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Das 19. Jahrhundert

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Die bis in die Mitte des 19. Jhs. gültige Grundposition der bayerischen Judenpolitik wurde in einem kurfürstlichen Reskript vom Januar 1801 festgeschrieben. Ausgehend von der grundsätzlichen „Schädlichkeit“ der Juden für den Staat und einem negativen Urteil über ihre gegenwärtige Verfassung, formulierte der Staat einen Erziehungsanspruch, der nur dem „nützlichen Staatsbürger“ Gleichberechtigung bei Anpassung und Wohlverhalten verhieß. Gleichzeitig verschlechterte der bayerische Staat die ohnehin schon prekäre wirtschaftliche Lage der Landjuden durch das Verbot jeglichen Güterhandels, ohne ihnen die im Reskript angesprochenen weiteren Wirtschaftszweige tatsächlich zu eröffnen.

Die ins Auge gefaßten Reformen wurden jedoch nicht konsequent durchgeführt. Zwar wurden mit der Öffnung aller höheren und niederen Schulen, mit der Einführung der Militärdienstpflicht und mit der Abschaffung des Leibzolls einige Einzelfragen gelöst, aber der Versuch einer Gesamtlösung erfolgte erst 1813 mit dem Edikt Die Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen betreffend. Das Judenedikt hatte einen hächst restriktiven Charakter, aber für den Großteil der betroffenen Juden bedeutete es zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein gewisses Maß an Rechtssicherheit. Dem Grundsatz nach strebte es zwar eine Gleichstellung mit der übrigen Bevölkerung an, aber die Vielzahl der formulierten Einschränkungen verkehrte diese Intention nahezu ins Gegenteil.

Die Rechte des Edikts kamen nur denjenigen zugute, die das bayerische Bürgerrecht erworben hatten und sich innerhalb von drei Monaten unter Annahme eines deutschen Familiennamens in eine gesonderte Judenmatrikel eintragen ließen. Das Edikt sah jedoch keine Niederlassungsfreiheit vor, denn in den einzelnen Judenorten durfte die Anzahl der Familien nicht erhöht werden. Ausnahmen gab es nur für Gründer von Fabriken und Handelsunternehmen. Der Hausierer-, Not- und Schacherhandel wurde verboten, der Güterhandel eingeschränkt, neue Erwerbsquellen in Handwerk und Landwirtschaft sollten dafür ermöglicht werden.

Die jüdischen Gemeinden erhielten den Status einer Privatkirchengesellschaft. Gleich zeitig griff das Edikt massiv in die religiöse Selbstverwaltung ein. Rabbiner wurden vom Generalkommissariat ernannt, mußten eine wissenschaftliche Ausbildung besitzen und wurden in ihrer Funktion allein auf kultische Aufgaben beschränkt. Mit dieser Bestimmung versuchte man, den Einfluß der Traditionalisten innerhalb der jüdischen Gemeinden zurückzudrängen.

Die Folgen des Edikts für die jüdische Bevölkerung waren schwerwiegend. Besonders der bis 1861 geltende Matrikelparagraph hatte weitreichende Konsequenzen. Die Einschränkung der Niederlassungsfreiheit hatte eine große Auswanderungswelle zur Folge, da vor allem die junge Generation keine Chancen auf eine gesicherte Zukunft sah. Schätzungsweise 11.000 Juden verließen deshalb Bayern mit dem Ziel Amerika. Der bayerische Anteil an der jüdischen Gesamtbevölkerung Deutschlands sank zwischen 1813 und 1871 von 20 auf 10 %. Aus der Pfalz und dem Bezirk Kissingen wanderten bis 1861 20 % der Juden nach Amerika aus. Bei den Emigranten handelte es sich in der Regel um unverheiratete berufstätige jüngere Männer und Frauen. Aus Tigerfeld, einem kleinen Dorf in Württemberg, emigrierte die gesamte jüdische Gemeinde mit Ausnahme der Alten und Kranken in die USA.

Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Judenedikts setzte eine Jahrzehnte dauernde, erregte öffentlich Diskussion über die Emanzipationsfrage ein, die in Flugschriften, Petitionen und Gutachten ihren Ausdruck fand. Die jüdischen Gemeinden, allen voran die in Fürth und München, forderten eine Revision der diskriminierenden Bestimmungen und die volle rechtliche Gleichstellung. Zeitgleich formierte sich jedoch eine lautstarke Opposition, die eine Emanzipation der Juden radikal ablehnte oder als Voraussetzung für diese eine bedingungslose Assimilation durch eine Aufhebung der Speisegesetze, die Verlegung des Schabbat auf den Sonntag und die Abschaffung der hebräischen Sprache im Gottesdienst forderte. Auf der Basis religiös begründeter Vorurteile und wirtschaftlichen Konkurrenzneides entstanden antijüdische Karikaturen, Bilderbögen und Theaterstücke, die die antisemitische Propaganda noch im 20. Jh. prägen sollten. Weite Verbreitung und einen überwältigenden Erfolg hatte die 1814 in Wien gedruckte Posse Unser Verkehr von Carl Borromäus Alexander Sessa, in der die Bemühungen der Juden um Emanzipation lächerlich gemacht und Juden als vornehmlich geldgierig charakterisiert wurden.

In Süddeutschland schufen Schriften wie der Judenspiegel des preußischen Schriftstellers Hartwig von Hundt-Radowsky, der 1819 empfahl, sich der Juden durch Ausweisung oder physische Vernichtung zu entledigen, ein Klima, das die Pogrome dieses Jahres, die sog. Hep-Hep-Unruhen, geistig vorbereitete. Diese Verfolgungswelle, die 1819 im unterfränkischen Würzburg ausbrach und innerhalb weniger Tage und Wochen auf ganz Deutschland und die angrenzenden Staaten übergriff, äußerte sich in tätlichen Angriffen auf Juden, in Demolierungen und Plünderungen ihrer Häuser, Geschäfte und Warenlager sowie in der Verwüstung und Zerstörung von Synagogen. In Würzburg flohen jüdische Familien aus der Stadt und kehrten erst, nachdem sie mehrere Tage unter Militärschutz auf Feldern außerhalb der Stadt kampiert hatten, wieder zurück. Der Würzburger Professor Sebald Bendel, der öffentlich eine Emanzipation der Juden befürwortet hatte, wurde das Opfer mehrerer Attentate. In Frankfurt a.M., in Fulda und in einigen Teilen Badens, wo es vor allem in Heidelberg und Karlsruhe zu erheblichen Tumulten kam, mußte die öffentliche Ordnung durch Entsendung und Stationierung von Truppen wiederhergestellt werden.

Der Kampf der Juden um ihre rechtliche und bürgerliche Gleichstellung mit den übrigen bayerischen Untertanen sollte sich jedoch noch Jahrzehnte hinziehen. Gesetzesentwürfe zur Revision des Judenedikts erhielten in den Kammern des bayerischen Landtages keine Mehrheiten. Wiederholte Petitionen der Kultusgemeinden Fürth, Bamberg und München, bedeutender Rabbiner wie Samson Wolf Rosenfeld oder auch der angesehenen Bankiers Baron Jacob von Hirsch und Baron Rothschild blieben ohne jeglichen Erfolg.

Das als Folge der Revolution von 1848 in den Landtag eingebrachte Gesetz, das die vollkommene bürgerliche und politische Gleichstellung der Juden vorsah, wurde nach einer Flut von Petitionen 1850 in der Kammer der Reichsräte abgewiesen. Erst 1861 wurde der von jüdischer Seite besonders bekämpfte Matrikelparagraph aufgehoben. Damit wurde den bayerischen Juden zum ersten Mal das Recht auf Freizügigkeit eingeräumt. Weitere Einschränkungen fielen in den folgenden Jahren, und 1871 schließlich folgte per Reichsgesetz die endgültige Gleichstellung.

Auch in den anderen süddeutschen Staaten brachten erst die sechziger Jahre des 19. Jhs. eine deutliche Verbesserung für die Juden, nachdem rechtliche Errungenschaften der gescheiterten Revolution von 1848/49 von der anschließend einsetzende Reaktion vielfach rückgängig gemacht worden waren. 1864 war die bürgerliche Gleichstellung der Juden in Württemberg vollendet, 1862 hatte die Judenemanzipation in Baden ihren Abschluß erreicht.

Im Zeitraum zwischen 1848 und 1871 läßt sich trotz der nach wie vor geltenden rechtlichen Einschränkungen ein enormer wirtschaftlicher Erfolg der süddeutschen Juden und ein damit verbundener sozialer Aufstieg konstatieren. Jahrhundertelang auf den Geld- und Warenhandel beschränkt, engagierten sie sich auch im 19. Jh. in diesen Wirtschaftszweigen, die höchste Expansionsraten aufzuweisen hatten. Eine gesellschaftliche Integration der Juden in die sie umgebende Mehrheitsgesellschaft fand jedoch nicht statt, wenn auch die Akkulturation der Juden an die Lebensweise der nichtjüdischen Umwelt immer stärker wurde. In den fränkischen und schwäbischen Landgemeinden, aber auch in größeren Städten wie Fürth scheinen eher zwei nebeneinander bestehende Gesellschaften entstanden zu sein, die seit der Mitte des 19. Jhs. größere Berührungspunkte, vornehmlich im geschäftlichen Bereich entwickelten. Diesen Schluß lassen, zumindest für Fürth und München, die Tagebücher von Clementine Ortenau (1838–1920) zu. Die Gattin des ersten jüdischen Kriegsgerichtsrates in Bayern, Ignaz Ortenau, die sich in beiden Städten in der jüdischen Oberschicht bewegte, notierte in ihren aus dem Zeitraum 1859–1864 erhaltenen Aufzeichnungen akribisch alle gesellschaftlichen Beziehungen. Nichtjuden werden nicht erwähnt.

Auf der Ebene des Bildungsbürgertums nahmen die Kontakte zwischen Juden und Christen jedoch nachweislich zu. So engagierte sich beispielsweise der Fürther Reformrabbiner Isaak Loewi (um 1802–1873) beim Bau der ersten deutschen Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth und war Gründungsmitglied des Gewerbevereins. Von ihm ist über liefert, daß er sich regelmäßig mit seinen protestantischen und katholischen Amtskollegen zum Stammtisch traf.

Im Bereich der jüdischen Unterschicht scheinen die Beziehungsgeflechte zu Nichtjuden intensiver gewesen zu sein. Für Fürth lassen sich seit den zwanziger Jahren des 19. Jhs. Kontakte zwischen beiden Gruppen nachweisen, sowohl kurzfristige Verhältnisse wie auch langjährige Beziehungen, aus denen Kinder hervorgingen. Ehen zwischen Juden und Christen wurden jedoch selten geschlossen.

Die Einführung der Freizügigkeit leitete das Ende der Epoche der süddeutschen Landjuden ein. Bis in die Emanzipationszeit hinein hatten 80 % der jüdischen Bevölkerung auf dem Land gelebt. Nach 1871 begannen sich viele der jüdischen Landgemeinden aufzulösen. Die jüngere Generation und die vermögende Oberschicht wanderten aus den häufig abgelegenen Dörfern, die nur schlechte Verdienstmöglichkeiten boten, in die Städte ab. Die Gemeinden schrumpften, überalterten und verarmten. Synagogen und andere Gebäude wurden verkauft. Bis 1900 verringerte sich die Zahl der bayerischen Landgemeinden um ein Drittel. In den zwanziger Jahren des 20. Jhs. waren die Auflösungstendenzen bereits so weit fortgeschritten, daß der „Verband der Israelitischen Gemeinden Bayerns“ eine historische Kommission ins Leben rief, die sich mit der Erfassung der jüdischen Kunstdenkmäler Bayerns befassen sollte. So entstand noch vor der endgültigen Zerstörung der jüdischen Landgemeinden durch die Schoa eine Bestandsaufnahme der reichen Kulturschätze einer im Untergang begriffenen Welt.

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