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Veränderungen durch die Aufklärung (1770–1805)

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Die Veränderungen, denen das preußische Judentum während des 18. und 19. Jhs. unterworfen war, zählen zu den spannendsten Prozessen, die die europäische Sozialgeschichte zu bieten hat. Wie in fast allen deutschen Territorien mit jüdischen Niederlassungen hatten auch in Preußen die jüdischen Gemeinden auf den externen Druck der Staatsgewalt mit einer zunehmenden internen Hierarchisierung reagiert. Die Geschicke der Gemeindemitglieder wurden von den Angehörigen der Oberschichten, die im Bunde mit den Rabbinern standen, lange Zeit nahezu absolutistisch regiert. Im ausgehenden 18. Jh. rebellierten dann die gebildete Jugend und soziale Aufsteiger gegen die Herrschaftskombination aus neuem Reichtum und alter Schriftgelehrtheit. Die Revolte stand im Zeichen der jüdischen Aufklärung (Haskala) und bildete den Anstoß für einen Modernisierungsprozeß des preußischen Judentums.

Das traditionelle, von Schriftgelehrten und Rabbinern stets aufs Neue interpretierte jüdische Wertesystem war jahrtausendelang die wichtigste Grundlage für die Existenz der Juden inmitten verschiedenster Kulturen. Die jüdische Aufklärung versetzte dieser traditionellen Schriftgelehrtheit einen so heftigen Stoß, daß diese ihre prägende Kraft für das geistige und soziale Leben in den Gemeinden West- und Mitteleuropas verlor. Nur in den osteuropäischen Gebieten konnte die rabbinische Orthodoxie ihren Machtanspruch behaupten. In Preußen waren es zuerst die wohlhabenden Familien und einzelne wie Moses Mendelssohn, die sich häufig bei der jüdischen Finanzaristokratie als Hauslehrer verdingten, die sich von der traditionellen, strikt an den religiösen Vorschriften orientierten und nach außen abgeschlossenen Lebensform abwandten. In der Haskala formierten sich diese einzelnen zu einer Bewegung, die mit Unterstützung des Staates eine neue, schon auf die Assimilation gerichtete Lebensform proklamierte.

Sobald die Werte dieser neuen Lebensform in das Bildungssystem eindrangen, konnte kein Zweifel mehr bestehen, daß der jüdische Traditionalismus zu einer versöhnlichen Haltung finden mußte, wenn er nicht à la longue völlig untergehen wollte. Diese reformerische Position konnte nur in einem Mittelweg zwischen Haskala und Tradition bestehen. Sie sollte sich erst in den zwanziger Jahren des 19. Jhs. entwickeln.

Eine Alternative zum Umbau des jüdischen Bildungssystems gab es nicht. Mit dem Übergang vom merkantilen Wirtschaftssystem zur Industriegesellschaft stiegen allenthalben die erwerbsbedingten Anforderungen an die Bevölkerung. Im Rückblick bildeten die Reform und die Öffnung des jüdischen Bildungssystems zu Wissensdisziplinen wie der deutschen Sprache oder auch der Mathematik die Voraussetzung für das Entstehen einer breiten jüdischen Mittelklasse, die ihren Lebensunterhalt dank guter Ausbildung auch als Angestellte verdienen konnte. Wenn man bedenkt, daß noch an der Wende vom 18. zum 19. Jh. die überwältigende Mehrheit der deutschen Juden in bitterster Armut gelebt hatte, stellte diese Entstehung einer jüdischen Mittelklasse einen der markantesten sozialgeschichtlichen Prozesse in der jüdischen Geschichte des 19. Jhs. dar. So gesehen bildeten Preußens Aufklärung und Haskala die Anfänge einer bemerkenswerten Wende, die schließlich ganz Mitteleuropa erfassen sollte.

Aufklärung und Haskala führten auch zu Veränderungen im christlichen Judenbild, das jahrhundertelang von Diskriminierung und Feindseligkeit, ja sogar Haß geprägt gewesen war. In seinem Jugendstück Die Juden präsentierte Gotthold Ephraim Lessing 1749 einen Juden auf der Bühne, über den ein Christ sagt: „[…] verehrungswürdig wären die Juden, wenn sie alle Ihnen glichen.“ Die Antwort des Juden: „Und wie liebenswürdig die Christen, wenn sie alle Ihre Eigenschaften besäßen.“ In seinem Nathan der Weise setzte Lessing 1779 das mit den Juden angeschnittene Thema fort. Ein Klosterbruder urteilt über den Titelhelden: „Nathan […] Ihr seid ein Christ! Ein besserer Christ war nie!“ Dieser erwidert kühl: „[…] was mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir zum Juden.“ Lessings Stücke, die für eine Versöhnung der Religionen im Zeichen der Vernunft plädierten und dabei das Judentum durchaus in einem positiven Licht erscheinen ließen, sind nur die prominentesten Beispiele einer allgemeinen Tendenz auf den Berliner Bühnen. Zahllose Autoren verwandelten Shakespeares Shylock in einen „guten Juden“.

Programm zur Verbürgerlichung

Das epochemachende und ungewöhnlich intensive Debatten auslösende Plädoyer für die Emanzipation der Juden schrieb ein Freund von Moses Mendelssohn und Lessing. Mendelssohn hatte stets die Ansicht vertreten, daß Schriften zur Verteidigung der Juden besser von Nichtjuden kommen sollten. Als sich elsässische Juden 1781 mit der Bitte um Abfassung einer Schutzschrift an ihn wandten, bat er folglich den preußischen Verwaltungsbeamten Christian Wilhelm von Dohm (1751–1820), diese Aufgabe zu übernehmen. Dohm verfaßte daraufhin eine Verteidigungsschrift, die sich als das grundlegende Werk der Aufklärung zur Judenfrage erweisen sollte.

Dohm hielt durchaus an der negativen Einschätzung der Juden fest:

Ich kann es zugeben, daß die Juden sittlich verdorbener sein mögen als andere Nationen; daß sie sich einer verhältnismäßig größeren Zahl von Vergehungen schuldig machen als die Christen, daß ihr Charakter im ganzen mehr zu Wucher und Hintergehungen im Handel gestimmt, ihr Religionsvorurteil brennender und ungeselliger sei.

Er beließ es jedoch nicht bei dieser negativen Sicht.

Ganz im Sinne der deutschen Aufklärung, die für Mißstände stets vernunftwidrige, äußere Umstände verantwortlich machte, folgerte Dohm, daß die

einmal vorausgesetzte größere Verdorbenheit der Juden eine notwendige und natürliche Folge der drückenden Verfassung ist, in der sie sich seit so vielen Jahrhunderten befinden.

Diese Politik nannte er

ein Überbleibsel der Barbarei der verflossenen Jahrhunderte, eine Wirkung fanatischen Religionshasses, die der Aufklärung unserer Zeit unwürdig, durch dieselbe längst hätte getilgt werden sollen.3

Sein Vorschlag zur Änderung dieses Zustandes zielte vor allem auf die völlige Gleichberechtigung. Mit Dohms Schrift lag das Programm zur Verbürgerlichung der Juden in Preußen und Deutschland auf der Basis der rechtlichen Gleichstellung vor. Als eine der wichtigsten Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang ergriffen werden sollten, betrachtete Dohm es, die Juden von den Handelsberufen abzubringen und sie für Ackerbau und Handwerk zu interessieren.

Die von christlichen Aufklärern und jüdischen Maskilim unternommenen Anstrengungen zur Verbürgerlichung der preußischen Juden stellen freilich nur die eine Seite der Medaille dar. Die Beharrungskräfte waren vor allem unter den polnischen Juden, die durch die polnischen Teilungen (1772, 1793 und 1795) unter preußische Herrschaft kamen und an Zahl die vom Hohenzollernstaat geprägten westlichen Juden weit übertrafen, sehr stark. Diese osteuropäischen Juden verkörperten in ihrer ungebrochenen Bindung an die Tradition genau die Lebensformen, von denen sich ein beträchtlicher Teil der Juden im Westen schon entfernt hatte. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß sich die traditionelle jüdische Bildung in Preußen bald nur noch mit Lehrern und Schriftgelehrten aus Polen aufrechterhalten ließ.

Mit ihrem Festhalten an den traditionellen Lebensformen bildeten Preußens polnische Juden – wie die des Ostens generell – das mächtigste Bollwerk gegen die Assimilation. Sowohl für ihre um Assimilation bemühten Glaubensgenossen im Westen als für deren christliche Umgebung waren die Ostjuden deshalb eine ständige Erinnerung an das von der Aufklärung bekämpfte Zerrbild des Juden.

Sachsen und Hamburg

In Sachsen hing die Ansiedlung der Juden mit dem in Dresden ansässigen Unternehmer und Hofjuden Behrend Lehmann (Issachar Bermann) aus Halberstadt zusammen, der für den Kurfürst August praktisch unentbehrlich war. Im Jahre 1697 stellte er beispielsweise dem Kurfürsten von Sachsen die für die Erwerbung des polnischen Thrones benötigten zehn Millionen Taler zur Verfügung. Aus einigen Familien im Einflußbereichs Lehmanns entwickelten sich in Dresden und Leipzig bedeutende jüdische Gemeinden.

Parallelen zu Preußen sind darin zu finden, daß Sachsens Bürokratie gegen die vor allem in Zentren wie Dresden und Leipzig stark gewachsenen Gemeinden restriktiv vorging. Den „Privilegierten“ bürdete man für die ihnen bewilligten „Konzessionen“ schwere Steuerlasten auf, während man bestrebt war, die Unbemittelten auszuweisen. Dies geschah z.B. 1777 in Dresden, als mehrere hundert Juden aus der Stadt vertrieben wurden. In den folgenden Jahren verlief die Judenpolitik Sachsens eher unspektakulär.

Als Vergleich zu Preußen und aufgrund der durch die Situation der Hafen- und Hansestadt bedingten Sonderentwicklung verdient die jüdische Ansiedlung in Hamburg und in den benachbarten dänischen Städten wie Altona besonderes Interesse. Hamburg ist fast die einzige Stadt Deutschlands, in der sowohl eine aschkenasische als auch eine sefardische Gemeinde existierte. Schon in der ersten Hälfte des 17. Jhs. hatten sich die von der Iberischen Halbinsel vertriebenen Sefardim in Hamburg niedergelassen. Für den Überseehandel der Region kam ihnen große Bedeutung zu, da sie über weitverzweigte Kontakte verfügten. Demzufolge war die Politik des Hamburger Senats ihnen gegenüber – trotz des Widerstandes der christlichen Kaufmannschaft und der Geistlichkeit – vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht großzügig.

Die Situation der Aschkenasim war zunächst ungleich schwieriger. In der Hansestadt selbst entstand im Umfeld der sefardischen Gemeinde im 17. Jh. nur eine kleine Kolonie von Aschkenasim, die sich als Hausangestellte der wohlhabenderen sefardischen Kaufleute und später auch als selbständige Kleinhändler betätigten. Diese von den Sefardim „Tudescos“ (Deutsche) genannten aschkenasischen Juden mußten Hamburg 1649 auf Verlangen der Bürgerschaft verlassen, kehrten jedoch bald in die Stadt zurück. Einige von ihnen ließen sich jedoch auch in den zu Dänemark gehörenden Städten Altona und Wandsbek nieder, in denen zu diesem Zeitpunkt bereits aschkenasische Gemeinden existierten. Auch hier hatten sie jedoch unter der Feindseligkeit der christlichen Bevölkerung zu leiden – allein in Altona kam es während des 17. und 18. Jhs. viermal zu öffentlichen Ausschreitungen gegen die Juden.

In Hamburg begann die aschkenasische Gemeinde die sefardische Gemeinde in den letzten Jahrzehnten des 17. Jhs. sowohl in demographischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht einzuholen, und im 18. Jh. gelang es ihr, diese in beiden Beziehungen bei weitem zu übertreffen. Während die sefardische Gemeinde um 1800 fast in die Bedeutungslosigkeit herabgesunken war, war die aschkenasische Gemeinde zu dieser Zeit die größte Deutschlands. Die rechtlichen Bedingungen für ihren Aufenthalt in der Stadt formulierte die 1710 erlassene Judenordnung, die einen Bestandteil des auf kaiserliche Intervention zustande gekommenen Langen Rezesses aus demselben Jahr darstellte. Laut dieser Judenordnung, die die aschkenasischen Juden erstmals den sefardischen Juden gleichstellte, hatte die aschkenasische Gemeinde neben den normalen und außerordentlichen Abgaben, die alle Stadtbürger zahlen mußten, Sonderzahlungen zu leisten, die zwischen Stadt und Judenschaft je nach Vermögen jährlich festgelegt wurden. Das Reglement von 1710 galt bis zur Zeit Napoleons und wurde nach 1815 wieder in Kraft gesetzt.

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