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Alpenländer2
ОглавлениеDas Wiener Ghetto
Wegen des ständiges Ausweisungsdrucks waren die Juden in der frühen Neuzeit der Willkür und dem Gutdünken der lokalen Herrscher ausgeliefert, unter deren Schutz sie standen. Es kam allerdings nicht mehr zur willkürlichen Massenermordung von Angehörigen einer Gemeinde wie noch in der Wiener Gesera (Verordnung) des Jahres 1420/21, als diejenigen Juden Wiens, die nicht gewillt waren, ihrem Glauben abzuschwören, gefoltert und verbrannt wurden, nachdem sie kollektiv einer vermeintlichen Hostienschändung beschuldigt worden waren. Im 16. und frühen 17. Jh. häuften sich die Ausweisungsdekrete in den Alpenländern, doch die jüdische Bevölkerung konnte sich immer wieder dagegen wehren bzw. kehrte bald nach der Vertreibung wieder zurück.
Der Chronist der jüdischen Geschichte Wiens, Gerson Wolf, bezeichnet die Regentschaft Ferdinands II. (1578–1637, Kaiser seit 1619) als „verhältnismäßig günstig“. Im ausgehenden 16. Jh. hatte die Zahl der Juden in Wien abermals zugenommen, da sie als „hofbefreite Juden“ zur Finanzierung der kostspieligen Hofhaltung und der Kriege beitragen sollten. Diese privilegierte Schicht konnte den Wohnort innerhalb der Stadt frei wählen und mußte auch nicht das Judenzeichen tragen. Im Dreißigjährigen Krieg waren die Juden Wiens Übergriffen von seiten des Pöbels und der Soldaten ausgesetzt. Der Magistrat und die Stände versuchten wiederholt, die jüdischen Konkurrenten, die inzwischen nicht nur wichtige Positionen im Handel und Großhandel, als Heereslieferanten und Geldgeber erlangt, sondern auch im Münz- und Prägebetrieb ökonomischen Einfluß erworben hatten, zu schwächen bzw. ausweisen zu lassen. 1625 kam Ferdinand II. dem Druck der Judenfeinde entgegen und ordnete die Übersiedlung der Juden in ein Gebiet namens „Untern Wörth“ an. Das unwirtliche Ghetto lag an der Peripherie, im heutigen Wiener Stadtbezirk Leopoldstadt, und es war damals durch die Donau von der Stadt getrennt. Dieser Bezirk ist bis in die Gegenwart das Zentrum der jüdischen Ansiedlung in Wien geblieben. Die Juden mußten nun im neu eingerichteten Ghetto leben, konnten jedoch ihre Geschäfte weiterhin in der Stadt betreiben. Das ursprünglich 14 Häuser umfassende Ghetto expandierte und erreichte am Ende seines 45jährigen Bestehens eine Zahl von 136 Gebäuden. Darunter befanden sich drei Synagogen, Schulen, ein Kerker und ein Spital. Um 1660 wohnten im Ghetto bereits 500 Familien auf engstem Raum zusammengepfercht.
Vertreibung und Wiederansiedlung
Die Juden zu bekehren blieb eines der Ziele jener Zeit. Ein Versuch, die jüdischen Ghettobewohner durch den verordneten allwöchentlichen Besuch einer katholischen Messe von ihrem Glauben loszulösen, scheiterte am passiven Widerstand, etwa dem demonstrativen Schlafen während der Predigten. Kirchenkreise, Kaufleute und Magistrat der Stadt ließen nie locker, die Ausweisung der Juden zu fordern.
Die Lage spitzte sich Ende der sechziger Jahre des 17. Jhs. zu. Der in jungen Jahren zur Regentschaft gelangte, zutiefst religiöse Kaiser Leopold I. (1640–1705, Kaiser seit 1658) vermählte sich mit der spanischen Infantin Margarethe Theresia. Da sie aus einem Land kam, in dem Juden nicht geduldet wurden, dürfte ihr Einfluß auf die spätere Vertreibung wesentlich gewesen sein. Als im Februar 1668 in einem Trakt der Hofburg ein Brand ausbrach, bei dem die Mutter des Kaisers in größter Lebensgefahr schwebte, machte ein Gerücht die Juden für den Brand verantwortlich. Der Rat der Stadt Wien und der Bürgermeister verlangten vom Kaiser die völlige „Abschaffung“ der Juden. Bei einem „Judenrummel“ an den Ostertagen 1668 drang eine entfesselte Menschenmenge in das Ghetto ein, mißhandelte dessen Bewohner und plünderte die Häuser. Während die zerstörungswütigen Studenten nicht belangt wurden, mußten im Mai 1668 hundert Juden das Ghetto zur Strafe verlassen.
Es lag einzig in der Macht des Kaisers, die Juden Wiens unter seinem Schutz zu dulden oder sie auszuweisen. Mitte 1669 gab Leopold I. schließlich dem Druck der Ausweisungsforderungen nach, und wie so oft betraf es zuerst die finanzschwachen Juden. Die Inquisitionskommission, zuständig für die Begründung der Vertreibung, war zu dem Schluß gekommen, die Juden seien „die größten Feinde und Widersacher des christlichen Volkes“. Die Hoffnungen der Juden, das Unglück abwenden zu können, wurden enttäuscht. Internationale Interventionen und finanzielle Angebote schlug der Kaiser aus. Unter seinem Vorsitz wurde beschlossen, daß die Juden Wien, Nieder- und Oberösterreich bis zum Fronleichnamsfest 1670 verlassen mußten und nicht mehr wiederkehren durften. Damit wurde eine der lebendigsten jüdischen Gemeinden, die als religiöses und geistiges, von Gelehrsamkeit geprägtes Zentrum galt, zerschlagen. Die Vertriebenen fanden Aufnahme in dem zu Ungarn gehörenden Burgenland, in Mähren und in Berlin. Noch heute erinnert eine lateinische Inschrift der katholischen Kirche in der Großen Pfarrgasse, bei der es sich um eine umfunktionierte Synagoge handelt, an die Vertreibung. Die Stadt Wien, der Grund und Gebäude übertragen wurden, sollte den Ausfall der Einnahmen aus diversen Mautgeldern, Steuern und des Toleranzgeldes abgelten. Doch die Gegend des ehemaligen Ghettos blieb verarmt, der Handel litt unter der Abwesenheit der Juden.
Mit dem Auftauchen Samuel Oppenheimers in Wien begann eine neue Phase, die der Hofjuden. Angesichts des immer weiter steigenden Geldbedarfs der Herrscher übernahmen die Hofjuden wichtige ökonomische Funktionen bei der Finanzierung der Hofhaltung und des Heeres und bei der Versorgung der Truppen. Samuel Oppenheimer, der ab 1672 Österreich belieferte, war zuvor Armeelieferant des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz gewesen. Sein Wirken in Wien war geprägt von Intrigen und gegen ihn gerichteten Verschwörungstheorien des katholischen Klerus. Wie gereizt die durch die Pestepedemie und die Türkenbelagerung von 1683 belastete Wiener Bevölkerung auf den inzwischen mächtig gewordenen Oppenheimer reagierte, zeigt ein Zwischenfall aus dem Jahr 1700. Ein belangloser Streit – zwei Diener des Hauses hatten sich über Schornsteinfeger lustig gemacht – führte zu wilden Auseinandersetzungen und der Plünderung des Hauses von Oppenheimer. Der Zwischenfall kostete mehreren Menschen das Leben.
Im Gefolge Oppenheimers kam die zweite herausragende Persönlichkeit nach Wien, Samson Wertheimer. Im Gegensatz zu Oppenheimer begab er sich allerdings nicht in die alleinige Abhängigkeit des Hofes. Wertheimer fand in der österreichisch-jüdischen Geschichte auch deswegen Anerkennung, weil er sich für die Belange seiner Glaubensgenossen engagierte und berühmte Talmudgelehrte unterstützte. Er verhalf etwa den aus Wien Vertriebenen, die in burgenländisch-ungarischen Ortschaften ansässig gewordenen waren, zur Gründung eigener Gemeinden. Immerhin hatte er das Ehrenamt eines ungarischen Landesrabbiners inne und führte den Titel eines Rabbiners der Gemeinden Wien, Nikolsburg, Eisenstadt und Worms. Bekannt blieb seine erfolgreiche Intervention gegen die Veröffentlichung des mit antijüdischen Klischees gespickten Buches Entdecktes Judentum von Johann Andreas Eisenmenger im Jahr 1700.
Trotz der Ansiedlung so bedeutender Persönlichkeiten wie Oppenheimer und Wert heimer blieb die allgemeine Rechtsunsicherheit für die Juden bestehen. Mit dem Ablaufen der Privilegien von Oppenheimer 1723 sollten die etwa 100 Juden, die unter seinem Privileg standen, ausgewiesen werden. Dasselbe galt für diejenigen, die unter dem 1735 auslaufenden Privileg von Samson Wertheimer standen. Anders als zuvor wurden die Hofjuden und ihr Anhang nicht mehr gezwungen, in einem Ghetto zu wohnen. Es gab jedoch Pläne, sie wieder zum Tragen eines Abzeichens und zur Konzentration auf bestimmte Wohnbezirke zu zwingen. Der letzte Punkt scheiterte allerdings am Unwillen der Wiener Hauseigen tümer.
Der Friede von Passarowitz im Jahr 1718 ermöglichte türkischen Staatsbürgern den freien Aufenthalt in Österreich. Mit ihnen kamen sefardische Juden nach Wien, die Osthandel betrieben. Der Prominenteste von ihnen war Diego d’Aguilar, dem 1723 die Neuorganisation des Tabakmonopols aufgetragen wurde. Die Zahl der sefardischen Juden in Wien blieb allerdings immer gering. Anders als die Hofjuden durften sie bereits im ausgehenden 18. Jh. eine eigene Gemeinde bilden. Die Annahme der türkischen Staatsbürgerschaft war später eine der mühsamen Strategien, ihren Aufenthalt in Wien durch Tricks zu legalisieren.
Trotz der Nähe zum Herrscherhaus, der Privilegien und des Reichtums blieb es den aschkenasischen Juden Wiens bis ins 19. Jh. untersagt, eine Synagoge zu errichten und eine Gemeinde zu bilden. Mit den Familien der Hofjuden waren deren Angehörige, Geschäftsfreunde und Angestellte nach Wien gekommen. Die Forderungen nach erneuter Ausweisung seitens der Wiener verstummten nicht und wurden oftmals zum Vorwand für hohe Steuerleistungen zur Abgeltung des Schutzes genommen. Die wiederholten Erlasse zur Ausweisung derjenigen Juden, die sich unberechtigt in Wien aufhielten, zeigen letztlich nur, daß sich in Wien, ebenso wie an anderen Orten, illegale Zuwanderer befanden.
Entscheidungen über die Judenpolitik wurden im Kraftfeld von Hof, Hofkammer, Bürgerschaft und Klerus getroffen. Die Abneigung gegenüber den Juden waren bei Karl VI. und seiner Tochter Maria Theresia offensichtlich. In einer berüchtigten Aktennotiz manifestierte sich die Abneigung der Kaiserin gegen die Juden:
Ich kenne keine ärgere Pest von Staatt als diese Nation, wegen Betrug, Wucher und Geldvertragen, Leüt in Bettelstand zu bringen, alle üble Handlungen ausüben, die ein anderer ehrlicher Man verabscheuete; mithin sie, sovill sein kann, von hier abzuhalten und zu vermindern.3
Audienzen von Juden nahm die Kaiserin nur von einem Paravent verdeckt ab. Ihre Politik zielte daraufhin ab, einen weiteren Zuzug zu verhindern. 1752 ergab eine Zählung der Juden Wiens, daß sich 452 Personen unter der Aufsicht von zwölf Familien in der Stadt aufhielten.
Bezüglich der Verbannung der Juden bildete das in Vorarlberg liegende Hohenems eine Ausnahme. Die Juden erhielten 1617 von Reichsgraf Kaspar einen Schutzbrief, dem allgemein ein toleranter Geist zugesprochen wird, denn sie wurden nicht gezwungen, in einem Ghetto zu wohnen oder ein Judenabzeichen zu tragen. Allerdings wurde der Schutz bald aufgehoben, die Lage der Juden verschlechterte sich, und 1676 wurden sie aus Hohenems ausgewiesen. Als man 1688 die Ansiedlung von zehn Familien wieder zuließ, mußten diese konzentriert in einem Viertel wohnen. Trotz erneuter Ausweisungsdrohungen konnten die Juden in Hohenems bleiben. Nach dem Tod des letzten Emser Reichsgrafen erwarben die Habsburger die Reichsgrafschaft, und Maria Theresia ergänzte den Schutzbrief durch neue Restriktionen: Nur Erstgeborene durften Familien gründen, der Erwerb von Immobilien wurde den Hohenemser Juden verboten. In den Wirren der Napoleonischen Kriege kam die Stadt kurze Zeit zu Bayern und profitierte von den liberaleren Gesetzen bezüglich des Ankaufs von Immobilien. Andererseits begrenzte die bayerische Regierung die „Normalzahl“ jüdischer Familien in Hohenems auf 90. Wie an vielen Orten, an denen Juden überhaupt wohnen durften, blieb die rechtliche Situation bis 1849 voller Widersprüche.
Aufklärung und Toleranz
Das von Joseph II. vertretene Prinzip des aufgeklärten Absolutismus brachte eine entscheidende Trendwende mit sich. War die Beziehung des Herrscherhauses zu den Juden bis dahin vor allem fiskalisch bestimmt gewesen, setzte sich nun eine physiokratische Haltung durch. Die Juden sollten durch Reformen in ökonomischer Hinsicht dem Staat nützlich werden und sich dem übergeordneten Ziel unterordnen, nämlich ein starkes, geeintes, zentralistisches, unter Hegemonie der Deutschen stehendes Reich zu schaffen. Mit der Annexion Galiziens waren mehr als 200.000 Juden einverleibt worden. Die Zuwanderung armer Juden aus dieser Region in die Alpenländer und insbesondere nach Wien sollte ebenfalls mit den Mitteln der Toleranzpolitik verhindert werden.
Die Toleranzpolitik regelte erstmals verbindlich, unter welchen Kriterien ein Aufenthalt von Juden in Wien überhaupt möglich war. Sie räumte jedoch keineswegs mit allen schikanösen Einschränkungen auf. Viele Repressalien blieben. So wurde der Schutz nicht auf die Kinder der Tolerierten übertragen, und den Juden Wiens war es weiterhin untersagt, eine Gemeinde zu gründen. Zu den Errungenschaften der Toleranzpolitik gehörte dagegen die Möglichkeit, an der Universität zu studieren. 1789 konnte der erste jüdische Mediziner in Wien promovieren. Die Hürden für eine Zuwanderung von Juden nach Wien blieben bis 1848 bestehen. So stieg zwar die Zahl von 33 jüdischen Familien im Jahre 1782, als das Toleranzpatent erlassen wurde, auf 72 im Jahr 1790 an. Doch zeigt die Tatsache, daß sich 1847 lediglich 197 tolerierte Familien in Wien aufhielten, wie restriktiv die Maßnahmen weiterhin blieben. Fremde Juden, die in Wien Geschäfte trieben, wurden nach Abschaffung der Leibmaut bis 1848 durch ein sogenanntes Judenamt drangsaliert.
Die geadelten Familien Eskeles und Arnstein leiteten gemeinsam das führende Bankhaus von Wien. Der Salon der Fanny von Arnstein (1758–1818), der „Königin der Wiener Gesellschaft“, im Stadtpalais am Hohen Markt erlebte seinen Höhepunkt zur Zeit des Wiener Kongresses. Fanny Arnstein war die Tochter des Berliner Bankiers Daniel Itzig und mit Nathan Adam Freiherr von Arnstein verheiratet. Ihr Salon, der von Juden wie von Nichtjuden frequentiert wurde, macht symbolisch deutlich, daß die Schranken zwischen beiden Gruppen im sozialen Leben Wiens zu fallen begannen. In einem Gutachten der Hofkanzlei aus dem Jahr 1833 hieß es, daß die Juden in Wien aufgehört hätten, sich wie früher zu isolieren, und die Christen gleichfalls ihre Abneigung gegen die Juden größtenteils aufgegeben hätten.
Der hohe soziale Status der jüdischen Familien Wiens spiegelte sich in der Nobilitierung. 1821 lebten bereits neun geadelte jüdische Familien in Wien.
Der eher konservative Moritz Güdemann (1835–1918), der 1867 Rabbiner und 1894 Oberrabbiner in Wien wurde, beschrieb in seinen Erinnerungen, welch hohes Ansehen die Wiener Juden im Ausland und im Breslauer Seminar genossen:
Die Wiener Judengemeinde […] genoß den Ruhm großer Vornehmheit, Wohlhabenheit, Wohltätigkeit und einer wohlgeordneten religiösen Einrichtung. Das meiste […] trugen zum Ansehen der Wiener Judengemeinde die zahlreichen begüterten Juden bei, die von ihrem Reichtum den besten Gebrauch machten, Künste und Wissenschaften unterstützten, Wohltätigkeitsinstitute begründeten und erhielten.4
Ein Problem stellte es dar, daß viele Kinder der jüdischen Geadelten – so Güdemann – „ihren verblassenden Namen durch Taufwasser aufzufrischen“ versuchten und zum Christentum übertraten.
Den aschkenasischen Juden von Wien gelang es erst im Vormärz, eine Synagoge zu errichten. Das im klassizistischen Stil erbaute Gotteshaus in der Seitenstettengasse wurde 1826 eingeweiht, und es bildet auch in der Gegenwart noch immer das Zentrum des Wiener jüdischen Lebens. Mit dem aus Dänemark stammenden Rabbiner Isaak Noah Mannheimer (1793–1865) prägte ein reformorientierter Rabbiner das religiöse Leben jener Zeit. Er durfte sich der Gesetze wegen nicht als Rabbiner bezeichnen und war offiziell als Lehrer angestellt. Die unter ihm entwickelte Gottesdienstordnung, der Versuch eines Kompromisses zwischen der Tradition und den Anforderungen der neuen Zeit, erhielt den Namen „Wiener Ritus“. Ihm zur Seite stand der aus Hohenems stammende, ebenfalls reformfreudige Kantor Salomon Sulzer (1804–1890), dessen Können und Schaffen weit über die jüdische Religionsgemeinschaft hinausging.
Neben der offiziellen Tolerierung, von der nur eine kleine Zahl jüdischer Familien Gebrauch machen konnte, gab es bis 1848 für Juden noch mehrere andere Möglichkeiten, ihren Aufenthalt in Wien zu legalisieren. So konnten sie sich darum bemühen, den auf zwei Jahre beschränkten Regierungsschutz zu erhalten. Außerdem konnten sie versuchen, als „Angehörige“ oder „Bedienstete“ auf die sogenannten Familienlisten der Tolerierten zu gelangen und auf diese Weise mit fingierten Angaben in Wien zu leben. Fremde Juden konnten sich mit einem auf maximal 14 Tage befristeten Aufenthaltsschein legal in der Stadt aufhalten. Wer auf diese Weise länger in Wien leben wollte, mußte vor Ablauf der Frist die von einem Linienwall umgebene Stadt kurz verlassen, um mit einem erneut ausgestellt Schein wieder in die Stadt zurückzukehren. Diese Tätigkeit nannten die Wiener Juden damals „sich kaschern gehen“. Die tolerierten Juden Wiens hingegen hatten volle Wohn freiheit und sogar das Recht, einen Degen zu tragen.
Im Zeitalter der Emanzipation
In der Zeit der Restauration war an eine politische Betätigung innerhalb des Landes nicht zu denken, so daß die kulturellen Leistungen eines Salomon Sulzers sicher auch einen Ersatz für gesellschaftliche Integration darstellten. Die Möglichkeit, am politischen Geschehen der revolutionären Bewegung 1848 aktiv teilzunehmen, sahen viele Juden als einzigartige Chance, um aus der Beklemmung des Biedermeiers und der restriktiven Gesetze auszubrechen. Der jüdische Arzt Adolf Fischhof (1816–1893) nahm an der Spitze der revolutionären Bewegung, die Pressefreiheit und den Sturz des autoritären Regimes forderte, teil. Unter den ersten Toten der Auseinandersetzung befanden sich auch zwei Juden. Als Ausdruck der bereits vorangeschrittenen Integration kann die von einem protestantischen, einem katholischen und einem jüdischen Geistlichen gemeinsam geleitete Beerdigung interpretiert werden. Berühmt wurden die beeindruckenden Worte Isaak Noah Mannheimers:
Sie haben gekämpft für Euch, geblutet für Euch! Sie ruhen in Eurer Erde! Vergönnt nun aber auch denen, die den gleichen Kampf gekämpft und den schwereren, daß sie mit Euch leben auf einer Erde, frei und unbekümmert wie ihr. […] Nehmet auch uns auf als freie Männer, und Gottes Segen über Euch!5
Auf die Forderungen nach Gleichberechtigung der Juden reagierten reaktionäre und konservativ-klerikale Kräfte jedoch mit heftigen verbalen Attacken in ihren Flugschriften.
In den Kronländern, in denen sich Juden seit dem Mittelalter bzw. nach der Vertreibung im 17. Jh. nicht ansiedeln durften, brachten die revolutionären Ereignisse von 1848 nur zum Teil eine Erleichterung. Die Märzverfassung des Jahres 1849 sah die Gleichstellung der Juden vor. Es hieß darin, daß jedem die volle Glaubensfreiheit gewährleistet und der Genuß der bürgerlichen und politischen Rechte vom Religionsbekenntnis unabhängig sei.
Doch diese Verfassung wurde zwei Jahre später wiederaufgehoben, so daß das Ansiedlungsverbot vorerst kaum gelockert wurde. Der Grunderwerb blieb, so eine Verordnung von 1853, bis zu einer reichseinheitlichen Regelung untersagt. Einer der Fortschritte war die offizielle Gründung der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde, deren Statuten 1852 provisorisch genehmigt wurden.
In der Alpenländern, die den Juden trotz der Toleranzpatente in der ersten Hälfte des 19. Jhs. weiterhin verschlossen geblieben waren, begann sich die Lage nun zu verändern. Vereinzelt mögen zwar Hausierer schon vor 1848 ihren Lebensschwerpunkt in einem der Alpenländer gewählt haben, doch der Aufbau jüdischer Gemeinden auf dem Lande war undenkbar. Ein Beispiel aus Niederösterreich: In Wiener Neustadt lebten 1708 bereits 535 Juden, doch 1713 wurden sie infolge der Pest ausgewiesen. Erst 1719 durften sie sich tagsüber wieder in der Stadt aufhalten, d.h., sie betrieben die Geschäfte von ihrem Wohnort im nahe gelegenen Ungarn aus. 1848 siedelten sich Juden wieder in Wiener Neustadt an, und 1871 wurden die Statuten zur Bildung der Israelitischen Kultusgemeinde von Wiener Neustadt genehmigt. Über einen eigenen Friedhof verfügten sie allerdings erst seit 1889. Die Fertigstellung der Synagoge im maurischen Stil im Jahre 1902 krönte die Ambitionen der jungen Gemeinde. Die Übernahme des als liberal geltenden „Wiener Ritus“ löste allerdings einen internen Streit aus, weswegen die Traditionalisten ihre Gottesdienste weiterhin in einem privaten Bethaus abhielten.
Auch nach 1848 behinderten die lokalen Behörden die Entstehung eines jüdischen Gemeindelebens in Orten, in denen Juden nun geduldet wurden. So mußten die Juden, die sich in Linz niederließen, ihre Toten auf weit entlegenen Friedhöfen beerdigen. Erst 1863 konnten sie den Widerstand katholischer Kreise brechen und einen „israelitischen Friedhof“ anlegen.
In der Steiermark dauerte die Verbannung der Juden seit 1496 an. Erst der Josephinismus ermöglichte Juden den Besuch des Grazer Jahrmarktes, der zweimal pro Jahr für die Dauer von 3–4 Wochen abgehalten wurde. Ansonsten durften sich durchreisende Juden z.B. in Graz höchsten 24 Stunden aufhalten. Trotz vereinzelter Widerstände gelang nach 1848 eine allmähliche Ansiedlung, die rasch zum Aufbau einer jüdischen Gemeinde führte. 1861 eröffnete die erste rituell geführte Gastwirtschaft, seit 1862 wurden Gottesdienste zelebriert, und 1864 konnten die Juden von Graz ihre Toten auf einem zu diesem Zweck angekauften Grundstück bestatten. Im selben Jahr eröffneten sie eine „Israelitische Privat-Volksschule“, die bis zum Nationalsozialismus ein Brennpunkt des lokalen jüdischen Lebens und der jüdischen Erziehung blieb. Im Jahr darauf konnte die Synagoge eingeweiht werden. Den Initiativen der jüdischen Pioniere jener Zeit war es wohl zu verdanken, daß Graz zur zweitwichtigsten jüdischen Gemeinde Innerösterreichs heranreifte.
Von der Gewährung der Gleichberechtigung 1867 erhofften sich die österreichischen Juden zu Recht ein Ende der Demütigungen. Die letzten gesetzlich bedingten Barrieren fielen, und die Möglichkeiten der Mobilität innerhalb der Monarchie waren endlich grenzenlos. Doch in denjenigen Ländern und Orten, die selbst zwischen 1848 und 1867 keine Juden geduldet hatten, empfing man Neuankömmlinge nicht besonders freundlich: Albert Pollak war der Sohn einer religiösen Familie im ungarischen, heute burgenländischen Mattersburg. Er absolvierte zwar seit 1856 den Militärdienst in Salzburg, doch ein Anrecht, in diesem Ort zu wohnen, hatte er zu jener Zeit noch nicht. Als er 1862 in das Zivilleben zurückkehren und in Salzburg ein Geschäft eröffnen wollte, soll ihm der Bürgermeister entgegnet haben: „Wissen Sie denn nicht, daß ein Jude in Salzburg eigentlich nicht einmal übernachten darf? Ihre Niederlassung kann nicht geduldet werden.“ Fünf Jahre danach eröffnete Pollak ein später äußerst erfolgreiches Antiquitätengeschäft. Noch jetzt meinte man ihm sagen zu müssen: „Sie sind der erste, aber auch der einzige und letzte Jude in Salzburg.“ Albert Pollak paßte sich in seiner Lebensweise und Kleidung seiner Umgebung an, bemühte sich aber zugleich, den Aufbau einer jüdischen Gemeinde zu unterstützen. Wie in vielen anderen österreichischen Provinzorten, die den Juden jahrhundertelang versperrt geblieben waren, war der Zuzug nur geringfügig. Ein Charakteristikum der Zuwanderung war das Funktionieren von Familiennetzwerken, innerhalb deren erfolgreich aufgebaute Unternehmen zuerst den Verwandten Arbeitsmöglichkeiten boten.
Für Kärnten läßt sich im Zeitraum von 1890 bis 1910 bei 83 Personen die Herkunftsregion bestimmen: 29 kamen aus Böhmen und Mähren, 26 aus Galizien bzw. der Bukowina, 26 aus dem damaligen Ungarn, und jeweils eine Person stammte aus Wien und Triest. Die Heterogenität der kulturellen und religiösen Praktiken der jüdischen Bevölkerung spiegelte sich somit selbst in kleinen Gemeinden wider. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung in den sogenannten Alpenländern blieb gering. Abgesehen von Wien und dem umgebenden Niederösterreich erreichte die jüdische Bevölkerung in dem halben Jahrhundert bis zum Niedergang der Habsburgermonarchie in keinem der Alpenländer einen Bevölkerungsanteil, der über 0,2 % lag. Die Volkszählung des Jahres 1910 vermerkte lediglich 341 Juden in Kärnten, 285 im Land Salzburg und nur 126 in Vorarlberg. Allein in Niederösterreich erreichte der Bevölkerungsanteil der Juden 0,6 %. Dies waren 9461 Personen. Trotz ihrer geringen Zahl waren den Neuankömmlingen der Aufbau einer eigenen jüdischen Kultusgemeinde, der Bau einer Synagoge und die Entfaltung einer Infrastruktur für das Funktionieren eines jüdischen Lebens wichtige Anliegen. In Klagenfurt und Salzburg gerieten sie dabei in Konflikt mit jenen jüdischen Gemeinden, denen sie administrativ zugeordnet wurden. Klagenfurt versuchte sich vergeblich von der Grazer Kultusgemeinde zu lösen und erreichte erst 1922 einen unabhängigen Status. Salzburg gelang die Loslösung von der Linzer Kultusgemeinde bereits 1911. Die Juden in Tirol mußten sich erst von der traditionell in Hohenems wirkenden Gemeinde abkoppeln und bildeten 1913 eine eigenständige Kultusgemeinde.
Die Distanz und Ablehnung seitens der nichtjüdischen Bevölkerung machten für viele Juden das Leben in den Alpenländern äußerst beschwerlich. Der ehemalige Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde von Linz, Karl Schwager, schrieb über die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, daß die Juden in Linz trotz Gleichberechtigung und Anerkennung „als soziales Element eine abgesonderte Gemeinschaft bildeten, was vielleicht damals niemandem so richtig zu Bewußtsein gekommen ist“.6
Der Hauptstrom der Migration richtete sich bis zum Ende der Monarchie auf die Kaiserstadt. Nachdem 1848 die Barrieren für die Ansiedlung gefallen waren, strahlte der attraktive „Magnet“ Wien auf alle Teile der Monarchie aus. Zuerst kamen Juden aus den näher und an den Eisenbahnlinien gelegenen Teilen Mährens und Ungarns, vor allem aus der Slowakei. Die jüdischen Gemeinden von Nikolsburg und Preßburg wurden besonders oft als Geburts orte genannt. Noch 1880 waren über zwei Drittel der Wiener Juden nicht in Wien geboren. Mehr als ein Viertel stammte damals aus Ungarn, zu dem auch die Slowakei gehörte, ca. ein Fünftel aus Böhmen und Mähren. Erst danach holte die Zuwanderung aus Galizien auf. Wenn für den Gesamtbereich der Monarchie von einer Urbanisierung der jüdischen Bevölkerung gesprochen werden kann, dann ist ein weiteres Charakteristikum die „Metropolisierung“, ein Phänomen, das sich an der ausgeprägten Zuwanderung in die beiden Hauptstädte der Doppelmonarchie, Wien und Budapest, beobachten läßt.
Auch im vorarlbergischen Hohenems wirkte sich die Freizügigkeit massiv aus. Die jüdische Bevölkerung nahm seit der Mitte des 19. Jhs. dramatisch ab, und das obwohl Hohenems zwischen 1849 und 1879 – ganz gegen den Trend der Zeit – eine autonome Judengemeinde bildete. Lebten zwischen 1800 und 1860 durchschnittlich ca. 500 Juden in Hohenems, sank die Zahl bis 1910 auf 66 Personen ab. 1913 mußte sogar die israelitische Privatschule des Ortes schließen.
Wiens Gesamtbevölkerung vervierfachte sich im Zeitraum von 1848 bis 1910, und mit über 2 Millionen Einwohnern gehörte die Haupt- und Residenzstadt nach der Jahrhundertwende zu den größten Städten jener Zeit. Wie viele Juden während der Revolution 1848 tatsächlich in Wien lebten, bleibt unklar. Die Schätzungen reichen von 3000 bis 12.000, wobei die untere Zahl wohl eher realistisch sein dürfte. Bis zur Volkszählung im Jahr 1910 stieg die Zahl der in Wien lebenden Personen mit jüdischem Religionsbekenntnis auf 175.318 an, das entsprach einem Bevölkerungsanteil von 8,6 %. Der Bevölkerungsanstieg beruhte vor allem auf der Zuwanderung, aber auch auf dem Geburtenüberschuß, zwei Faktoren, die erst am Ende des Zeitraums von der ansteigenden Austrittsquote der „Taufmaschine Wien“ beeinträchtigt wurden. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jhs. verlor die jüdische Religionsgemeinschaft in Wien bereits durchschnittlich 580 Personen pro Jahr durch Austritte.
Bezogen auf das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden schienen sich die Hoffnungen, die mit der liberalen Idee der Gleichberechtigung verknüpft worden waren, anfangs zu erfüllen. Für kurze Zeit entspannte sich die Situation so weit, daß es tatsächlich den Anschein hatte, es sei lediglich Privatsache, der jüdischen Religion anzugehören. Die späteren Protagonisten des konservativen und rassistischen Antisemitismus, Karl Lueger und Georg Ritter von Schönerer, scheuten sich noch nicht, ihre politischen Anliegen gemeinsam mit jüdischen Politikern zu vertreten. Die „Große Depression“ und der von Berlin ausgehende Impuls des modernen Antisemitismus, gepaart mit der Dynamik des Nationalitätenkonflikts, brachten seit den achtziger Jahren jedoch eine beängstigende antijüdische Stimmung zutage, mit der niemand gerechnet hatte. Dies wirkte wie ein Rückfall in die finstere Zeit des Mittelalters, um so mehr, als 1882 sogar die Ritualmordgerüchte aus dem ungarischen Tiszaeszlár Gehör fanden.
Der in einem galizischen Wahlkreis in den Reichsrat gewählte, doch in einem Vorort von Wien wirkende Rabbiner Josef Samuel Bloch (1850–1923) schreckte die moderaten, liberal gesinnten Juden Wiens auf, indem er die Antisemiten direkt attackierte. Auch der vor allem von Nichtjuden getragene „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, dem Bertha von Suttner und der Walzerkönig Johann Strauß angehörten, stellte sich dem Kampf gegen die Verbreitung der Vorurteile. Der Siegeszug der als Antisemiten antretenden deutschnationalen und christlichsozialen Gruppen unter dem Juristen Dr. Karl Lueger und ihr beängstigender Wahlerfolg bei den Wiener Kommunalwahlen 1895 machte sie ratlos. Für die jüdische Bevölkerung war dieses Ergebnis ein Schock und ein unerklärbarer Kulturbruch. Und trotzdem dürfte der Gewöhnungseffekt – die Christlichsozialen stellten von 1895 bis 1919 den Wiener Bürgermeister – rasch eingetreten sein. Allein die zweimalige Ablehnung der Wahl Luegers zum Bürgermeister von Wien durch Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916, Kaiser seit 1848) konnte als Signal verstanden werden, daß die in der Verfassung zugesicherte Emanzipation trotz des verbal aggressiven Antisemitismus unangetastet bleiben werde. Als wolle man sich gegenseitig vergewissern, daß die in der Gruppe des anderen vermutete Gefahr nicht so bedrohlich sei wie befürchtet, kam es immer wieder zu Beziehungen zwischen Juden und Antisemiten. Lueger war darin der Prototyp der demagogischen österreichischen Antisemiten. Arthur Schnitzler reflektierte zum Phänomen Lueger in seiner Autobiographie Jugend in Wien:
Es gab und gibt Leute, die es ihm zum Vorzug anrechnen, daß er auch in seiner stärksten Antisemitenzeit persönlich für viele Juden eine gewisse Vorliebe beibehalten und daraus gar kein Hehl gemacht hatte: Mir galt gerade das immer als der stärkste Beweis seiner moralischen Fragwürdigkeit.7
Die schlimmste Wirkung hatte der Erfolg des Antisemitismus auf die zukünftige Entwicklung. Es war die Zeit der Jugend von Adolf Hitler, der dem Auftreten von Schönerer und Lueger in Mein Kampf breiten Raum widmen sollte. Der Erfolg des Deutschnationalismus mit seinem rassistischen Antisemitismus unter den in Ausbildung befindlichen Eliten an den Universitäten wirkte sich ebenfalls katastrophal aus. Dem Antisemitismus gelang auch, was durch die Gesetzeslage überwunden schien: der Aufbau neuer Barrieren und eine Dissimilation im täglichen Leben. Nur wenige Nischen des Zusammentreffens blieben im positiven Sinne offene Bereiche. Die Kultur war eine davon. Stefan Zweig wurde zu einem bedeutenden Chronisten jener Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die er in seiner Autobiographie Die Welt von gestern verklärend als das „goldene Zeitalter der Sicherheit“ charakterisierte.
Wir jungen Menschen aber, völlig eingesponnen in unsere literarischen Ambitionen, merkten wenig von diesen gefährlichen Veränderungen in unserer Heimat: Wir blickten nur auf Bücher und Bilder.8
Für die Juden Wiens verengte sich der Bewegungsspielraum auf politischer Ebene. Mit dem unaufhaltsamen Niedergang der liberalen Parteien verloren sie eine konservative Option, denn die Deutschnationalen und Konservativen verschlossen sich ihnen gegenüber. Lediglich die aufstrebende Sozialdemokratie blieb offen. Mit ihrer antireligiösen und assimilatorischen Diktion konnten die Sozialdemokraten allerdings nur jene erreichen, die sich von der religiösen Bindung gelöst hatten. Die führende Persönlichkeit der österreichischen Sozialdemokratie war Viktor Adler (1852–1918), ein Arzt und Politiker jüdischer Herkunft, der mit dem utopischen Anspruch angetreten war, mit dem Sozialismus den Antisemitismus zu überwinden. Der Erfolg des Antisemitismus war auch für Adler eine bittere Ernüchterung, die ihm 1898 zu der Formulierung führte: „Der letzte Antisemit wird erst mit dem letzten Juden sterben.“
Auf der Suche nach Lösungen im heftig wütenden Nationalitätenstreit hoffte eine Minderheit national gesinnter Juden, die Anerkennung der Juden als Nation innerhalb des Vielvölkerstaates sei ein gangbarer Weg. Nach geltendem Recht besaßen die Juden jedoch nur den Status einer anerkannten Religionsgemeinschaft. Unruhe in die durch den Antisemitismus nahezu lahmgelegte Wiener jüdische Gesellschaft brachte der Vordenker des Zionismus, Theodor Herzl (1860–1904). Seine Utopie verlieh der Diskussion um die nationale Identität der Juden in Österreich eine neue Note. Herzl nahm die Idee des Anspruches auf ein eigenes, geschlossenes Territorium für das jüdische Volk in sein Programm auf. In seiner Utopie des Judenstaates manifestierten sich viele Facetten der assimilierten Wiener jüdischen Kultur. Der Angriff Herzls gegen das Jiddische als Ghettosprache war typisch für die oftmals heftige Ablehnung, die die bereits angepaßten oder aus nichtjiddischen Sprachregionen stammenden Juden dem als minderwertig beurteilten Jiddisch entgegenbrachten. Damit verband sich auch die Ablehnung jener Menschen, die unter dem Begriff „Ostjuden“ subsumiert wurden. Die obligatorischen Gesamtausgaben von Goethe oder Schiller zur Bar Mizwa waren sinnbildlicher Ausdruck dieser Lebensform, in der die deutsche Kultur als hochwertig und wertvoll empfundenen wurde. Noch blieb die Wiener Kultusgemeinde von einer liberal und patriotisch orientierten Fraktion dominiert, die Zionisten konnten sich erst in der Ersten Republik durchsetzen.
Im Ersten Weltkrieg wirkte sich der überdurchschnittlich hohe Bildungsgrad der jüdischen männlichen Bevölkerung aus. Da viele jüdische Absolventen von Mittelschulen die Ausbildung zu Reserveoffizieren absolviert hatten, rückten sie im Kriegsverlauf nach den massiven Anfangsverlusten in wichtige Positionen vor. Von den ca. 300.000 jüdischen Soldaten, die auf seiten der k. k. Armee am Ersten Weltkrieg teilnahmen, hatten 25.000 einen Offiziersrang. Die Offensiven russischer Truppen im Osten der Monarchie lösten eine enorme Fluchtbewegung von Juden in Galizien und der Bukowina aus, die im Landesinneren Schutz suchten. Im Mai 1917 befanden sich z.B. 40.637 mittellose jüdische Flüchtlinge in Wien. Während die Zensur anfangs die Gehässigkeiten gegen die Flüchtlinge unterdrückte, begann 1917 eine fortdauernde verbale Hetzjagd der antisemitischen Kreise gegen die „Ostjuden“, die nun verstärkt zur Projektionsfläche allen Übels wurden. Der vom Nationalitätenkampf geprägte österreichische Antisemitismus, nun aggressiv verstärkt durch die Verrohung im Ersten Weltkrieg, gehörte zur Konkursmasse, die von der Ersten Österreichischen Republik übernommen werden mußte. Nach Meinung des Schriftstellers Franz Theodor Csokor (1885–1969) kämpften allein die Juden im Ersten Weltkrieg als wahre Österreicher. Schon aus Gründen ihrer weitverzweigten familiären und ökonomischen Beziehungen hatten sie ein legitimes Interesse am Fortbestand des Staatsgefüges der Habsburgermonarchie.
1 Wilma Iggers (Hrsg.), Das mährische Toleranzpatent Josephs des Zweiten, in: Günter Sternberger (Hrsg.), Die Juden. Ein historisches Lesebuch, München 41995, S. 210–215, hier S. 211.
2 Wien, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Tirol, Vorarlberg.
3 Zitiert nach: Hans Tietze, Die Juden Wiens, Wien 1933, ND Wien 1987, S. 99.
4 Moritz Güdemann, Mein Leben (Typoskript im Archiv des Leo Baeck Institute, New York), Wien 1899–1918, S. 129.
5 Zitiert nach: Wolfgang Häusler, Die Revolution von 1848 und die österreichischen Juden. Eine Dokumentation, in: Studia Judaica Austriaca 1 (1974), S. 40f.
6 Karl Schwager, Geschichte der Juden in Linz, in: Hugo Gold, Geschichte der Juden in Österreich, Tel Aviv 1971, S. 57.
7 Arthur Schnitzler, Jugend in Wien. Eine Autobiographie, Frankfurt a.M. 1981, S. 142.
8 Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a.M. 1970, S. 84.