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Zeit der Bedrohung (1933–1945)
ОглавлениеNach 1933 kam es zu einer Bewährungsprobe für die Schweizer Parteien. Die faschistischen „Fronten“ waren 1933/34 im Aufwind, und sogar bürgerliche Parteien gingen Listenverbindungen mit ihnen ein. Zunehmend wurde jedoch das NS-Regime als Bedrohung für die Unabhängigkeit der Schweiz empfunden, und nach 1935 verloren rechtsextreme Parteien an Bedeutung. In einem Prozeß wurden die Protokolle der Weisen von Zion durch die Bemühungen des Rechtsanwaltes Georges Brunschwig gegen die deutsche Regierung gerichtlich als „Schundliteratur“ bezeichnet. Eine weitere kritische politische Situation entstand, als der NSDAP-Führer Wilhelm Gustloff in Davos durch einen Juden, David Frankfurter, erschossen wurde. Die neutrale Schweiz bildete für internationale jüdische Organisationen einen wichtigen Stützpunkt im nach 1939 von den Nationalsozialisten dominierten Kontinentaleuropa, z.B. für den 1935 am Sitz des Völkerbundes in Genf gegründeten „World Jewish Congress“, der von dem ehemaligen Berliner Rechtsanwalt Gerhart Riegner vertreten wurde, das „American Joint Distribution Committee“ und die Dachorganisation zionistischer Jugendbünde Hechaluz mit Nathan Schwalb. Erst heute werden nähere Einzelheiten über Botendienste, kodierte Korrespondenzen und Widerstandsarbeit für die verfolgten Juden bekannt. Wichtig waren dabei auch die jüdischen Jugendbewegungen. Die Emigranten, meist jüdischer Herkunft, führten das Zürcher Schauspielhaus zu europäischer Bedeutung als freie Bühne deutscher Kultur.
Trotz der Abwehr der NS-Politik war die politische Klasse der Schweiz den jüdischen Flüchtlingen gegenüber nicht sonderlich freundlich eingestellt. Die Politik differenzierte schon 1933 zwischen zuzulassenden „politischen“ Flüchtlingen (de facto Sozialdemokraten und Kommunisten, die eine aktive Parteistellung und direkte persönliche Verfolgung nachweisen konnten) und abzuweisenden „rassisch Verfolgten“, d.h. Juden. Das Schlagwort von der „Überfremdung“ war damals eindeutig antijüdisch konnotiert. Der Chef der eidgenössischen Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, versicherte anläßlich eines Besuchs im KZ Oranienburg im Oktober 1938 den deutschen Behörden, daß die Schweiz erfolgreich eine „Verjudung“(!) verhindert habe. Viele Flüchtlinge wurden gedrängt, weiterzureisen, oder an der Grenze zurückgewiesen. Vermögende Juden wurden teilweise bevorzugt. Die jüdische Gemeinschaft mußte die Kosten für die aufgenommenen jüdischen Flüchtlinge bezahlen, während der Staat sich bis 1939 weitgehend dieser Aufgabe entzog. Diese konfessionelle Solidarhaftung war singulär. Um Juden von Nichtjuden unterscheiden zu können, vereinbarten die Schweizer Unterhändler mit NS-Deutschland im Herbst 1938 die Kennzeichnung der deutschen Pässe durch ein „J“.
Aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Basis von Informationen über den Massenmord an den europäischen Juden schloß der Bundesrat im Frühling/Sommer 1942 die Grenzen für einen großen Teil der „rassisch“ Verfolgten. Zwischen dreißig- und vierzigtausend Juden wurden an der Grenze zurückgewiesen, was für die meisten den sicheren Tod bedeutete. Die Internierung der Zugelassenen erfolgte in Lagern, deren Kommandanten unterschiedlich eingestellt waren. Der bekannte Germanist Hans Mayer wurde beispielsweise im Zuchthaus Witzwil interniert und daran gehindert, sein Fähigkeiten einzusetzen. Ob die Entsumpfung oder der Straßenbau durch die meist dem großstädtischen Milieu entstammenden Flüchtlinge sinnvoll waren und man nicht die professionelle Ausbildung der Emigranten hätte besser nutzen können, müssen Forschungen erst noch untersuchen. Das Verhalten gegenüber den Behörden war für die jüdischen Repräsentanten sehr schwierig.
1943 mußte der Vorsitzende des SIG, Saly Mayer, ein Kaufmann aus St. Gallen und Vertrauensmann des „American Joint Distribution Committee“, zurücktreten, weil er einigen jüdischen Politikern als zu anpasserisch galt. Während 1942 für den katholisch-konservativen Nationalrat Heinrich Walther aus Luzern mit 5000 Juden „das Boot voll“ war, wurden 1944 hunderttausend französische Flüchtlinge aufgenommen.