt war. Dies geschah erst 1895 durch das „Rezeptionsgesetz“. Erst jetzt war die Heirat zwischen Juden und Christen erlaubt und die Konversion von Christen zum Judentum möglich.
Kurze Zeit nach der Verabschiedung des Emanzipationsgesetzes begann der Kultusminister József Eötvös, der sich auch um die Anerkennung der jüdischen Gemeinden als gleichberechtigte Religionsgemeinschaften bemüht hatte, mit den Vorbereitungen für einen jüdischen Landeskongreß. Das Ziel des Kongresses war es, eine Landesorganisation der jüdischen Gemeinden zu schaffen, die über die inneren Angelegenheiten des Judentums selbst entscheiden konnte. Der Plan stieß auf den heftigen Widerstand der Orthodoxie, und die im Jahr 1868/69 zusammengerufene israelitische Landesversammlung endete mit Mißerfolg. Zwar gründeten die auf dem Kongreß anwesenden reformorientierten Kräfte, die „Neologen“, eine Landesorganisation, aber die Orthodoxen lehnten jede Beteiligung daran ab. Sie gründeten 1871 vielmehr eine selbständige Organisation. Hierdurch spaltete sich das ungarische Judentum in mehrere Gruppen auf. Neben den „Neologen“ und den „Orthodoxen“ existierten die sogenannten „Status quo ante-Gemeinden“, die sich, ebenso wie die chassidische Gemeinschaften, keiner der beiden Richtungen anschlossen. Im Laufe der Zeit entwickelte sich die reformorientierten Richtung zur stärksten Kraft: Sie dominierte das 1877 eröffnete und nach Kaiser Franz Joseph I. benannte Landesrabbinerseminar, und 1910 gehörten bereits 43,1 % der ungarischen Juden neologen Gemeinden an.
Obwohl es auch im Ungarn des ausgehenden 19. Jhs. deutliche antisemitische Strömungen gab – 1882 erregte ein Prozeß um eine Ritualmordbeschuldigung in Tiszaeszlár, der mit einem Freispruch der angeklagten Juden endete, die Öffentlichkeit und setzte judenfeindliche Emotionen frei, und ein Jahr später wurde die Antisemitische Landespartei (Országos Antiszemita Párt) gegründet –, wird doch die Periode zwischen der Emanzipation und dem Ersten Weltkrieg gewöhnlich als das „goldene Zeitalter“ des ungarischen Judentums bezeichnet. In dieser Zeit trieb der von liberalen Adeligen geführte Staat die rasche Modernisierung des Landes voran und unterstützte die Teilnahme der Juden an dieser Entwicklung. Die Folge waren ein schneller gesellschaftlicher Aufstieg und die rasche Assimilation zahlreicher Juden. Ein weiteres Kennzeichen dieser Zeit war die Urbanisierung des ungarischen Judentums. Während 1825 nur 8 % der Bevölkerung von Pest und Buda Juden waren, stieg dieser Prozentsatz bis 1880 auf 14,6 % und bis 1910 auf 23,1 %. In diesem Jahr lebten 203.687 Juden in Budapest.
Von der gesellschaftlichen Mobilität der Juden zeugen die Bildungs- und Beschäftigungsstatistiken. 1910 beendeten 5,9 % der Juden die achte Oberschulklasse (Landesdurchschnitt: 1,3 %). Im Jahr 1880 waren 20 %, im Jahr 1900 25 % und im Jahr 1910 29 % aller ungarischen Studenten jüdisch. Während der Prozentsatz der Juden unter den staatlichen Beamten oft nur knapp ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung erreichte, waren 1910 12,4 % der Industrieunternehmer, 54 % der Kaufleute, 85 % der selbständig im Finanzwesen Tätigen, 13 % der Freiberuflichen, 42,2 % der Journalisten, 48,9 % der Ärzte und 42,5 % der Anwälte Juden.
Für den Fortschritt der Assimilation war die Verbreitung des Ungarischen unter der jüdischen Bevölkerung kennzeichnend. Während 1880 nur 5 % der Juden Ungarisch als ihre Muttersprache bezeichneten, waren es 1910 landesweit 77 % und in Budapest sogar 90 %. Nach 1895 nahm auch die Zahl der Mischehen zwischen Juden und Nichtjuden zu: Im Jahr 1900 waren 6 % der von Juden geschlossenen Ehen Mischehen, im Jahr 1910 bereits 9,7 %.