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Abwehrstrategien gegen den Antisemitismus
ОглавлениеEs war Heinrich von Treitschke, der den Antisemitismus in Deutschland in den Kreisen des nationalen Bürgertums salonfähig machte. Der Berliner Historiker und zeitweilige Reichstagsabgeordnete trug mit seinen Aufsätzen, Broschüren und Büchern, insbesondere mit seinem vielgelesenen Geschichtswerk Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert (5 Bde., 1879–1894) seit dem Ende der siebziger Jahre zur Verbreitung antijüdischer Stereotypen im Bildungsbürgertum bei. Vielleicht mehr noch als Richard Wagners Rassenhetze und die Straßenagitation des protestantischen Hofpredigers Adolf Stoecker kerbte sich sein Schlachtruf „Die Juden sind unser Unglück“ in das allgemeine Bewußtsein ein und beeinflußte das politische Verhalten bürgerlicher Kreise in den Jahren des Kaiserreichs und danach.
Mit Ausnahme des Historikers Theodor Mommsen waren es hauptsächlich Männer jüdischer Herkunft, die sich gegen Treitschkes Auffassungen in der sogenannten „Judenfrage“ wandten. In Broschüren und Zeitungsartikeln wurden sie nicht müde zu versichern, die Juden würden sich als Deutsche fühlen und unterschieden sich von den christlichen Deutschen nur durch gewisse Verschiedenheiten des religiösen Glaubens. Auffallend war, daß die jüdischen Verteidiger sich zwar wortreich gegen die infame Hetze Treitschkes und der Antisemiten wandten, aber es in gewisser Weise es doch nicht verstanden, sich so zur Wehr zu setzen, wie es notwendig gewesen wäre. Ihre Apologien wurden von vielen Nichtjuden – und nicht nur von erklärten Antisemiten – als „unwürdig anbiedernde Stellungnahmen“ (Alex Bein) empfunden. Der Schriftsteller Berthold Auerbach ahnte, daß der Abwehr Grenzen gesetzt sein würden. In einem seiner zahlreichen Briefe, die an seinen Freund Jacob Auerbach gerichtet waren, klagte er: „Es ist zum Verzweifeln, in den Freiesten steckt ein Hochmuth und Widerwille gegen die Juden, der nur auf die Gelegenheit wartet, um zu Tag zu kommen.“2
Bei aller Skepsis gegenüber der Wirksamkeit aufklärerischer Maßnahmen bemühte man sich aber dennoch, durch gezielte Gegeninformation den Antisemitismus zu bekämpfen. Noch war der Glaube an die Vernunft und den moralischen Fortschritt ungebrochen. Die Mitglieder des 1893 gegründeten „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (C.V.) sahen im Antisemitismus eine „heilbare Krankheit“, lästig, aber keinesfalls gefährlich. Die Zuversicht, es werde gelingen, die „Überreste der Vergangenheit“ auf den „Schutthaufen der Geschichte“ zu kehren, gehörte zur Grundüberzeugung des „Centralvereins“ und nährte sich aus der Gedankenwelt der Aufklärung, der Klassik und des Idealismus sowie dem Glauben, daß Humanität und Gleichheit die Menschheit prägen würden.
Die Abwehrpropaganda des C. V. bemühte sich, die Argumentation dem Denken und Fühlen der Gegner mit dem Ziel anzupassen, diese von der Unrichtigkeit ihrer Behauptungen zu überzeugen. Falschen Angaben sollte nicht nur widersprochen, sondern diese sollten mit Tatsachenmaterial widerlegt werden. Die Themen, mit denen man sich dabei befaßte, bezogen sich insbesondere auf die Rolle des Sündenbocks, die behauptete Kollektivverantwortung der Juden für alle Übel der Welt, die angebliche jüdische Minderwertigkeit sowie die mangelnde Vaterlandsliebe, die von den Antisemiten bei jeder sich bietenden Gelegenheit immer wieder ins Feld geführt wurde, um die „Fremdstämmigkeit“ der Juden zu beweisen.
Der C. V., der 1918 rund 40.000 und 1926 rund 60.000 Mitglieder zählte und mit den ihm angeschlossenen Vereinigungen etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung Deutschlands umfaßte, betonte in seinem Programm nicht nur den Kampf um die Gleichberechtigung, sondern auch das Ziel der Integration. In seinen Leitsätzen hieß es zunächst: „Wir sind nicht deutsche Juden, sondern deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens.“ Und an anderer Stelle: „Wir deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens stehen fest auf dem Boden der deutschen Nationalität.“3 Diese Sätze sind repräsentativ für das nationale Selbstverständnis vieler deutscher Juden am Ende des 19. Jhs.