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Bayern und Süddeutschland 1648–1871 Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Französischen Revolution

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Nach den Vertreibungen der Juden aus den Städten und den Ausweisungen aus einer Reihe von geistlichen und weltlichen Territorien im 15. und 16. Jh. wurde das Landjudentum in Süddeutschland zur vorherrschenden Form jüdischer Existenz. Nach der Mitte des 16. Jhs. duldeten nur noch wenige Reichsstädte, z.B. Wimpfen, Buchau und Frankfurt a.M., Juden innerhalb ihrer Mauern.

Der Judenschutz, zunächst kaiserliches, dann landesherrliches Privileg, wurde schließlich auch von den Domkapiteln, den Klöstern und der Reichsritterschaft, die vor allem in Franken, Schwaben und Hessen stark vertreten war, beansprucht. Diese sah in „ihren“ Schutzjuden den lebendigen Beweis ihrer politischen Unabhängigkeit. Die Aufnahme von Juden bot darüber hinaus auch die Möglichkeit, neue Einnahmequellen zu sichern und leere Staatskassen zu füllen.

Als Gegenleistung für die Ansiedlung wurde bis in das 19. Jh. hinein ein ganzes Bündel von Abgaben erhoben. Doch selbst hohe Schutzgelder konnten keine Rechtssicherheit schaffen. Die Juden blieben der Willkür der Obrigkeit ausgeliefert und stets von Vertreibungen bedroht. So ist z.B. in Württemberg eine Reihe von kleineren Orten bekannt, in denen im 16. und 17. Jh. über kürzere oder längere Zeit jüdische Siedlungen bestanden. Grundsätzlich hielten das Herzogtum Bayern und das Herzogtum Württemberg bis zum Beginn des 19. Jhs. an ihrer Ausschlußpolitik den Juden gegenüber fest. Wohl aus diesem Grunde waren um 1800 im Herzogtum Württemberg nur 534 Juden und in den oberen Erblanden des Herzogtums Bayern etwa 360 Familien ansässig.

Nachdem die Vertreibungen mit der Ausweisung aus dem Herzogtum Bayern im Jahr 1553 ihren Höhepunkt erreicht hatten, läßt sich ab dem ausgehenden 16. Jh. eine Konsolidierung der Verhältnisse der süddeutschen Landjuden konstatieren. Die Beziehungen zwischen Schutzherren und jüdischen Untertanen verfestigten sich, die jüdischen Siedlungen wuchsen und konzentrierten sich in bestimmten Gebieten wie in Franken und Schwaben. Innergemeindliche Einrichtungen wie Friedhöfe und Synagogen wurden gegründet. Eigene jüdische Korporationen und Verwaltungsorgane entstanden. Die Herausbildung von Traditionsbindungen schloß diese Konsolidierungsphase ab.

Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) unterbrach zwar diese Entwicklung, beendete sie aber nicht. Die Verheerungen der jahrzehntelangen Kriegshandlungen brachten den Handel nahezu vollständig zum Erliegen. Ortschaften wurden dem Erdboden gleichgemacht, ganze Landstriche durch Seuchen und marodierende Soldaten entvölkert und zerstört. In Franken z.B. waren in vielen Dörfern nicht mehr als vier oder sechs Einwohner übrig geblieben. Die jüdische Bevölkerung wurde in zunehmendem Maße Angriffsziel plündernder Söldner, da für sie kein organisierter Schutz zu erwarten war.

Nach dem Westfälischen Frieden (1648) bedienten sich die größeren und kleineren Territorialherren Süddeutschlands des Instruments der Peuplierung zum Wiederaufbau. Die Reichsritterschaft betrieb in ihren Herrschaftsbereichen verstärkt die Ansiedlung von Juden aus wirtschaftlichen Gründen. Durch finanzielle Zugeständnisse bei Schutzbriefen oder auch durch großzügigere Vergabe von Privilegien versuchte man, die Handelstätigkeit der Juden und ihre weitverzweigten Verbindungen zur Erreichung von Zielen, die aus einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik abgeleitet waren, zu nutzen.

So bot der pfälzische Kurfürst Karl Ludwig (1649–1680) den Juden günstige Ansiedlungsbedingungenin Mannheim. Seine Konzession (1652) gewährte den Neuankömmlingen, die sich zum Bau eines zweistöckigen Hauses verpflichten mußten, nahezu die gleichen Rechte wie den christlichen Einwohnern, weitgehende Gewerbefreiheit und eine zwölfjährige Befreiung von Abgaben. Zudem mußten die Mannheimer Juden nicht in einem abgesonderten Wohnbezirk leben und auch keine Kennzeichnung an ihrer Kleidung tragen.

Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges gelang einer kleinen Gruppe innerhalb der jüdischen Gesellschaft der Aufstieg zu Macht, Einfluß und Vermögen im Umkreis der Landesherren. So entstand neben den traditionellen Eliten der jüdischen Gesellschaft, den Rabbinern, Talmudgelehrten und Gemeindevorstehern, erstmals eine weltlich orientierte Oberschicht: die Hoffaktoren.

In ihrer höfischen Prachtentfaltung orientierten sich gerade die kleineren und mittleren Fürsten am Vorbild des französischen Hofes in Versailles. Zur Finanzierung dieser Lebensweise, zur Beschaffung von Luxusgütern aller Art sowie von Metallen zur Münzprägung, zur Belieferung ihrer Truppen und für politische und diplomatische Missionen bedienten sich die stark verschuldeten Staaten der Hofjuden. Ihre Dienste wurden mit einer Vielzahl von Sonderrechten belohnt. Dazu gehörten u.a. die Befreiung von Leibzoll- und Schutzgeldzahlungen und die Ansässigmachung in ansonsten für Juden gesperrten Territorien oder Städten wie z.B. München.

Die Stellung als Hoffaktor barg aber auch zahlreiche Risiken. Sie war ausschließlich auf ein persönliches Verhältnis zu den jeweiligen Herrschern gegründet. Jeder Thronwechsel oder auch der Verlust der Gunst des Herrschers konnte die Rückzahlung der Kredite sowie Leib und Leben gefährden. So wurde 1712 der ansbachische Hoffaktor Elkan Fränkel (1675–1720), der gleichzeitig Gemeindevorsteher der jüdischen Gemeinde Fürth war, zusammen mit seinem Bruder, dem Fürther Rabbiner Hirsch Fränkel, durch einen von der rivalisierenden Hoffaktorenfamilie Model bestochenen Konvertiten denunziert. Seitens der Anklage wurde behauptet, die Gebrüder Fränkel besäßen hebräische Bücher, die Schmähungen gegen das Christentum enthielten, hätten den Markgrafen beleidigt und sich Übergriffe auf das Staatswesen zuschulden kommen lassen. Elkan Fränkel wurde daraufhin öffentlich ausgepeitscht und bis zu seinem Tode 1720 inhaftiert. Seinem Bruder Hirsch widerfuhr ein ähnliches Schicksal.

Die Hoffaktorenfamilien paßten sich in ihrer Kleidung und ihrem Lebensstil häufig sehr stark an ihre nichtjüdische Umgebung an, ohne sich aber vollständig von ihren Glaubensgenossen zu entfremden. Im Gegenteil, oft erreichten sie durch ihre persönlichen Kontakte zum Herrscher die Rücknahme von Ausweisungsmandaten oder ermöglichten Niederlassungsrechte für weitere Familien in bisher für Juden gesperrten Gebieten. So intervenierte der Hofbankier Samson Wertheimer (gest. 1724), ein Neffe Samuel Oppenheimers, erfolgreich beim Kaiser für ein Niederlassungsrecht seiner Verwandten und Geschäftsvertreter in Speyer. Sie engagierten sich auch im religiösen Bereich und stellten Geldmittel zur Erbauung von Synagogen zur Verfügung, wie der Kaiserliche Oberhoffaktor Samuel Wertheimer 1717 in Marktbreit oder der brandenburgisch-bayreuthische Hofjude Samson 1711 in Baiersdorf.

Der bekannteste süddeutsche Hofjude war Josef Süß Oppenheimer (hingerichtet 1738). Kaum eine andere jüdische Persönlichkeit des 18. Jhs. erfuhr so vielfältige publizistische Beachtung wie er. Oppenheimer wurde in den neunziger Jahren des 17. Jhs. im kurpfälzischen Heidelberg als Mitglied einer angesehenen, ursprünglich aus Oppenheim stammenden Händlerfamilie geboren. In jungen Jahren führten ihn Reisen quer durch Europa, bis er sich schließlich als Geld- und Warenhändler in der Pfalz niederließ. Seine Geschäfte tätigte er vornehmlich in Mannheim und Frankfurt a.M., wo er gesellschaftlichen Zutritt zu seinen adeligen Geschäftskunden, u.a. den Fürsten von Thurn und Taxis, fand. Zudem pflegte er enge Kontakte zum Mannheimer Hof, seit 1723 als Pächter des Stempelpapiers.

Sein eigentlicher Aufstieg begann, als er ab 1732 für den württembergischen Prinzen und späteren Herzog Karl Alexander (1733–1737) tätig wurde. Er sanierte das bankrotte Herzogtum u.a. durch eine fünfprozentige Steuer auf Beamtengehälter, wodurch er sich viele Feinde innerhalb der alteingesessenen Familien machte. Die Einführung staatlicher Monopole auf Leder, Salz, Tabak und Wein und die Übertragung der Pachtmonopole an Glaubensgenossen machte ihn zusätzlich unbeliebt. Oppenheimers offen zur Schau gestellter Reichtum tat ein Übriges. Seine Position am württembergischen Herzogshof verdankte er ausschließlich seiner persönlichen Beziehung zum Herzog. Nach dessen Tod wurde er jedoch alsbald verhaftet und trotz fehlender Beweise wegen Betrug und einer Reihe anderer Vergehen zum Tod verurteilt. Eine Konversion zur Rettung seines Lebens lehnte er ab.

Das Gros der jüdischen Bevölkerung hatte am Aufstieg der Hofjuden und deren Privilegien keinen Anteil. Sie führten bis ins 19. Jh. hinein eine Randexistenz. Die Verdrängung aus ihrem ursprünglich urbanen Lebensraum hatte sich für sie als verheerend erwiesen. Armut blieb das ganze 18. Jh. hindurch ein die süddeutschen Dorfjuden prägendes Charakteristikum. So konnten im Fürstentum Bayreuth beispielsweise 150 von 350 jüdischen Haushalten keinen Beitrag zu den Abgaben leisten, die an den Fürsten zu entrichten waren.

Die Größe und Anzahl der Häuser, in denen Juden leben durften, war genau festgelegt. Auch bei einem Anstieg der jüdischen Bevölkerung in einem Ort wurde eine Ausweitung ihres Wohnraums in der Regel nicht geduldet. In Mergentheim lebten in einem von vornherein beschränkten Quartier um das Jahr 1790 knapp 70 Menschen, zehn Jahre später betrug ihre Zahl bereits 90 Personen. Die Enge der Wohnverhältnisse, gepaart mit Armut, zog häufig problematische hygienische Zustände nach sich. Dies wiederum förderte das christ liche Vorurteil von der naturgegebenen Unsauberkeit der Juden. In mehreren ritterschaftlichen Dörfern in der Fränkischen Schweiz erhielten die Juden das Aufenthaltsrecht in verfallenen, nicht mehr genutzten Schlössern und Burgen. In diesen sogenannten „Judenhöfen“ – u.a. in Tüchersfeld, Weilersbach, Buttenheim und Hüttenbach – drängten sich auf engstem Raum häufig bis zu hundert Personen.

Auf dem Land boten sich den Juden nur geringe wirtschaftliche Möglichkeiten. Sie waren von Grundeigentum und Handwerk ausgeschlossen und außerdem einer Reihe von Beschränkungen im Handel unterworfen. Im süddeutschen Raum verdienten Landjuden ihren Lebensunterhalt in der Regel als Vieh- und/oder Naturalienhändler oder fristeten ein karges Dasein als Hausierer. Der Hausiererhandel war dabei eng verknüpft mit der Pfandleihe. Im Gegensatz zu nichtjüdischen Geldverleihern konnten bei Juden auch Geldbeträge auf Alltagsgegenstände geliehen werden, die als Pfand deponiert und bei Nichtauslösung verkauft wurden. Spezifisch lokale Geschäftszweige waren der Hopfenhandel in Franken und der Weinhandel in der Pfalz.

In all diesen Handelszweigen übernahmen die Juden nahezu ausschließlich die Funktion des Zwischenhändlers, der landwirtschaftliche Produkte dem städtischen Verbrauch zuführte und im Gegenzug die Landgebiete mit in den Städten hergestellten Produkten versorgte. Alle Versuche der Obrigkeit, den Schacher- oder Hausiererhandel abzuschaffen und Juden neue Erwerbsquellen in Handwerk oder Landwirtschaft zuzuweisen, ließen außer acht, welch wichtigen Wirtschaftsfaktor gerade der jüdische Kleinhandel für den ländlichen Raum bedeutete. Die Berufsspezifizierung als Zwischenhändler verlangte ein hohes Maß an Mobilität. Häufig blieben in den Dörfern unter der Woche nur Frauen, Kinder und Alte zurück, während die Männer außerhalb ihre Geschäfte betrieben.

Besonders der Handel mit Vieh entwickelte sich zu einer nahezu allein von Juden dominierten Berufssparte. In der Nordpfalz lag der Handel mit Rindern in der Mitte des 17. Jhs. zu einem Drittel in jüdischen Händen, Ende des 18. Jhs. zu fast neun Zehntel. Im Kurfürstentum Mainz war die Haupterwerbsquelle der Landjuden der Pferde- und Viehhandel. In Franken und Schwaben hatten jüdische Viehhändler bis in die Zeit des Nationalsozialismus faktisch eine Monopolstellung erreicht. Ihre Verdrängung brachte hier nach 1933 den Viehhandel zeitweise fast zum Erliegen.

Die Geschäftsbeziehungen zwischen Bauern und Viehhändlern gingen meist weit über den eigentlich getätigten Verkauf hinaus. Geschäfte wurden auf Kreditbasis abgeschlossen, da der bäuerliche Kundenkreis außerhalb der Erntezeiten selten über genügend Bargeld verfügte. Daher war der Viehhandel in der Regel mit Geldverleih verknüpft. Eine andere Art der Geschäftsbeziehungen stellte das sogenannte Einstellvieh dar. Mageres Vieh brachten die Viehhändler bei Bauern zum Mästen unter und verkauften es anschließend mit höherem Gewinn weiter. Die Bauern konnten in dieser Zeit die Milch und Arbeitskraft der Tiere nutzen. Diese Praxis hatte ihren Ursprung darin, daß Juden über kein eigenes landwirtschaftlich nutzbares Land verfügten, auf dem sie Getreide oder Futtermittel herstellen konnten. Zudem hatten sie keinen Anteil an den gemeinschaftlich genutzten Weideflächen dörflicher Gemeinden.

Die starke Präsenz von Juden im Viehhandel schlug sich auch sprachlich nieder. Das mundartlich eingefärbte und mit einer Vielzahl von Hebraismen und Jiddismen durchsetzte Deutsch der jüdischen Viehhändler entwickelte sich im 18. und 19. Jh. zur allgemein gebräuchlichen Handelssprache auf den süddeutschen Viehmärkten. So entstanden bereits im ausgehenden 18. Jh. kleine Wörterbücher, die bis in die dreißiger Jahre des 20. Jhs. in einer Vielzahl von Auflagen und Varianten herausgegeben wurden. Sie enthalten neben den Zahlen von 1 bis 1000 und Bezeichnungen für die verschiedensten Münzsorten auch ein Verzeichnis einschlägiger Wörter.

Die bereits erwähnte Konzentration der jüdischen Bevölkerung in bestimmten ländlichen Gegenden führte zu einem starken Konkurrenzdruck unter den einzelnen Händlern, die häufig am Rande des Existenzminimums lebten. Der bescheidene Verdienst reichte in den meisten Fällen gerade aus, um die zahlreichen von der Obrigkeit geforderten Abgaben zu begleichen. In welch eng gesetztem Rahmen sich die Juden dabei bewegten, mag das Beispiel der jüdischen Gemeinde Schnaittach im 17. und 18. Jh. zeigen: Neben der traditionellen jährlichen Schutzgeldleistung fiel hier eine jährliche Pauschalablösung für den Leibzoll an, das sogenannte Zoll- oder Nachtgeld. Bei der Neueinsetzung eines Burggrafen auf der nahegelegenen Festung Rothenberg wurde ein Aufzugsgeld erhoben, das der reichsweiten Krönungssteuer bei der Neuwahl eines Kaisers entsprach. Hinzu kamen das Reinfalgeld, eine Ablösung für das Privileg, daß im Bezirk Rothenberg nur einheimische Juden Handel treiben durften, der Opfergulden jährlich an Michaeli, eine Mastgans jährlich an Martini und eine jährliche Weinabgabe an den Festungskommandanten. Auch Beerdigungen waren steuerpflichtig.

Nicht nur die Schutzherren hielten sich an ihren jüdischen Untertanen schadlos. Auch die christlichen Geistlichen des Bezirks forderten ihren Anteil. Noch 1807 erhielt jeder in Schnaittach neu angestellte Pfarrer zum Einstand sechs silberne Löffel und ein silbernes Salzfaß von der jüdischen Gemeinde zum Geschenk. Außerdem standen ihm bis weit ins 19. Jh. hinein Stolgebühren zu. Diese wurden als eine Art Entschädigung für entgangenen Gewinn betrachtet, da Juden bei Taufen, Hochzeiten und Todesfällen ihre mit Gebühren verbundenen Dienste nicht in Anspruch nahmen. Zusätzlich zu all diesen Spezialabgaben mußten Juden des Bezirks Rothenberg noch die üblichen, für alle Untertanen verbindlichen Steuern aufbringen: Haus- und Kommunalabgaben, Vermögenssteuern und Holzhauergeld.

Eine weitere Belastung für die Gemeinden stellten die Züge von verarmten Wanderjuden dar. Sie waren Teil einer während des 17. und 18. Jhs. ständig anwachsenden Schar von Bettlern, die auf der Suche nach einem Auskommen durch Mitteleuropa zogen. Zu ihnen gehörten neben Pogromflüchtlingen aus Osteuropa und Vertriebenen aus anderen Territorien auch diejenigen Juden, die keine Mittel zum Ankauf von Schutzbriefen aufbringen konnten und deshalb gezwungen waren, von Ort zu Ort zu wandern. Die Obrigkeit versuchte bis ins 19. Jh. hinein durch eine Vielzahl von Erlassen erfolglos, das auf Massenarmut gründende soziale Problem der Bettler und Vaganten durch Ausweisungsmandate zu lösen.

Das religiöse Gebot der Wohltätigkeit zwang die jüdischen Gemeinden zu solidarischer Hilfeleistung gegenüber ihren verarmten Glaubensgenossen. Über ein ausgeklügeltes System, das alle Mitglieder nach ihren jeweiligen finanziellen Möglichkeiten belastete (Billetoder Plettenverteilung), wurden durchziehende jüdische Bettler zur Versorgung den einzelnen ansässigen Familien zugewiesen. Welches Ausmaß die Bettlerzüge angenommen hatten, soll folgendes Beispiel, ebenfalls aus Schnaittach, verdeutlichen. Man erließ dort 1754 die Anordnung, daß nicht mehr als 28 Pletten pro Tag ausgegeben werden dürften. Größere und reichere Gemeinden wie Fürth unterhielten zur Unterbringung der Durch ziehenden eigene Herbergen, die nicht selten den Hospitälern oder Pfründneranstalten angeschlossen waren.

Die Geschichte der Fürther jüdischen Gemeinde, der wichtigsten und bedeutendsten Gemeinde Süddeutschlands, später auch von dem in Wien tätigen Rabbiner Sabbatai Scheftel Horwitz (1592–1660) wegen der vielen hier lebenden großen jüdischen Gelehrten als ebenso bedeutend wie Antiochia bezeichnet, beginnt im Jahr 1528. Aus kleinen Anfängen entwickelte sich Fürth zum größten jüdischen Gemeinwesen Süddeutschlands mit städtischem Gepräge. Die aus der komplizierten politischen Struktur des Marktes – bis 1792 konkurrierten die Reichsstadt Nürnberg, das Markgrafentum Ansbach und die Domprobstei Bamberg um Herrschaftsrechte – resultierenden Kompetenzstreitigkeiten eröffneten gewisse Freiräume, welche die Entwicklung der jüdischen Gemeinde begünstigten. Die Fürther Juden dienten dem Ansbacher Markgrafen in seinen machtpolitischen Auseinandersetzungen mit der Reichsstadt Nürnberg, die 1499 alle Juden vertrieben hatte und ihnen die Neuansiedlung bis 1856 verweigerte, als lebender Beweis seiner Ansprüche auf Fürth. So nahmen denn auch alle ansbachischen ebenso wie später die bambergischen Ausweisungsdekrete des 16. und 17. Jhs. die Fürther Judenschaft ausdrücklich aus.

Im Gegensatz zu den umliegenden Herrschaften statteten die Ansbacher und Bamberger ihre Fürther Schutzjuden mit einer Vielzahl von Privilegien aus, die die Gemeinde kontinuierlich wachsen ließen. 1617 wurde die erste Gemeindesynagoge errichtet, der im Lauf der Jahrhunderte vier weitere, eine Vielzahl privater Bet- und Lehrhäuser sowie andere Gemeindeeinrichtungen folgten. Einen starken Aufschwung nahm das jüdische Leben in Fürth, als sich nach der Vertreibung der Juden aus Wien (1670) die Fränkels, eine der vornehmsten Familien des Wiener Ghettos, in Fürth niederließen und mit der Stiftung einer Talmudschule (1707) den Ruf Fürths als eines der geistigen Zentren des europäischen Judentums begründeten. Die 1691 eingerichtete hebräische Druckerei in Fürth zog zusätzlich Gelehrte aus ganz Mittel- und Osteuropa an, die hier eine Möglichkeit sahen, ihre Werke drucken zu lassen. Der rabbinische Gerichtshof (Bet Din), der bei religiösen und juristischen Streitigkeiten häufig als Berufungsinstanz diente, festigte Fürths Stellung in der jüdischen Welt. Die jüdische Bevölkerung Fürths stieg stetig an: 1601 waren 22 Familien ansässig, 1706 100 Familien, 1752 500 Familien und 1806 schließlich 543 Familien. Zu diesem Zeitpunkt betrug der Anteil der Juden an der Fürther Gesamtbevölkerung etwa 22 %.

Die oben bereits angesprochenen Privilegien, mit denen die Ansbacher Markgrafen und die Bamberger Dompröbste die Fürther Juden ausstatteten, wurden zum ersten Mal 1719 in dem Reglement für die gemeine Judenschaft in Fürth niedergeschrieben. Es handelt sich um einen Bestätigungsbrief und eine Zusammenfassung früher erteilter Rechte. So wurde der Gemeinde in religiösen Fragen weitgehende Selbständigkeit garantiert. Sie durfte die Wahl von Rabbinern und anderem Gemeindepersonal frei regeln, Synagogen errichten und in innergemeindlichen Streitfällen ihre eigene Jurisdiktion ausüben. Außerdem lag die Entscheidung darüber, welche Juden sich in Fürth niederlassen durften, im Ermessensbereich der Gemeinde und nicht in dem des Landesherrn. Ein Mitspracherecht in der nichtjüdischen Gemeindeversammlung wurde den Juden ebenso zugestanden wie der freie Wegzug aus Fürth ohne Bezahlung einer Nachsteuer.

Die Fürther Privilegien unterschieden sich stark von den Rechten anderer süddeutscher Gemeinden. Als Vergleich sei hier die Judenordnung der Herrschaft Schwarzenberg von 1764 herangezogen, die unter anderem Scheinfeld und Marktbreit betraf. Hier behielt sich der Fürst die Bestellung der Kultusbeamten und Gemeindevorsteher vor. Jüdischer Grundbesitz war beschränkt, der in Fürth frei durchführbare Geldverleih mußte amtlich protokolliert werden, und bei Wegzug wurde eine hohe Nachsteuer fällig.

Die offizielle Politik gegenüber den Juden in den süddeutschen Territorien blieb, wie diese beiden Beispiele zeigen, auch noch während des 18. Jhs. schwankend. Die reichsunmittelbaren Ritterschaften und bischöflichen Territorien erlaubten und förderten jüdische Ansiedlungen aus wirtschaftlichen Motiven. Dagegen gewährten die Herzogtümer Bayern und Württemberg sowie die Mehrzahl der freien Reichsstädte mit Ausnahme einiger wohlhabender Hoffaktorenfamilien nach wie vor kein Niederlassungsrecht für Juden. In den süddeutschen Klein- und Mittelstaaten mit ihren teilweise sehr restriktiven Judenverordnungen galten Juden nach wie vor hauptsächlich als fiskalische Objekte und Untertanen minderen Rechts, die von der Obrigkeit mit Mißtrauen beobachtet wurden.

Seit der Mitte des 18. Jhs. verwarf die sich ausbreitende Aufklärung jedoch zusehends alte antijüdische Vorurteile und erlaubte einen freieren Blick auf das Judentum. Gleichzeitig veränderte sich im Zuge einer allgemeinen Säkularisierung auch die jüdische Traditionsgemeinschaft. Es begann eine allmähliche Anpassung der Juden an die Kultur der umgebenden Mehrheitsgesellschaft, die sich in der Lockerung religiöser Bräuche und der Hinwendung zu nichtjüdischen Bildungswerten äußerte. Die Anhänger der Aufklärung strebten eine “bürgerliche Verbesserung” der Juden – so der Titel einer Schrift des preußischen Kriegsgerichtsrat Christian Wilhelm Dohm von 1781 – und die Aufhebung ihrer immer noch in allen Lebensbereichen bestehenden Ausgrenzung an. Jedoch hatte die in Gelehrtenzirkeln diskutierte Frage der Judenemanzipation zunächst keine Breitenwirkung.

Im Zeitraum zwischen 1780 und 1850, der mit den Begriffen Naturalisierung, Reform, bürgerliche Verbesserung, Amalgamierung und Emanzipation beschrieben wird, war die jüdische Gemeinschaft tiefgreifenden Veränderungen unterworfen, die den gesetzmäßigen Status, die berufliche Aufgliederung, die kulturellen und religiösen Anschauungen sowie die Lebensgewohnheiten maßgeblich beeinflußten. Es begann eine Entwicklung, die die Juden aus der sozialen Isolierung und dem religiös-kulturellem Eigenleben, das ihre Existenz seit dem Mittelalter bestimmte, herausführte.

Die Emanzipation der Juden in den süddeutschen Staaten erhielt erst durch die Französische Revolution eine unerwartete Dynamik. 1791 hatte das revolutionäre Frankreich den französischen Juden das uneingeschränkte Bürgerrecht verliehen. Für Bayern, das hier exemplarisch für die süddeutschen Staaten behandelt wird, stellte sich die Frage der bürgerlichen Gleichstellung der Juden erst infolge der Revolutions- und Napoleonischen Kriege. Die Kurpfalz kam unter französische Herrschaft und damit unter französisches Recht, das die Juden den übrigen Einwohnern gleichstellte. Die territorialen Neuerwerbungen brachten dem Kurfürstentum und späteren Königreich Bayern einen massiven Zuwachs an jüdischer Bevölkerung. 96,5 % der nunmehr bayerischen Juden lebten in Franken (81,3 %) und Schwaben (15,2 %). Damit geriet die Frage der Behandlung der jüdischen Untertanen zwangsweise auf die politische Tagesordnung, da der Regierung an einer einheitlichen rechtlichen Einstufung der Juden in ihren Territorien gelegen war.

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