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Zwischen Selbstzweifel und Selbsthaß

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Die vom Kriegsministerium angeordnete „Judenzählung“ stellt in der deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte eine unübersehbare Zäsur dar. Viele derjenigen, die 1914 begeistert in den Krieg gezogen waren und bis zu diesem Zeitpunkt auf ihr Recht als Deutsche gepocht und sich als Staatsbürger definiert hatten, fühlten sich durch die Anordnung zurückgestoßen. Manche waren erbost, andere beleidigt oder zumindest enttäuscht. Selbst die Gutgläubigsten wurden von Zweifeln beschlichen. Vielleicht, so begann man sich zu fragen, war der Weg doch nicht richtig, für den man sich im guten Glauben entschieden hatte? Hatten die Antisemiten vielleicht doch recht mit ihrer Behauptung, Juden könnten keine Deutsche sein?

Von nicht wenigen jüdischen Intellektuellen sind Äußerungen überliefert, daß alle Bemühungen um Anpassung und Anerkennung eigentlich zum Scheitern verurteilt seien. Jakob Wassermann z.B., ein durch und durch deutscher Dichter und Schriftsteller, beklagte sich nach Kriegsende in seinem autobiographischen Buch Mein Weg als Deutscher und Jude über die in beleidigender Form erfolgenden Zurücksetzungen, die er und seine Glaubensbrüder erfuhren. Die Juden, bemerkte Wassermann, könnten sich verhalten, wie sie wollten, die antisemitische Vorurteilsstruktur sei letztlich nicht aufzubrechen:

Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage. […] Es ist vergeblich, in das tobsüchtige Geschrei Worte der Vernunft zu werfen. Sie sagen: was, er wagt es aufzumucken? Stopft ihm das Maul. […] Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen: Er ist ein Jude.9

Empfindlichere Naturen quälte es, auf Geringschätzung und kaum verhüllten Haß zu stoßen. Manche Juden haben in ihrer Verzweiflung die Vorurteile der Umwelt übernommen. Diese Neigung vieler Juden, das vom Haß verzerrte Judenbild der Nichtjuden als richtige Einschätzung zu übernehmen, ist ein Phänomen, auf das Fritz Bernstein in seinem Buch Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung (1926) hingewiesen hat. Der von den Nationalsozialisten im Sommer 1933 heimtückisch im Marienbader Exil ermordete Kulturphilosoph und Schriftsteller Theodor Lessing ging noch einen Schritt weiter. Die Selbstbetrachtung und Selbstbewertung nach den Wertmaßstäben einer feindseligen Umwelt bedinge geradezu Gefühle des Selbsthasses, meinte er. In seinen Lebenserinnerungen schildert Lessing die Atmosphäre, in der er aufwuchs, die ihn glauben ließ, „daß Jude etwas Böses sei“.10 Wenn seine Mitschüler ihn mit albernen Versen („Jude, Jude Itzig, mach dich nicht so witzig“) neckten, dann habe ihm dies innerlich einen Stich versetzt und seinen Seelenfrieden gestört. Bisweilen, so bekannte er, habe das „Leiden am Judesein“ Formen angenommen, „die schlechthin wahnsinnig genannt werden müssen“.11

Die gesellschaftliche Ausgrenzung führte dazu, daß sich nicht wenige in den vielfältigsten Außenseiterpositionen wiederfanden. Theodor Lessing zum Beispiel wurde ein Oppositioneller aus Prinzip. Aus Gründen der Nichtanerkennung, der verletzten Liebe, daß er als Jude nicht akzeptiert wurde, griff er an, kritisierte und polemisierte, war bewußt Rebell und Moralist in einem. Es war eine Einstellung, die, ähnlich wie bei Heinrich Heine, Karl Kraus oder Kurt Tucholsky, von der Umgebungsgesellschaft nicht anerkannt wurde. Sie stieß auf Widerstand und Ablehnung, vor allem wohl auch deshalb, weil die Normverletzung durch den Außenseiter häufig als Anmaßung oder als Bedrohung empfunden wird.

Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa

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