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Kriegsbegeisterung und Ernüchterung
ОглавлениеAls im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, empfand es die überwiegende Mehrzahl der deutschen Juden als ihre Aufgabe und Pflicht, sich der Gesamtheit ein- und unterzuordnen. Am 1. August 1914, dem Tag des Mobilmachungsbefehls, wandten sich der C. V. und der „Verband der deutschen Juden“ mit einem gemeinsamen Aufruf an die Öffentlichkeit:
Daß jeder deutsche Jude zu den Opfern an Gut und Blut bereit ist, die die Pflicht erheischt, ist selbstverständlich. Glaubensgenossen! Wir rufen Euch auf, über das Maß der Pflicht hinaus Eure Kräfte dem Vaterland zu widmen! Eilet freiwillig zu den Fahnen! Ihr alle – Männer und Frauen – stellt Euch durch persönliche Hilfeleistung jeder Art und durch Hergabe von Geld und Gut in den Dienst des Vaterlandes!4
Wie das Bildungsbürgertum und die Arbeiterschaft wurden auch die deutschen Juden von einer Woge „rauschhaften Gemeinschaftsgefühls und patriotischer Kriegsbegeisterung“ (Egmont Zechlin) ergriffen. Gar mancher vergaß über Nacht das klassisch-humanistische Bildungsgut, in dem er erzogen worden war, ebenso wie die kosmopolitischen Elemente der jüdischen Tradition, denen er sich vielleicht noch vor Kriegsausbruch verpflichtet gefühlt hatte.
Zum populärsten Kriegslied der Deutschen wurde Ernst Lissauers Haßgesang gegen England, von dem Stefan Zweig in seinen Erinnerungsbuch Die Welt von gestern schrieb, es sei wie eine „Bombe in ein Munitionsdepot“5 gefallen:
Dich werden wir hassen mit langem Haß,/Wir werden nicht lassen von unserem Haß,/Haß zu Wasser und Haß zu Land,/Haß der Hämmer und Haß der Kronen,/Drosselnder Haß von 70 Millionen,/Sie lieben vereint, sie hassen vereint,/Sie haben alle nur einen Feind: England!6
Es ist viel darüber gerätselt worden, wie es dazu kam, daß es gerade ein Jude war, der das „Evangelium eines übersteigerten Nationalismus“ (Egmont Zechlin) dichterisch verkünden mußte. Ernst Lissauer, den Wilhelm II. mit dem Roten Adlerorden 2. Klasse ehrte, war „gläubiger an Deutschland als der gläubigste Deutsche“ (Stefan Zweig); gleichzeitig war er stolz auf sein Judentum, darauf, daß er nicht die Taufe genommen hatte.
Ernst Lissauers Patriotismus bildete unter den deutschen Juden keine Ausnahme. Die Begeisterung für diesen Krieg, von dem man vielfach glaubte, er würde wie ein reinigendes Gewitter wirken und alle noch vorhandenen gesellschaftlichen Hindernisse endgültig hinwegfegen, ergriff Gesetzestreue wie Anhänger der Reform, Linke wie Rechte. Der Publizist Maximilian Harden z.B. stellte bei Kriegsausbruch seine Zeitschrift Die Zukunft ganz in den Dienst der nationalen Propaganda, und der Sprachphilosoph und Theaterkritiker Fritz Mauthner verfaßte Kriegsartikel, die so chauvinistisch und hetzerisch waren, daß sie sogar bei regierungsloyalen Zeitungen auf Ablehnung stießen.
Von ihrer Loyalität und ihrem Patriotismus konnten die Juden ihre Mitbürger aber trotzdem nicht überzeugen. Gleichgültig wie sie sich verhielten, die Umwelt begegnete ihnen weiterhin mit Vorurteilen und Mißtrauen. Deutlich wurde dies, als das Kriegsministerium im Oktober 1916 eine „Judenstatistik“ anforderte, angeblich weil zahllose Anzeigen über Drückebergerei unter den jüdischen Mitbürgern eingegangen waren. Das Ministerium wollte durch diese Statistik, und zwar getrennt für Feldheer, Etappe und Besatzungsheer, folgende Fragen beantwortet wissen: Wie viele Juden haben sich freiwillig gemeldet, wie viele sind an der Front gefallen und wie viele sind mit dem EK I oder EK II ausgezeichnet worden?
Im jüdischen Bevölkerungsteil löste die Anordnung Proteste aus. Im Reichstag kam es zu einer hitzigen Debatte, in der Ludwig Haas, der Sprecher der „Fortschrittlichen Volkspartei“, aus Briefen jüdischer Soldaten zitierte, in denen immer wieder darüber geklagt wurde, man würde durch diese Anordnung „gezeichnet“ und zu „Soldaten zweiter Klasse“ degradiert. Als nach dem Krieg die methodischen Grundlagen der vom Ministerium in Auftrag gegebenen Statistik bekannt wurden, insbesondere die Art der Erhebung und die Verarbeitung der ermittelten Ziffern, nannte der Soziologe Franz Oppenheimer die Untersuchung eine „statistische Ungeheuerlichkeit“ und erinnerte an das englische Witzwort: „Es gibt dreierlei Arten von Lügen: ‚Notlügen, gemeine Lügen und Statistik‘.“7
Jüdischerseits war man sich im klaren, daß den antisemitischen Behauptungen, die Juden hätten sich nicht in genügend großer Zahl für die Verteidigung des Vaterlandes geopfert, mit hieb- und stichfestem Zahlenmaterial entgegengetreten werden mußte. Auf Grund der nach dem Krieg zur Verfügung stehenden Daten, insbesondere auf der Grundlage des vom „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ (RjF) veröffentlichten Namenslisten mit Geburtsund Todesdaten, Truppenteil und Dienstgrad der Gefallenen ließ sich ein eindeutiges Urteil über die Teilnahme der deutschen Juden am Ersten Weltkrieg ermitteln. Danach haben von einem Bevölkerungsanteil von 550.000 Juden (die ausländischen, nicht militärpflichtigen nicht mitgerechnet) rund 100.000 Mann in Heer, Marine und Schutztruppe gedient. Von diesen sind rund 80.000 an der Front gewesen, davon sind mindestens 12.000 gefallen. Dekoriert wurden 35.000 und befördert 23.000, davon mehr als 2000 zu Offizieren und 1159 zu Sanitätsoffizieren und höheren Beamten.
Der statistische Abwehrkampf ist nach Kriegsende noch fünfzehn Jahre lang mit Zeitungsartikeln, Broschüren und Büchern weitergeführt worden. Die jüdischen Organisationen glaubten, keine andere Wahl zu haben, als sich auf eine Zahlenschlacht einzulassen. Hätten sie geschwiegen, wäre ihnen das sicher als Eingeständnis ausgelegt worden, daß nur 5600 Juden gefallen seien, wie das von der antisemitischen Propaganda hartnäckig behauptet wurde. Beeindrucken ließen sich die Antisemiten von dieser Art von Publizistik jedoch nicht. Ihr Urteil stand bereits fest:
„Je mehr Juden in diesem Krieg fallen“, so hatte Walther Rathenau bereits im August 1916 in einem Brief an Wilhelm Schwaner prophezeit, „desto nachhaltiger werden ihre Gegner beweisen, daß alle hinter der Front gesessen haben, um Kriegswucher zu treiben. Der Haß wird sich verdoppeln und verdreifachen.“8