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Die soziale, berufliche und nationale Gliederung des tschechoslowakischen Judentums

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Der Zusammenschluß von zuvor politisch, territorial und kulturell verschiedenen Gebieten in der Ersten Tschechoslowakischen Republik hatte, wie bereits angedeutet, dazu geführt, daß die jüdische Gemeinschaft in sprachlicher, kultureller, sozialer und beruflicher Hinsicht eine sehr heterogene Struktur aufwies. Zum einen gab es die böhmisch-mährischen Juden, die dem österreichisch-deutschen Kulturkreis angehört hatten und von denen viele seit dem 19. Jh. einen Prozeß der sekundären Akkulturation an ihre tschechische Umgebung durchlaufen hatten. In den zwei Jahrzehnten der Ersten Tschechoslowakischen Republik zwischen 1918 und 1938 beschleunigte sich dieser Akkulturationsprozeß und erreichte zur Zeit der Ausrufung des von Hitler oktroyierten Protektorats Böhmen und Mähren (15. März 1938) seinen Höhepunkt. In den polnischen Minderheitsgebieten Nordostmähren und Schlesien machte sich dagegen der Einfluß des polnischen Judentums bemerkbar. In den westlichen Teilen der Slowakei waren nach wie vor die ungarischen Traditionen lebendig, während in der Ostslowakei und der angrenzenden Karpato-Ukraine das galizische Judentum dominierte.

Auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen waren grundverschieden. Während die jüdische Bevölkerung im Osten vorwiegend auf dem Land lebte und die Beschäftigungsquote unter ihnen gering war, konzentrierten sich die im Westen des Landes lebenden Juden auf die industriellen urbanen Zentren Böhmens und Mähren-Schlesiens. In Böhmen waren allein 46,4 % der dortigen Juden in Groß-Prag ansässig, in Mähren konzentrierten sich 57 % der Bevölkerung auf die Großbezirke Brünn, Ostrau und Olmütz-Stadt. Der Urbanisierungsprozeß des in den westlichen Landesteilen lebenden Judentums, der sich in diesen Zahlen ausdrückt, hatte sowohl wirtschaftliche als auch kulturelle Gründe. Während auf dem Land die wirtschaftliche Konkurrenz der nichtjüdischen Bevölkerung in Kleinhandel und Kleingewerbe immer weiter zunahm, besaßen jüdische Kaufleute im Großhandel, der Großindustrie und dem Finanzwesen der Städte eine deutliche Dominanz. Auch waren die Bildungschancen und die mit ihnen verbundenen Aufstiegsmöglichkeiten sowie die Angebote für wissenschaftliche, kulturelle und literarische Betätigungen in den Städten erheblich breiter als auf dem Land. Schließlich trieb auch der auflodernde Antisemitismus, der sich in den ländlichen Gebieten stärker bemerkbar machte, die Abwanderung der Juden in die Städte voran.

Einen Überblick über die Verteilung der jüdischen Bevölkerung über die einzelnen Landesteile vermitteln die Ergebnisse der Volkszählungen von 1921 und 1930.3

Die nachstehende Tabelle macht deutlich, daß die Zahl der Juden in Böhmen und Mähren im dritten Jahrzehnt des 20. Jhs. abnahm, während sie in der Karpato-Ukraine deutlich anstieg. Dies weist auf die Bedeutung des karpato-ukrainischen Judentums für die Erhaltung des tschechoslowakischen Judentums hin. Insgesamt nahm die jüdische Bevölkerung in der Tschechoslowakei in absoluten Zahlen leicht zu. Da jedoch die Gesamtbevölkerung im selben Zeitraum ein schnelleres Wachstum zu verzeichnen hatte, sank der jüdische Bevöl kerungsanteil von 2,6 % auf 2,42 %.

Politisch stellten die nationalen Spannungen im neugegründeten tschechoslowakischen Staat, insbesondere der latente Antisemitismus, die jüdische Bevölkerung vor zwei grundsätzliche Alternativen: Assimilation oder Zionismus. Die meisten böhmischen Juden wählten den Weg der Assimilation, und zwar, wie bereits dargestellt, an den tschechischen Kulturkreis. Nach der Staatsgründung gewann jedoch auch die zionistische Idee an Bedeutung. Die böhmischen Zionisten betonten die eigenständige Nationalität des Judentums, sahen jedoch die sprachliche Assimilation an die Umgebungsgesellschaft als eine Sache des Taktes an.


Der religiöse Bereich war geprägt von dem Gegensatz zwischen den Anhängern der von Deutschland ausgehenden religiösen Reformbewegung des Judentums, den „Neologen“, und den Orthodoxen, die streng an der überlieferten religiösen Weltanschauung und den tradierten Lebensformen festhielten. Die Orthodoxen dominierten vor allem im Osten der Republik, während die Neologen vor allem in den westlichen Teilen des Landes einschließlich der urbanen Zentren Prag und Brünn zu finden waren.

Eine zentrale Rolle im jüdischen Leben spielten die Kultusgemeinden. Neben ihrer religiösen Funktion besaßen sie eine beträchtliche soziale und kulturelle Bedeutung. Sie stellten freie Vereinigungen dar, die sich in der Regel in eine der beiden eben beschriebenen religiösen Richtungen orientierten. Der Dachverband der jüdischen Kultusgemeinden in den westlichen Landesteilen war der „Oberste Rat der israelitischen Kultusgemeinden in Böhmen, Mähren und Schlesien“, der vom Schulministerium 1927 als höchste Verwaltungseinheit offiziell genehmigt wurde. In der Slowakei wurden zwei Spitzenorganisationen offiziell anerkannt: der „Verband der orthodoxen israelitischen Kultusgemeinden“ und der „Verband der israelitischen Kultusgemeinden Jeschurun“ als Dachorganisation der Neologen.

Die nationalbewußten Juden sahen in diesen Organisationen ein wirkungsvolles Mittel zur Wahrung ihrer nationalen und religiösen Anliegen. Auf der Konferenz des „Jüdischen Nationalrats“ am 5. und 6. Januar 1919 wurde auch die Gründung der „Jüdischen Partei“ beschlossen. Diese Parteigründung bedeutete einen wichtigen Schritt für die Anerkennung der politischen Rechte der Juden in der Ersten Republik. Daß sie dennoch ohne parlamentarische Vertretung blieben, war nicht zuletzt eine Folge interner Zwistigkeiten. Vor allem aber fehlte es der Partei an Wählern, da die assimilierten Juden ihre Stimme eher einer der etablierten tschechischen, slowakischen oder deutschen Parteien gaben. Die Orthodoxen bekämpften die „Jüdische Partei“, weil sie ihre religiösen Anliegen nicht deutlich genug artikulierte. Erst bei den Parlamentswahlen von 1929 und 1935 konnte die „Jüdische Partei“ geringe Erfolge verbuchen.

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