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Der Neuanfang nach dem Ende

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Wenige Monate nach seiner Befreiung aus dem KZ Theresienstadt bemerkte Rabbiner Leo Baeck, einer der führenden Repräsentanten des deutschen Judentums vor 1933:

Für uns Juden aus Deutschland ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wenn immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muß. Unser Glaube war es, daß deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen werden können. Dies war eine Illusion – die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei.18

War aber tatsächlich alles nur eine „Illusion“, wie Leo Baeck meinte, oder gar eine „Fiktion“, wie Gerschom Scholem einige Jahre später behauptet hat? Unmittelbar unter dem Eindruck von Auschwitz und dem organisierten Judenmord hat man sich vermutlich gar nicht anders äußern können, als es Baeck und Scholem seinerzeit getan haben. Anderseits ist solchen Äußerungen mit gebotener Zurückhaltung zu begegnen, denn es sind Feststellungen post festum, die bekanntlich mitunter eine gefährliche Projektionen und die Wirklichkeit konterkarierende Geschichtsbilder produzieren.

Die Vorstellung von Leo Baeck, daß Deutschland künftig ein Land ohne Juden sein werde, hat sich nicht erfüllt. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten 1990 setzte eine starke Zuwanderung von Juden aus der früheren Sowjetunion ein, die zu einer Veränderung der bis dahin existierenden Situation führte. Bis 1989 waren in der alten Bundesrepublik nur rund 30.000 Juden in den Gemeinden gemeldet. Diese waren zumeist als Displaced Persons, als Flüchtlinge und Gestrandete aus den Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern im Nachkriegsdeutschland hängengeblieben waren. In der DDR wiederum waren 1989 gerade noch 450 Juden in den wenigen dort noch existierenden jüdischen Gemeinden gemeldet.

Bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten konnte man sich als Jude mit der Bundesrepublik oder der DDR identifizieren. Man verstand sich als Bürger des Staates, in dem man lebte, und es war nicht notwendig, ein wie auch immer geartetes Bekenntnis zu Deutschland und dem Deutschtum abzulegen. Den Juden in der Bundesrepublik und in der DDR bot die eingeschränkte Souveränität, d.h. die Anwesenheit der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, einen gewissen Schutz, der es ihnen ermöglichte, ohne Ängste und Befürchtungen im Nachkriegsdeutschland zu leben.

Sieht man sich die Altersstruktur der Gemeinden im Nachkriegsdeutschland an, so läßt sich feststellen, daß diese hoffnungslos überaltert war. Das Durchschnittsalter schwankte in den Jahrzehnten nach 1945 zwischen 45 und 50 Jahren, was heißt, daß die Gemeinden überwiegend aus älteren Menschen bestanden. Im Gegensatz zur DDR wurde in der alten Bundesrepublik die Bevölkerungsabnahme jedoch durch einen entsprechenden Einwanderungsüberschuß gerade noch ausgeglichen. Es war vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten jedoch nur noch eine Frage der Zeit, bis es zur Schließung von Gemeinden und damit zu einem Erliegen jüdischen Lebens gekommen wäre.

Hätte nicht nach 1990 eine zahlenmäßige signifikante Zuwanderung von Juden eingesetzt, wäre die demographische Entwicklung derart verlaufen, daß es in absehbarer Zeit ein jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr gegeben hätte. Durch die Zuwanderung von Juden aus der früheren Sowjetunion hat sich aber eine neue Lage ergeben. Heute besteht die Perspektive, daß über kurz oder lang ein neues deutsches Judentum entstehen könnte. Es wird, daran kann kein Zweifel bestehen, jedoch ein anderes deutsches Judentum sein als das vor 1933 – eines, das sich nicht mehr auf eine heute weitgehend versunkene bildungsbürgerliche Tradition beruft, die wir mit den Namen Schiller, Goethe, Heine, Uhland oder Hauff verbinden, eines, das sich nicht mehr vorbehaltlos mit Deutschland identifiziert, sondern seine kulturellen und geistigen Wurzeln hauptsächlich in Osteuropa oder in Israel haben wird.

1 Walther Rathenau an Frau General von Hindenburg, 12. Dezember 1917, in: Ders., Briefe, Bd. 1, Dresden 1926, Nr. 321, S. 338f.

2 Berthold Auerbach, Briefe an seinen Freund Jacob Auerbach, hrsg. von Jacob Auerbach, Bd. 2, Frankfurt am Main 1884, S. 427.

3 Paul Rieger, Ein Vierteljahrhundert im Kampf um das Recht und die Zukunft der deutschen Juden. Ein Rückblick auf die Geschichte des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glau bens in den Jahren 1893–1918, Berlin 1918, S. 21.

4 Im deutschen Reich (1914), S. 339.

5 Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt 1947, S. 268.

6 Ernst Lissauer, Flugblätter 1914, Göttingen 1914.

7 Franz Oppenheimer, Soziologische Streifzüge. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 2, München 1927, S. 259.

8 Walther Rathenau an Wilhelm Schwaner, 4. August 1916, Nachlaß Rathenau Nr. 4, Bundesarchiv Koblenz.

9 Jakob Wassermann, Deutscher und Jude. Reden und Schriften 1904–1933, Heidelberg 1984, S. 127.

10 Theodor Lessing, Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen, Gütersloh 1969, S. 112.

11 Ebd., S. 113

12 Franz Oppenheimer, Antisemitismus, in: Neue Jüdische Monatshefte 2 (1917/18), S. 1.

13 Ludwig Holländer, Rückblicke, in: Im deutschen Reich (1914), S. 301.

14 W. Hartenau [Rathenau], „Höre Israel!“, in: Die Zukunft 18 (1897), S. 454ff.

15 Theodor Wolff, Die Juden. Ein Dokument aus dem Exil 1942/43, Königstein/Ts. 1984, S. 104.

16 J. Hobrecht, Die Ostjudengefahr, in: Kölnische Zeitung vom 18. Dezember 1922.

17 Memoiren Ernst Levin, LBI New York, ME 722.

18 Es handelt sich um die Passage einer Rede, die Leo Baeck am 4. Dezember 1945 vor einer Ver sammlung der „American Federation of Jews from Central Europe“ in New York hielt. Der Verf. ver dankt diesen Hinweis Hermann Simon, Stiftung Neue Synagoge-Centrum Judaicum (Berlin). Vgl. Die Zeit vom 8. November 1991.

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