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Mähren
ОглавлениеAls Böhmen und Mähren 1526 Teil des Habsburgerreiches wurden, hatten bereits mehrere Ereignisse stattgefunden, die das Gesicht der mährischen Judenschaft bis weit ins 19. Jh. prägen sollten. Eine Reihe von Vertreibungen während des 15. und 16. Jhs. legten Niederlassungsform sowie ökonomische Strukturen fest, und die Entstehung des mährischen Landesrabbinats sicherte die Zukunft Mährens als Zentrum rabbinischer Gelehrsamkeit.
Die Juden Mährens wurden niemals en masse vertrieben, doch zwischen 1426 und 1572 verjagte man sie aus einzelnen Städten, darunter auch aus den sechs königlichen Städten Brünn, Olmütz, Iglau, Znaim, Ungarisch-Hradisch und Neustadt. In der Folge siedelten sie sich unter dem Schutz von Feudalherren an, oft in der Nähe der königlichen Städte. Da den Juden die Niederlassung auf dem flachen Land seit dem 13. Jh. untersagt war, verteilten sich die mährischen Juden auf kleine Landstädte. Im Gegensatz zu den böhmischen Juden waren sie weder über Dörfer verstreut noch in einem großen urbanen Zentrum konzentriert. Die Juden dieser Kleinstädte arbeiteten häufig als Textilhändler oder pachteten und betrieben die Zollhäuser, Mühlen und Brauereien ihrer Feudalherren. Textilhandel und Pacht waren bis weit ins 19. Jh. typisch jüdische Berufe in Mähren.
Die Ursprünge des mährischen Landesrabbinats liegen etwas im dunkeln. Wahrscheinlich ist jedoch, daß diese für die mährischen Juden zentrale Einrichtung während der Regierungszeit von Maximilian I. (1493–1519) entstand. Das benachbarte Galizien sowie Böhmen hatten zwar zu verschiedenen Zeiten ebenfalls Landesrabbiner, aber nur in Mähren bestand das Landesrabbinat durchgehend vom 15. Jh. bis zum Zerfall der Habsburgermonarchie im Jahre 1918. Der mährische Landesrabbiner übte sowohl religiöse als auch juridische Funktionen aus und wurde so zum Symbol der jüdischen Gemeindeautonomie. Der Landesrabbiner residierte in Nikolsburg, der größten jüdischen Ansiedlung Mährens, und unterhielt dort eine große und bedeutende Jeschiwa. Einem der ersten Landesrabbiner, Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel (in Nikolsburg von 1553–1573) – besser bekannt als der „Hohe Rabbi Löw von Prag“, der einen Golem erschuf –, werden die Schai (= 311) Takkanot zugeschrieben, die Gemeindeverordnungen, welche den mährischen Juden als eine Art Verfassung dienten. Auch andere illustre Landesrabbiner, wie Jom Tow Lipmann Heller (1624) und der bibliophile David Oppenheimer (1690–1702) übersiedelten schließlich nach Prag. Rabbi Mordechai Benet war ebenso bekannt für seine talmudische Gelehrsamkeit wie für die ihm nachgesagten Wunder. Samson Raphael Hirsch (1847–1851) nahm als mährischer Landesrabbiner an der Revolution von 1848 teil, bevor er zum Verteidiger der Orthodoxie in Frankfurt a. M. wurde.
1648–1780
Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) brachte Verwüstung und Zerstörung über Mitteleuropa. Obwohl Krieg und Blutvergießen sich rasch über ganz Böhmen und Mähren ausbreiteten, war das Schlimmste für die Juden bereits 1623 überstanden. Ferdinand II. (1578–1637, Kaiser ab 1619) brauchte sie, um seine Truppen während des Krieges mit Geld, Nahrungsmitteln, Uniformen sowie Quartieren zu versorgen, und danach, um die zerstörte Wirtschaft wiederaufzubauen. Da ein Teil der Bevölkerung im Krieg gefallen war, viele Bürger und Adelige emigriert und die Wiedertäufer vertrieben worden waren, benötigte man die Juden aus ökonomischen Gründen. 1628 dehnte Ferdinand II. daher die weit reichenden Privilegien, mit denen er 1623 die Erwerbsmöglichkeiten der Juden Böhmens verbessert hatte, auch auf Mähren aus. Diese „verneuerte Landesordnung“ wurde von allen folgenden Herrschern bestätigt und von Maria Theresia im Jahre 1755 sogar erweitert.
Trotz der ungeheuren Verluste an Menschenleben während des Dreißigjährigen Krieges erholten sich die mährischen Juden demographisch ziemlich schnell. Zum Teil ist dies durch eine hohe Geburtenrate zu erklären, doch eine viel wesentlichere Rolle spielte die jüdische Einwanderung aus den kriegsgeschüttelten Nachbarländern. Viele polnische Juden, darunter auch rabbinische Autoritäten wie Gerschon Aschkenasi und Sabbatai ben Mëir ha-Kohen, flohen infolge der Kosakenmassaker und der Invasion durch Schweden und Moskowiter zwischen 1645 und 1656 nach Mähren. Ungarische Juden siedelten sich während der Türkenkriege im 16. und 17. Jh. sowie nach dem Kuruzenaufstand 1680 an. Auch eine Reihe von Wiener Juden kam, nachdem sie 1670 aus der Reichshauptstadt vertrieben worden waren, nach Mähren, vor allem nach Nikolsburg.
Der mährische Landtag war eifrig bestrebt, diesen Trend umzukehren. So beschloß er 1650 dieselben antijüdischen Maßnahmen wie der böhmische Landtag, darunter eine Vertreibung der Juden aus allen Orten, an denen sie nicht bereits vor 1618 ansässig gewesen waren. Diese Maßnahmen traten 1650 in Kraft, doch 1681 korrigierte Leopold I. das entscheidende Jahr von 1618 auf 1657. Damit konnten die Flüchtlinge aus Polen legal im Land bleiben, während die 1670 aus Wien Vertriebenen zumindest theoretisch ausgeschlossen waren.
Die 1648 beginnende Periode, gipfelnd in der Regierungszeit Maria Theresias, zeichnet sich durch eine zunehmend antijüdische Politik und eine Segregation von Juden und Christen im öffentlichen wie auch im privaten Leben aus. So wollten der böhmische und mährische Landtag nicht nur die Zahl der Juden reduzieren, sondern auch ver hindern, daß jene z.B. als Steuereintreiber oder Dienstgeber in die Lage kämen, Autorität über Christen auszuüben. Die in der Folge der 1714 von Karl VI. eingesetzten Judenkommission in Böhmen erlassenen Gesetze traten ebenso auch in Mähren in Kraft. So wurde nach den Familiantengesetzen von 1726 die erlaubte Zahl jüdischer Familien für Mähren auf 5160 festgelegt. Diese Zahl wurde zwar 1787 auf 5400 erhöht, doch sollten die Familiantengesetze das Leben der mährischen Juden bis zur ihrer Aufhebung am 4. März 1849 bedrücken. 1727 dekretierte Karl VI. außerdem die absolute Trennung zwischen Juden und Christen in den meisten mährischen Städten. Juden, die in christlichen Vierteln lebten, wurden mitunter gezwungen, ihre Häuser mit Christen zu tauschen, die in jüdischen Vierteln wohnten. Die Absicht dieser Maßnahme war es, klar abgegrenzte, jüdische Wohnbereiche entstehen zu lassen. Diese geschlossenen Gemeinden sollten für die mährischen Juden charakteristisch werden. Sie bestanden bis 1849 und in veränderter, aber immer noch autonomer Form bis 1919.
Vor allem die Familiantengesetze zehrten an der Substanz des mährischen Judentums, indem sie neue soziale Spannungen hervorriefen, das traditionelle Familienleben unterminierten und zahlreiche Juden zur Emigration zwangen. Die Zuteilung von Familienstellen war ein häufiger Anlaß für soziale Spannungen und Klassenkämpfe. In vielen Gemeinden kam es deswegen zu Gerichtsverfahren, Denunziationen, Bestechungen und illegalem Verkauf der Familienstellen an nicht Ortsansässige. Die Familiantengesetze zwangen auch viele Juden zu geheimen, sogenannten Bodenhochzeiten. Diese waren zwar nach jüdischem Recht gültig, nicht jedoch nach den Staatsgesetzen. Die Kinder aus solchen Verbindungen wurden vom Staat daher als illegitim angesehen und bekamen den Namen der Mutter. Einige mährische Juden heirateten in Ungarn, wo es keine Familiantengesetze gab, doch die Regierung traf bald ihre Vorkehrungen, um derartige Gesetzesumgehungen zu verhindern. Abgesehen von der Zerrüttung des traditionellen Familienlebens schufen die Familiantengesetze auch eine neue Bettlerklasse, nämlich eine Personengruppe, die aufgrund des Niederlassungsverbots gezwungen war, ohne einträglichen Erwerb von Ort zu Ort zu ziehen. Kein Wunder, daß viele Juden unter diesen Umständen die Emigration vorzogen, vor allem ins benachbarte Ungarn und hier hauptsächlich in die heutige Slowakei, wo sie Tochtergemeinden gründeten. Waag-Neustadtl (Nové Mesto nad Váhom, Vág-Ujhely) beispielsweise war hauptsächlich von Juden aus Ungarisch-Brod gegründet und besiedelt worden.
Wollte Karl VI. mittels der Familiantengesetze Zahl und wirtschaftlichen Einfluß der Juden reduzieren, so begann seine Tochter und Nachfolgerin Maria Theresia ihre Regierungszeit mit dem Versuch, sie aus Böhmen, Mähren und Schlesien vollständig zu vertreiben. Nachdem sie den Großteil Schlesiens im Österreichischen Erbfolgekrieg (1740–1745) verloren hatte, nahm sie 1744 Gerüchte um eine jüdische Kollaboration mit den preußischen Truppen zum Anlaß, die Vertreibung der Juden aus Brünn und Olmütz, wo einzelne seit dem 15. Jh. Aufenthaltsbewilligungen hatten, zu dekretieren. Im darauffolgenden Jahr dehnte sie den generellen Ausweisungsbefehl für die böhmischen Juden, den sie im Dezember 1744 erlassen hatte, auch auf Mähren und Schlesien aus. Nach erfolgreicher diplomatischer Intervention von jüdischer Seite sowie Appellen von christlichen Einwohnern, die die verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen einer Massenausweisung befürchteten, wurde das Vertreibungsdekret jedoch am 15. Mai 1745 für Mähren wiederaufgehoben. Den mährischen Juden wurde für die nächsten zehn Jahre Duldung garantiert, doch diese hatte ihren Preis. Hatten sie bis dahin 8000 Gulden an jährlichen Schutzgeldern bezahlt, so verlangte man 1748 von ihnen die Summe von 87.700 Gulden pro Jahr; 1752 wurde das Schutzgeld auf 90.000 Gulden im Jahr festgesetzt.
Der Österreichische Erbfolgekrieg – der dritte in einer Reihe von bedeutenden Niederlagen, welche der Monarchie schwere Verluste an Prestige, Land, Bevölkerung und Steuereinnahmen eintrugen – brachte die Notwendigkeit einer umfassenden Verwaltungsreform mit sich, die auch die Juden betraf. In Übereinstimmung mit ihren allgemeinen Zentralisierungstendenzen erließ Maria Theresia 1754 die General-, Polizei-, Prozeß- und Kommerzialordnung, die zu großen Teilen auf einer Übersetzung der Schai Takkanot durch Aloys von Sonnenfels beruhte. Die Verordnung legte die Wahl- und den Wirkungskreis des Landesrabbiners fest, die Organisation des jüdischen Gemeinde- und Steuerwesens, das Zivilrecht zwischen Juden und Nichtjuden sowie die Handelsbeziehungen.
Die überwiegende Mehrheit der 20.327 mährischen Juden fiel 1754 unter die Jurisdiktion dieser neuen Verordnung, doch es gab einige schillernde Persönlichkeiten, die vom Rest der mährischen Juden nicht nur sozial und ökonomisch, sondern oft auch geographisch getrennt waren. Zu diesen zählte die Familie Dobruschka, die vor 1750 das einträgliche Tabakmonopol vom Staat gepachtet und bereits davor eine Sondergenehmigung erhalten hatte, sich in Brünn anzusiedeln. Eine weniger rühmliche Erscheinung war Jakob Frank (1726–1791), der als selbsternannter Nachfolger des falschen Messias Sabbatai Zwi seine Lehre der „Erlösung durch Sünde“ nach Mähren brachte. Zwischen 1773 und 1786 unterhielt er seinen ebenso luxuriösen wie verruchten Hof in Brünn und zählte unter anderem Mose Dobruschka zu seinen Anhängern. Der Landesrabbiner Gerson Chajes (1780–1789) bekämpfte den häretischen und verderblichen Einfluß Franks auf das Entschiedenste. Es ist uns jedoch nicht bekannt, welche jüdischen Besucher der Brünner Jahrmärkte sich Dobruschkas und Franks Hof anschlossen. Dobruschka, der sich in aufklärerischer Poesie versuchte, konvertierte zum Chrisentum. Er war ein Mitbegründer der Freimaurerloge der „Asiatischen Brüder“ in Deutschland und beendete sein Leben in Frankreich auf der Guillotine.
1780–1848
Während Maria Theresias Judenpolitik, wie auch ihr Verhalten anderen nichtkatholischen Minderheiten gegenüber, weitgehend durch ihre religiösen Überzeugungen geprägt war, bestimmte die eher säkulare Orientierung des „aufgeklärten Absolutismus“ die Politik und Anschauungen ihres Sohnes, des Mitregenten und Nachfolgers Joseph II. Sein Glaube an einen von Vernunft regierten zentralistischen Staat setzten religiöse Toleranz, Volksbildung, die Aufhebung von Handelsbeschränkungen sowie die Schaffung einer effizienten Bürokratie voraus. Seine Toleranzpatente, mit denen für die Juden der Kronländer ein neues Zeitalter anbrach, müssen als Teil dieser utilitaristischen Rationalisierungs- und Produktivierungsbestrebungen gesehen werden. In dem am 13. Februar 1782 für Mähren erlassenen Toleranzpatent heißt es dementsprechend:
Es bestehen demnach die Begünstigungen, welche der jüdischen Nazion durch gegenwärtige Abänderungen zuflüssen in Folgenden; Da Wir dieselbe hauptsächlich durch besondere bessere Unterrichtung, Aufklärung ihrer Jugend, und durch Verwendung auf Wissenschaften, Künste, und Handwerke, dem Staate nützlicher und brauchbarer zu machen zum Ziele nehmen […].1
Das Patent erweiterte den Bildungshorizont der Juden, indem es ihnen gestattete, ihre eige nen Normalschulen – unter der Oberaufsicht aller deutschen Schulen – zu errichten und die Universitäten zu besuchen. Um die Juden vom Handel wegzubringen, wurden ihnen verschiedene neue Berufszweige eröffnet. So konnten sie die Befugnis zu allen Gattungen des Handwerks erhalten, wenn sie bei einem christlichen Meister in die Lehre gingen. Sogar das Meisterrecht konnten sie erlangen. Die mährischen Juden wurden auch dazu ermuntert, Fabriken zu errichten und Ackerbau zu betreiben, wofür sie landwirtschaftliche Grundstücke für zwanzig Jahre pachten konnten. Um die soziale Integration der Juden zu fördern, versuchte das Toleranzpatent nicht nur die von außen oktroyierten „Merkmale und Unterscheidungen, als das Tragen der Bärte, auszeichnender Kleidung“ zu eliminieren, sondern auch den öffentlichen Gebrauch von Hebräisch und Jiddisch, um die „Aufrechterhaltung des gemeinschaftlichen Zutrauens“ zu forcieren. Alle Dokumente, die in „hebräischen und jüdischen Buchstaben“ geschrieben worden waren, wurden als „ungiltig und nichtig“ betrachtet. Einige der bedrückendsten Steuern, wie die Leibmaut, wurden abgeschafft, doch blieben, ebenso wie in Böhmen, das Familiantengesetz und die Ansiedlungsbeschränkungen in Kraft. Bei letzteren wurde nur für Juden eine Ausnahme gemacht, die beabsichtigten, eine Fabrik zu errichten oder ein nützliches Gewerbe auszuüben.
Im folgenden Jahrzehnt erließ Joseph II. eine Reihe weiterer Gesetze, welche die Juden in die bürgerliche Gesellschaft integrieren sollten. 1784 wurde die rabbinische Jurisdiktion abgeschafft, und so die Autorität der Rabbiner durch jene des Staates ersetzt. Wie in den anderen Ländern wurde die Militärpflicht eingeführt, und 1787 wurden die Juden verpflichtet, deutsche Vor- und Familiennamen anzunehmen.
Durch das Hofdekret vom 26. Juli 1787 schuf Joseph II. den mährisch-jüdischen Landesmassafond, der bedürftigen jüdischen Gemeinden Unterstützung gewähren sollte und bis 1869 von christlichen Behörden verwaltet wurde. Der Fonds wurde gespeist aus verschiedenen jüdischen Steuergeldern, aus der Hälfte der jüdischen Verzehrungssteuer, der Familien- und Toleranztaxen fremder Juden, den Abfahrtsgeldern jüdischer Auswanderer sowie diversen Strafgeldern. Ursprünglich für „rentlich herabgekommene Gemeinden“ gedacht, wurden seine Gelder bald auch für die Errichtung und Erhaltung der Schulen, für Darlehen an jüdische Familianten zur Herstellung und Errichtung ihrer Häuser sowie zur Bezahlung des Landesrabbiners und anderer Beamten verwendet. Nachdem der Fond 1869 der „gesamten Judenschaft Mährens“ übergeben worden war, übernahm ein aus elf Personen bestehendes Kuratorium seine Verwaltung. Als im Zuge von Urbanisierung und jüdischer Migration in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. kleine Gemeinden in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, unterstützte der Landesmassafond die Gemeindeinstitutionen und -beamten, die andernfalls nicht mehr zu finanzieren gewesen wären.
Wie der Landesmassafond blieben auch die meisten anderen von Joseph II. eingeführten Institutionen und Reformen bis 1848 in Kraft, ja viele sogar bis zur Auflösung des Habsburgerreiches im Jahre 1918. Obwohl Joseph II. auf seinem Totenbett den Großteil seiner progressiven Gesetzesinitiativen widerrief, ließ er die Judengesetzgebung unangetastet. Eini ge Juden priesen daher seine Bemühungen, das jüdische Schicksal durch sprachliche und soziale Integration, Bildung und Produktivierung zu verbessern. Andere hingegen verurteilten seine Bestrebungen, die rabbinische Autorität sowie die sprachliche und kulturelle Andersartigkeit der Juden aufzuheben. Ein Nikolsburger Chronist, Abraham Chajes, sah die Militärkonskription als einen düsteren Augenblick in der jüdischen Geschichte an.
Nach dem Tod Josephs II. und der zweijährigen Herrschaft seines Bruders Leopold II. bestieg Franz II. den Thron. In dieser Periode der Napoleonischen Kriege (1792–1815) und der Metternichschen Reaktion versuchte man teilweise zu vorjosephinischen Konzepten zurückzukehren, doch viele der Josephinischen Reformen blieben in Kraft. Als Napoleon 1806 den Sanhedrin einberief, wurden einige mährische Juden überwacht, weil man sie der Sympathie mit dem selbsternannten „großen Befreier“ verdächtigte. Verbote für Juden, christliche Dienstboten und Kindermädchen anzustellen, wurden regelmäßig wiederholt. 1798 wurde die Anzahl der mährischen Gemeinden, in denen sich Juden ansiedeln durften, auf 52 festgesetzt. Gleichzeitig verstärkte man die Bemühungen, Juden in deutschen Normalschulen zu erziehen, indem man die Eltern von Schule schwänzenden Kindern sowie nicht qualifizierte Privatlehrer bestrafte und Brautpaare aus dem deutsch-jüdischen Katechismus Bene Zion prüfte. Dieser Zeitraum kann als der Beginn einer umfassenden Germanisierung der mährischen Juden betrachtet werden, die gegen Ende der Periode bis in die Synagogen vordrang. Die erste deutschsprachige Synagogenpredigt in Mähren wurde im Jahre 1835 gehalten.
In diesen Zeitraum fällt auch der Aufstieg einer jüdischen ökonomischen Elite, die vom Krieg profitierte und an der schrittweisen Industrialisierung Mährens teilhatte. Vor den Napoleonischen Kriegen gab es einzelne Familien, wie die Dobruschkas, die profitable Staatsmonopole gepachtet und spezielle Aufenthaltsgenehmigungen für Brünn bekommen hatten. Während der Napoleonischen Kriege stiegen die Bankierfamilien Gomperz und Auspitz in Brünn sowie der Armeelieferant Ehrenstamm in Prossnitz auf. Die Ehrenstamms sollten wie die Dobruschkas in Apostasie und Schande enden, doch die Familien Gomperz und Auspitz blieben bis ins frühe 20. Jh. politische, wirtschaftliche und philanthropische Stützen der mährischen Juden. Je phantastischer die Reichtümer waren, die diese Familien ansammelten, desto größer wurde die soziale Distanz zwischen ihnen und dem Rest der mährischen Juden. Die Familien Gomperz und Auspitz zählten zu den wenigen, die als Juden vor 1848 in Brünn leben durften und in engem Kontakt zu den Mitgliedern des christlichen Großbürgertums waren.
Mähren galt als das Textilzentrum der gesamten Monarchie, und ein guter Teil des Einzelhandels wurde von Juden betrieben. Einigen von ihnen gelang es, Textilfabriken zu gründen. Veith Ehrenstamm, Sohn eines Textilimporteurs, war der erste Jude, der eine moderne, mechanische Textilfabrik besaß und betrieb. 1801 kaufte er eine Wollfabrik in Prossnitz und stellte 3000 (nichtjüdische) Arbeiter zur Fabrikation von Uniformen für die habsburgische Armee ein. Prossnitz wurde zu einem Zentrum der Textilindustrie, und die Juden spielten eine bedeutende Rolle bei ihrer Entwicklung. 1842 gab es dort 135 jüdische Textilhändler. 1859 errichteten Mayer und Isaac Mandel in Prossnitz die erste Fabrik für Konfektionsbekleidung auf dem europäischen Kontinent. Obwohl solche Innovationen in Prossnitz eingeführt wurden, überholte Brünn – als österreichisches Manchester bekannt – Prossnitz im Wettlauf um den Titel der Textilhauptstadt Mährens. Lazar Auspitz, ein tolerierter Jude, begründete die Textilindustrie in dieser Stadt zu Beginn des 19. Jhs. Julius Ritter von Gomperz und Mitglieder der Löw-Beer-Familie bauten Brünns Textilindustrie aus, besonders nachdem 1839 die Bahnverbindung nach Wien fertiggestellt und 1848 die Aufenthaltsbeschränkungen für Juden aufgehoben worden waren.
Während einige privilegierte Juden in ökonomische Spitzenpositionen gelangten, versuchte die Mehrheit der mährischen Juden, im Einzelhandel ihr Auskommen zu finden. Die Inhaber eines Gewölbes, die auf den Olmützer, Brünner, Prager oder Pilsener Jahrmärkten ihre Ware direkt von den Fabriken beziehen durften, standen dabei an der Spitze der Pyramide. Weit zahlreicher waren die Hausierer, die ihre Produkte von Großhändlern bezogen, und die armen Dorfgeher (Pinkeljuden), die allerlei Kram, der ihnen von der Dorfbevölkerung angeboten wurde, aufkauften. Die Hausierer und Dorfgeher wanderten oft von Sonntagmorgen bis Freitagnachmittag über Land und kamen nur am Sabbat nach Hause, was das Familienleben destabilisierte und oft für die Zerrüttung der jüdischen Moral verantwortlich gemacht wurde. Trotz der erweiterten Erwerbsmöglichkeiten, die das Toleranz patent den Juden 1781 garantiert hatte, führte die Mehrheit der mährischen Juden also auch noch am Vorabend der Revolution von 1848 ein Leben des „unnützlichen“ Handels und Wandels.
1848–1867
Die Revolution von 1848 markierte den Anbruch eines neuen Zeitalters und wurde von einem mährischen Juden als „das Jahr, in dem Israel von manchen ihrer Probleme erlöst wurde“ beschrieben. Tatsächlich veränderte sich der legale Status der Juden in ganz Cisleithanien von März 1848 bis März 1849 radikal und gipfelte in ihrer Emanzipation durch die oktroyierte Verfassung am 4. März 1849. Wenn auch „manche ihrer Probleme“ gelöst wurden, so erinnerte der traditionelle, wirtschaftlich und religiös motivierte Judenhaß doch stets daran, daß der Weg von der politischen zur sozialen Emanzipation noch weit war. Die mährischen Juden engagierten sich von Anfang an mit Blut und Feder für die Revolution und die Aussicht auf eine bessere Zukunft. Der Bisenzer Student Karl Heinrich Spitzer starb auf den Barrikaden Wiens, und der radikale Publizist Hermann Jellinek aus Ungarisch-Brod wurde in Wien wegen Verrats gehängt. Die mährischen Juden kämpften in vielen lokalen Regimentern der Nationalgarde und schrieben für zahlreiche jüdische wie auch nichtjüdische Zeitungen, die nach der Lockerung der Zensurgesetze entstanden waren. Der Landesrabbiner Samson Raphael Hirsch unterstützte die liberalen Ideen in unzähligen Artikeln und Pamphleten. Der Enthusiasmus vieler dieser Menschen kann als Wunsch verstanden werden, den bedrückenden Restriktionen und erniedrigenden Steuern zu entgehen, die ihr tägliches Leben belasteten.
Während viele mährische Juden enthusiastisch die vollständige Emanzipation erwarteten, bewegten sich die Reaktionen ihrer christlichen Mitbürger zwischen unvoreingenommener Unterstützung und heftiger Opposition. Als der mährische Landtag ein Komitee bildete, um die Judenfrage zu diskutieren, trat die gesamte Skala dieser Einstellungen zutage. Paradoxerweise konzentrierte sich ein Großteil der Diskussionen auf die Frage, ob Samson Raphael Hirsch, der als Jude kein Staatsbürgerrecht besaß, Mitglied des Komitees sein dürfe. Schließlich erhielt er die Erlaubnis. In einigen Gemeinden feierten die christlichen Bürger die neue Verfassung gemeinsam mit den Juden und hießen sie in der Nationalgarde willkommen, in anderen hingegen versuchte man, die Juden zu vertreiben und schloß sie von der Nationalgarde aus. In Strassnitz wurden jüdische Händler attackiert, in Olmütz jüdische Kaufleute vertrieben, in Prossnitz die Fenster einer jüdischen Fabrik eingeworfen und in Groß-Meseritsch wurden die Juden des Diebstahls der Monstranz aus der Kirche beschuldigt. Obwohl die Gewalttaten nach einem Appell des mährisch-schlesischen Statthalters Lazansky abflauten, war die antijüdische Einstellung vieler Bürger deutlich geworden. Als die Debatte über die Judenemanzipation vor den Reichstag kommen sollte, reichten mehr als 40 mährische Städte und Dörfer Petitionen ein, in denen sie ihren vehementen Widerstand zum Ausdruck brachten. Die meisten führten die schädliche jüdische Konkurrenz und die vermeintliche Unmoral der Juden als Grund an.
Trotz dieser Proteste gewährte die Verfassung vom 4. März 1849 Glaubensfreiheit und Gleichheit aller Staatsbürger, womit die Juden in Cisleithanien emanzipiert waren. Die Familiantengesetzte und die Judensteuer wurden ebenso aufgehoben wie Berufs- und Ansiedlungsbeschränkungen. Die Juden erhielten Freizügigkeit und Grundbesitzrecht. In ganz Mähren wurden von den Juden zur Feier der Emanzipation Festgebete abgehalten, und viele heirateten in der Euphorie über die Aufhebung der Familiantengesetze. Diese Euphorie wurde einigermaßen getrübt, als die kaiserliche Verordnung vom 2. Oktober 1853 manche der Restriktionen, unter denen die Juden vor dem 1. Januar 1848 gelitten hatte, wiedereinführte.
Von all den neuen Rechten, welche die Verfassung den Juden gewährte, hatte die Freizügigkeit den entscheidendsten und nachhaltigsten Einfluß auf die Demographie der mährischen Juden. Aufgrund der bis 1848 geltenden Siedlungsbeschränkungen lebten die mährischen Juden bis dahin fast ausschließlich in den 52 systemierten Judengemeinden in Kleinstädten. 1848 – in diesem Jahr lebten 37.548 Juden in Mähren – zählte Nikolsburg, die größte mährische Judengemeinde, 3670 jüdische Einwohner. Nach der Einführung der Freizügigkeit, die den Juden nun auch die ihnen früher verschlossenen königlichen Städte öffnete, zogen viele von ihnen in die großen Städte, wo sie die ökonomischen Vorzüge von Industrialisierung und Modernisierung genossen. In Brünn, einem der Hauptanziehungspunkte, stieg die jüdische Bevölkerung von 445 im Jahre 1848 auf 1262 im Jahre 1857 und 4505 im Jahre 1869 bzw. 8238 zur Jahrhundertwende. Gleichzeitig verringerte sich die jüdische Bevölkerung Nikolsburgs von 3680 im Jahre 1857 auf 1500 im Jahre 1869, 1900 wohnten nur mehr 900 Juden im vormaligen Zentrum der mährischen Juden. Nachdem die Juden 1859 auch die Genehmigung erhalten hatten, sich auf dem flachen Land anzusiedeln, eröffneten eine Reihe von ihnen hier Gast- und Schankgewerbe.
Im Gefolge der Revolution durchlief das jüdische Gemeindewesen in Mähren eine Transformation, aus der eine einmalige Institution hervorging: die politische Judengemeinde. Während die autonomen Judengemeinden in Galizien bereits 1785 und in Böhmen 1852 aufgelöst worden waren, vereinigten sich in Mähren trotz der Anordnung durch das provisorische Gemeindegesetz vom 17. März 1849 lediglich 25 jüdische Gemeinden mit den christlichen Gemeinden. Ein Ministerialerlaß vom 25. Juni 1850 gestattete den verbleibenden 27 Gemeinden, sich als unabhängige Israelitengemeinden zu konstituieren und schuf damit in Mähren eine Anomalie: politische jüdische Gemeinden, deren Grenzen geographisch und nicht konfessionell festgelegt waren. Die einzige politische Judengemeinde der Monarchie außerhalb von Mähren war Hohenems in Vorarlberg. Das Territorium und die kommunalen Gebäude der früheren jüdischen Ghettos bildeten nun die politischen Judengemeinden unabhängig davon, wer sie bewohnte. Als diese Gemeinden 1850 entstanden, war die überwiegende Mehrheit ihrer Bewohner Juden. Nachdem die Freizügigkeit die Ansiedlungsgewohnheiten der jüdischen wie der übrigen Bevölkerung verändert hatte, verloren viele dieser Judengemeinden ihre jüdische Mehrheit. 1880 hatten bereits fünf Gemeinden eine christliche Mehrheit, und 1900 waren es gar achtzehn.
1867–1918
Wie in Böhmen so war auch in Mähren die Geschichte der Juden zwischen 1867 und 1918 stark durch den tschechisch-deutschen Konflikt gezeichnet, der seit 1848 brodelte und 1867, als der „Ausgleich“ mit Ungarn die tschechischen Hoffnungen auf nationale Autonomie endgültig zerstörte, einen neuen Höhepunkt erreichte. Als deutsch akkulturierte Volksgruppe wurden die Juden in tschechischer Wahrnehmung meist der Gruppe der Deutschen, der nationalen Unterdrücker, zugezählt. So zielten die gegen Deutsche gerichteten ökonomischen Boykottmaßnahmen natürlich auch auf sie, und als in den achtziger Jahren des 19. Jhs. die „Svùj k svému“-Bewegung (Jeder zu den Seinen) entstand, zeigte die antideutsche Propaganda stark antijüdische Untertöne. Als 1897 und 1899 antideutsche Ausschreitungen ausbrachen, wurden jüdische Schaufensterscheiben eingeworfen. 1905 wurde die Fabrik von Löw-Beer in Boskowitz geplündert und verwüstet.
An der Wurzel des Konflikts zwischen Tschechen und Juden lagen oft auch wirtschaftliche Spannungen, die sich aus der Urbanisierung sowie der bildungsmäßigen und ökonomischen Entwicklung der Tschechen in Mähren ergaben. Nach 1867 begannen die Tschechen vermehrt in größere Städte zu ziehen, wo sie von den ökonomischen und kulturellen Möglichkeiten sowie von den neu gegründeten tschechischen Handelsschulen profitierten. Früher „deutsche“ Städte wurden nun tschechisch, wie auch die politischen Judengemeinden in vielen Städten. Als Tschechen sich an Plätzen ansiedelten, wo der Handel früher ausschließlich in jüdischen Händen gelegen hatte, erhöhte sich der wirtschaftliche Wettbewerb zwischen den beiden Volksgruppen.
Die Gemüter vieler Tschechen wurden zusätzlich durch die Tendenz der mährischen Juden erregt, sich politisch den Deutschen anzuschließen. Ähnliche politische Vorlieben der Juden waren auch in anderen Gegenden Cisleithaniens zu beobachten, da die liberalen Deutschnationalen stark mit den Ideen der Aufklärung identifiziert wurden, welche zur Emanzipation der Juden geführt hatten. Im Gegensatz zu Böhmen dauerte diese Entwicklung in Mähren jedoch noch lange nach dem Fall des Liberalismus im Jahre 1879 an. Dies hatte hauptsächlich zwei Gründe. Erstens stellten die Deutschen, obwohl sie in Mähren eine Minderheit bildeten (29 % der Bevölkerung in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jhs.), bis zum mährischen „Ausgleich“ im Jahre 1905 eine Mehrheit im mährischen Landtag und hatten auch noch nach diesem Zeitpunkt wirtschaftliche Machtpositionen inne. Zweitens waren die Deutschen in Mähren über das ganze Land verteilt und erreichten nirgends eine ähnliche Konzentration wie in Nordböhmen. Zur Erhaltung ihrer Kulturinstitutionen wie auch in politischen Fragen waren die Deutschen in Mähren daher häufig auf die Unterstützung der Juden angewiesen. In manchen Gebieten stellten die Juden die Mehrheit in deutschen Schulen und Vereinen dar. Als die deutschen Parteien der meisten westlichen Kronländer rassistische und antisemitische Töne anschlugen, konnten es sich die mährischen Deutschen nicht erlauben, diesem Trend zu folgen. Obwohl der völkische Nationalismus in Mähren zweifellos präsent war, gelang es ihm bis zum Ende des 19. Jhs. nicht, politischen Einfluß zu gewinnen.
Die mährische Landtagswahlordnung aus dem Jahr 1861, die den Deutschen eine Landtagsmehrheit garantieren sollte, verlieh den politischen Judengemeinden eine entscheidende Rolle bei den Landtagswahlen. Da die politischen Judengemeinden zur Städtekurie zählten, wo – im Unterschied zur tschechisch dominierten Kurie der Landgemeinden – das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen meist ausgeglichen war, entschieden die jüdischen Stimmen die Wahl oft zugunsten des deutschen Kandidaten. In einigen Fällen waren die deutschen Kandidaten auch Juden. Vor diesem Hintergrund werden die von den Tschechen seit den siebziger Jahren des 19. Jhs. bis 1906 unternommenen Versuche verständlich, die politischen Judengemeinden, diese „Bastionen des Deutschtums“, aufzulösen oder zumindest in die tschechisch dominierten Landgemeinden zu integrieren. Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes aus dem Jahre 1906 ordnete die Judengemeinden endgültig der Städtekurie zu, doch zu diesem Zeitpunkt war bereits ein Kompromiß erzielt worden, der das Wesen des Nationalitätenkonflikts in Mähren grundlegend verändern sollte. Der mährische Ausgleich von 1905 verlagerte den Nationalititätenkonflikt vom Landtag in die ökonomische, kulturelle und Bildungssphäre. 1905/06 wurden in jedem Wahlbezirk getrennte tschechische und deutsche Kataster erstellt, so daß in den meisten Kurien tschechische Kandidaten nicht mehr gegen deutsche antraten. Personen, die in keine der nationalen Kategorien paßten, d.h. Juden, wurden zunächst dem Kataster der Mehrheitsbevölkerung in jeder Gemeinde zugezählt. Da Deutsche und Tschechen sich bei den Wahlen nun nicht länger feindlich gegenüberstanden, verloren die Juden ihre Bedeutung als „Zünglein an der Waage“ und damit auch ihr Gewicht in der politischen Arena.
Die mährischen Juden reagierten auf verschiedene Weise auf den Nationalitätenkonflikt und die damit verbundenen ökonomischen Probleme. Eine Minderheit wandte sich der zionistischen Bewegung zu, einige konvertierten zum Christentum, und eine weit größere Zahl wählte die Emigration, hauptsächlich nach Wien. Viele mährische Juden, die bekanntesten sind Sigmund Freud und Gustav Mahler, zogen zwischen 1867 und 1918 nach Wien. Zwischen 1867 und 1900 stammten etwa 10 % bis 20 % aller jüdischen Einwanderer in Wien aus Mähren. Zwar entsprach die Migration nach Wien aus verschiedenen Teilen der Monarchie einem allgemeinen Trend der Zeit, doch scheint das Phänomen bei den mährischen Juden das übliche Ausmaß zu übersteigen. Daraus erklärt sich auch das trotz des Zuzugs von jüdischen Flüchtlingen aus dem Zarenreich relativ geringe demographische Wachstum der mährischen Juden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jhs. Während die Gesamtbevölkerung Mährens von 1869 bis 1900 pro Jahrzehnt zwischen 5,73 % und 7,07 % zunahm, vermehrte sich die jüdische Bevölkerung niemals um mehr als 2,97 %. Von 1869 bis 1900 stieg die jüdische Bevölkerung Mährens von 42.644 (2,1 % der Gesamtbevölkerung) auf lediglich 44.255 (1,8 %). Bis 1910 dagegen verringerte sie sich auf 41.255 (1,6 %).
Die überwiegende Mehrheit der mährischen Juden aber blieb und paßte sich den neuen Verhältnissen an. Im selben Ausmaß wie sich berufliche Möglichkeiten eröffneten und Tschechen in Handelsberufe vordrangen, wandten sich die Juden freien Berufen zu. 1900 waren die verbreitetsten Beschäftigungen unter mährischen Juden zwar immer noch Handel (46 %) sowie Industrie und Gewerbe (27 %), doch die Angehörigen freier Berufe machten bereits über 22 % aus (gegenüber 3 % in der Gesamtbevölkerung). Wie in Wien und Berlin gaben auch die mährischen Juden den Handel langsam zugunsten der neuen Berufe auf. Deutsch blieb weiterhin die primäre Sprache der mährischen Juden, das Tschechische gewann jedoch beständig an Terrain, vor allem unter jenen Juden, die in den Kleinstädten verblieben bzw. aufs Land gezogen waren.
Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 und der Auflösung der Monarchie 1918 waren die mährischen Juden zwar in den Genuß der Früchte der Emanzipation gekommen, litten aber unter den Widrigkeiten des tschechisch-deutschen Konflikts. Sie bezeugten ihrem Befreier Franz Joseph I. Dankbarkeit, indem sie – wie überall in der Monarchie – in ihren Synagogen seinen Geburtstag feierten, in seiner Armee dienten und ihm während des Krieges die Treue hielten. Als nach Kriegsende die Tschechoslowakei gegründet wurde, setzten sich viele der Trends vom Ausgang des 19. Jhs. fort – berufliche Orientierung, Bevölkerungsabnahme und der Glaube an den Liberalismus. Zwar blieben viele mährische Juden in der deutschen Kultur verwurzelt, doch sie ersetzten ihr Vertrauen auf den Kaiser durch das Vertrauen auf eine liberale Demokratie, die ihnen der neue tschechoslowakische Staat versprach.