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Emanzipation (1860–1871)

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Als Otto von Bismarck 1862 preußischer Ministerpräsident wurde, zeichnete sich erstmals ein Durchbruch in der Gleichstellungsdebatte ab. Vor allem auf sein Drängen kam es in dem von Preußen begründeten Norddeutschen Bund 1869 zur Gleichberechtigung für alle Konfessionen, damit auch für die Juden. Die vollständige Emanzipation der Juden wurde dann 1871 für das neue deutsche Kaiserreich insgesamt gültig. Damit hatte die Frage der Bürgerrechte für die Juden Deutschlands, die sich so lange in der Schwebe befunden hatte, die Lösung erhalten, die der Liberalismus als vergleichsweise neue politische Kraft schon seit längerer Zeit gefordert hatte. Auch aus der Sicht der Juden selbst trat an die Stelle religiöser und sozialer Gegensätze nun die vor allem kulturell verstandene Einordnung unter eine Juden und Christen übergeordnete „begriffliche Einheit“. Diese „begriffliche Einheit“ waren Rechtsstaat und bürgerliche Gesellschaft, die sich in ihrer gegenseitig bedingenden Dualität fundamental von Rechtlosigkeit und Untertanentum unterschieden.

Wohnte in dieser Zeit die Mehrzahl der Juden noch in Kleinstädten und Dörfern, so nahm der Zuzug in Städte wie Berlin, Königsberg und Breslau nun in großem Umfang zu. Es entstand in zunehmendem Maße ein jüdisches Bürgertum. Berlins jüdische Gemeinde hatte 1817 lediglich 3700 Mitglieder gezählt. Im Jahre 1870 waren es bereits 36.105 oder 4,4 % der Gesamtbevölkerung Berlins und zehn Jahre später 53.916 bzw. 4,8 %. Bezogen auf ganz Deutschland erhöhte sich die Zahl der Juden zwischen 1815 bis 1870 allerdings nur unwesentlich auf etwa 470.000 (1867). Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung lag der Prozentsatz durchgehend bei ca. 1,2 %. Preußen vereinigte mit 218.750 Personen im Jahr 1848 knapp die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Deutschlands auf sich. Die territoriale Ausweitung von 1866 ließ die Zahl auf 314.797 bzw. 62 % steigen.

In den Staaten Norddeutschlands wie Bremen, Lübeck, Hamburg oder Sachsen-Altenburg blieb die Zahl der Juden konstant auf niedrigem Niveau. Zum Teil galt in diesen Territorien noch bis in die fünfziger und sechziger Jahre ein Ansiedlungsverbot für Juden. Hamburg verhielt sich seit den fünfziger Jahren den Juden gegenüber zunehmend fortschrittlich, was rasch zu einer deutlichen Zunahme der aschkenasischen Gemeinde führte. Vergleichsweise unbedeutend blieb in diesem Kontext das Königreich Sachsen, wo noch Mitte der vierziger Jahre wegen äußerst restriktiver Gesetze weniger als 1000 Juden lebten. Gegen Ende der sechziger Jahre stieg die Zahl auf über 3000.

Soziale Transformation und Gefährdung

Abgesehen von einigen Kleinstaaten verlief die soziale Transformation der Juden geradezu spektakulär. Ein relativ großer Teil des Judentums hatte schon früh begonnen, die bestehenden Machtstrukturen in Frage zu stellen und sich für fortschrittliche Lebensformen einzusetzen. Zu Recht hofften sie, daß es in einem liberalen Staat und in einer bürgerlichen Gesellschaft keine Benachteiligungen von Minderheiten mehr geben würde.

Neben herausragenden Karrieren gab es einen sich ausgesprochen breit entwickelnden und gut situierten Mittelstand. Noch 1843 waren von den insgesamt 21.739 selbständigen jüdischen Händlern in Preußen 61 % in den niedrigsten Sparten dieses Geschäftsbereichs anzusiedeln (Hausierer und Trödler, in Posen oft in Verbindung mit bescheidenster Schankwirtschaft). 1861 betrug die Zahl aller im Handel tätigen Juden Preußens, einschließlich der Unselbständigen, 38.683. Von ihnen waren 22.771 bzw. 59 % schon „richtige Kaufleute“. Diese lassen sich folgendermaßen aufgliedern:

Kaufleute in Preußen 1861


Eine ursprünglich unbedeutende Minderheit hatte sich auf breiter Basis von dem exterritorialen Status der einstigen Paria-Existenz gelöst und in der unterentwickelten Wirtschaft zunehmend wichtige Funktionen übernommen. Vor allem auf drei Sektoren waren Juden überproportional repräsentiert: Textilindustrie, Handel und Geldwirtschaft. Die Brüder Mannheimer hatten 1837 in Berlin als erste mit der konfektionsmäßigen Fertigung von Mänteln begonnen. Die Rothschilds bauten noch im Frankfurter Ghetto Finanzinstitute auf, die das europäische Anleihengeschäft beherrschten. Im Jahr 1862 gehörten von 642 Banken im Preußen allein 550 Juden, eine Dominanz, die sich in der Folgezeit nur langsam abbaute.

Aus Kleinhändlern und Geldverleihern wurden bedeutende Unternehmer. Beeindrucken de Beispiele hierfür lieferten in erster Linie die Rothschilds, die Warburgs in Hamburg, die Oppenheims in Köln, das Bankhaus Mendelssohn in Berlin sowie Bismarcks Bankier Gerson von Bleichröder, der reichste Mann Berlins, der mit den französischen Rothschilds die Kriegskontributionen aushandelte, die Frankreich nach 1871 an Preußen zu zahlen hatte. Gerade Bleichröder illustriert auf besondere Weise den Aufstieg von jüdischen Unternehmern. Noch sein Großvater hatte sich um 1740 nur deshalb in Berlin ansiedeln können, weil die Gemeinde bereit gewesen war, ihn als Totengräber für den jüdischen Friedhof einzustellen.

Der Beginn der Industrialisierung überlappte sich mit der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte der deutschen, zumal der preußischen Juden. Hierfür gibt es viele Gründe. Ein wesentlicher ist jedoch sicherlich der, daß geschäftliche Erfolge für Außenseiter wie Juden fast den einzigen Weg des gesellschaftlichen Aufstiegs darstellten. Gleichzeitig barg die erfolgreiche Rolle, die die deutschen Juden im 19. Jh. in dem ökonomischen Prozeß der Abwendung von überkommenen Wirtschafts- und Sozialvorstellungen und der Entstehung des Kapitalismus spielten, auch eine Gefahr. Sobald diese Rolle nämlich im Sinne einer Verschwörungstheorie auf eine „jüdische Komplizenschaft“ reduziert wurde, sobald Reaktionäre in den Juden die angeblich entscheidende Antriebskraft einer vorwärtsstürmenden Moderne auszumachen vermochten und hiermit auch Zuspruch in der Öffentlichkeit fanden, war die Lage dieser Minderheit gefährdet.

Anders formuliert: Als der Liberalismus 1860 seinen Höhepunkt erreicht hatte, befand sich die stets latent vorhandene Judenfeindschaft, die im Antisemitismus bald einen modernisierten Ausdruck finden sollte, auf dem Tiefpunkt. Eine Wende setzte jedoch mit dem Gründerkrach von 1873 ein. Der Kapitalismus hatte erstmals demonstriert, daß allgemeine Prosperität und profitable Haussespekulation nur eine, eben die positive Seite der Medaille waren. Mit der Desillusionierung begann der Niedergang des Liberalismus. Der Wind blies nun aus einer anderen Richtung. Und von da an hatten ihn die Juden fast ständig im Gesicht.

1 Angaben nach: Stern 1962ff., Bd. 1, S. 123.

2 Angaben nach: Bruer 1991, S. 84.

3 Christian Wilhelm Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Teil I, Berlin/Stettin 1781, S. 34ff.

4 Fichte, Werke VI, S. 149f.

5 Zitiert nach: Elbogen/Sterling 1966, S. 233.

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