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Österreich, Böhmen und Mähren 1648–1918 Böhmen

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1618–1711

Die kulturelle, politische und religiöse Bedeutung des böhmischen Judentums ist aufs engste mit seiner besonderen demographischen Situation verknüpft. Ende des 16. Jhs. lebte etwa die Hälfte der böhmischen Juden in der Hauptstadt Prag, während sich der Rest mehrheitlich auf Dörfer und Landstädte verteilte. Trotz der beiden Vertreibungsdekrete Ferdinands I. von 1541 und 1557, welche die Juden für zwei bzw. drei Jahre zum Verlassen der Stadt zwangen, war Prag, mit Ausnahme von Frankfurt am Main, die einzige große europäische Stadt mit kontinuierlicher jüdischer Besiedlung seit dem Mittelalter. Zu einer Zeit, als mitteleuropäische Juden vom städtischen Leben größtenteils ausgeschlossen waren, besaßen die böhmischen Juden also ein starkes urbanes Zentrum – bis zum Beginn des 19. Jhs. die größte jüdische Siedlung überhaupt –, das die restlichen Gemeinden des Landes in allen Lebensbereichen dominierte. Anfang des 18. Jhs. zählte die Prager Judenstadt etwa 330 Häuser oder, nach der ersten genauen Konskription von 1729, 10.507 Einwohner. Damit stellten die Juden 28 % der Prager Gesamtbevölkerung, eine Dichte, die sonst nur in osteuropäischen Schtetln erreicht wurde. Der Rest der böhmischen Juden – im Jahre 1724 etwa 30.000 – war auf rund 800 Orte verteilt, etwa 600 davon Dörfer mit vereinzelten jüdischen Einwohnern, ohne jüdische Institutionen. Diese verstreute Siedlungsform ließ die böhmischen Landjuden bei kriegerischen Auseinandersetzungen und Unruhen zu einer leichten Beute für durchziehende Truppen werden. Im Falle von länger andauernden militärischen Konflikten wie etwa dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) waren jedoch gerade die Prager Juden Übergriffen ausgesetzt.

Der Prager Fenstersturz, der am 23. Mai 1618 den zweiten böhmischen Ständeaufstand einleitete, bildete für die Prager Unterschicht gleichzeitig das Angriffssignal auf die Judenstadt. Man bezichtigte die Juden, die Partei der Habsburger ergriffen zu haben, eine Theorie, die durch die bevorzugte Behandlung, die Ferdinand II. (1619–1637) den Juden nach dem Sieg der Habsburger in der Schlacht am Weißen Berg (1620) zuteil werden ließ, bestätigt zu werden schien. Außer Schutz vor Plünderungen und Militäreinquartierungen bewilligte der Kaiser den Prager Juden den Ankauf von 39 nahe der Judenstadt gelegenen Christenhäusern, wodurch die aus 250 Häusern bestehende Judenstadt erheblich erweitert werden sollte. Abgesehen von der für die christlichen Prager unerwünschten Vergrößerung der Judenstadt rief die Tatsache, daß es sich bei diesen Häusern um den konfiszierten Besitz von vertriebenen Aufständischen handelte, besondere Erbitterung hervor. Nach dem „judenfreundlichen“ Statthalter von Böhmen, Fürst Karl von Liechtenstein, wurden diese Gebäude im Volksmund als Liechtenstein-Häuser bezeichnet. Liechtensteins Wohlwollen in der Sache war hauptsächlich durch die Bereitschaft der Juden bestimmt, dem Böhmischen Rentmeisteramt – der Behörde der böhmischen Finanzverwaltung – einen namhaften Beitrag zu den Kriegskosten zu leisten.

Für die Juden war die sonst rare Möglichkeit, zusätzliche Häuser zu erwerben, in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Sie bot zum einen eine willkommene Chance, dem chronischen Platzmangel im Ghetto abzuhelfen. Darüber hinaus gewährte der Besitz oder Teilbesitz eines Hauses auch einen gewissen Schutz vor Vertreibungen, die sich vornehmlich gegen „Nichtansässige“ oder „keine Kontribution Zahlende“ richteten. Auch innerhalb der jüdischen Gemeinde war der Hausbesitz sozial und ökonomisch bedeutsam: Die traditionelle jüdische Gesellschaft in Böhmen war ebenso wie die christliche ständisch gegliedert. Da den Juden jedoch Bodenbesitz – die Grundlage des christlich-europäischen Feudalwesens – versagt blieb, bildete der Hausbesitz die Basis für die sozialen Abstufungen innerhalb der jüdischen Gesellschaft, die bis ins frühe 19. Jh. fortbestanden.

Haus- und Teilhausbesitzer waren zugleich Steuerträger (Kontribuenten) und Schutzjuden. Nur sie besaßen Handels- sowie unbeschränktes Aufenthaltsrecht und waren innerjüdisch für bestimmte religiöse Funktionen qualifiziert. Ein Pächter (Bestandjude, Arendar) erhielt das Aufenthaltsrecht nur für die Dauer der Pacht, d.h. vorübergehend. Das Pachtverhältnis gewährte lediglich das Recht, selbst hergestellte Erzeugnisse – z.B. Branntwein oder Leder – zu verkaufen, nicht aber sonstigen Handel zu treiben. Der Inmann, der bei einem Hausbesitzer zu Untermiete wohnte, hatte keines dieser Rechte. Er betätigte sich gewöhnlich als Handwerker. Seine finanzielle Lage war wegen der hohen Mieten meist prekär und die Gefahr, ausgewiesen zu werden, groß. Völlig ohne Rechtstitel waren öffentliche und private Bedienstete. Sofern sie als Gemeindeangestellte fungierten, gleichgültig, ob als religiöse – Rabbiner, Kantoren, Kinderlehrer usw. – oder als weltliche – Ärzte, Bader, Hebammen usw. –, lebten sie mit ihren Familien im allgemeinen in „Gemeindehäusern“. Mit der Beendigung ihres Dienstes erlosch auch ihre Aufenthaltserlaubnis. Private Dienstboten hingen vollkommen von ihrem Arbeitgeber ab, der sie jederzeit wegschicken und gegen andere austauschen konnte. Mittellose Vertriebene und vor Verfolgung flüchtende Juden konnten nur in dieser letzten Kategorie Aufnahme in bestehende Gemeinden finden. Da die christlichen Behörden gemeinhin aber auch die Zahl der zugelassenen Dienstboten festlegten, waren der jüdischen Solidarität enge Schranken gesetzt. Wollten sie ihre eigene legale Existenz nicht gefährden, mußten die Ansässigen ihre Glaubensgenossen im Stich lassen. So entstand am Rande der jüdischen Gemeinden eine asoziale und teilweise sogar kriminelle Schicht von Landstreichern, die aus dem Geburtenüberschuß zusätzlich genährt wurde.

Zur Fortführung des Krieges benötigte Ferdinand II. auch nach dem Sieg über die böhmischen Stände die finanzielle Unterstützung der Juden. In seinem 1623 erlassenen Judenprivileg für Prag und Böhmen erweiterte er daher die jüdischen Erwerbsmöglichkeiten, senkte zur Erleichterung des Handels Zoll- und Mautgebühren und hob Unterschiede in der Gerichtsordnung auf. Mit der Ausmerzung des Protestantismus durch die siegreiche Gegenreformation wurde die junge präkapitalistische Bourgeoisie, die sich größtenteils zum Protestantismus bekannt hatte, in den habsburgischen Ländern entscheidend geschwächt. Der Staat war also auch nach Beendigung des Krieges zur Aufrechterhaltung seiner Wirtschaft auf jüdische Kredite und Heereslieferungen ebenso angewiesen wie auf den jüdischen Groß- und Kleinhandel und auf die jüdischen Kontributionen. Letztere betrugen im Jahre 1640 mit 40.000 Gulden immerhin 1/17 der gesamten Landeskontribution für Böhmen. Fiskalische Argumente verhinderten daher bis in die Regierungszeit Maria Theresias (1740–1780) größere Judenvertreibungen.

Die böhmischen Städte und Stände hatten jedoch weniger das Wohlergehen des Staates als jenes ihrer Bürger im Auge, und diese fühlten sich durch die rasch anwachsende jüdische Bevölkerung in ihren wirtschaftlichen Interessen bedroht. So beschloß der böhmische Landtag 1650, daß die Juden aus allen Städten vertrieben werden sollten, in denen sie nicht bereits 1618 ansässig gewesen waren. Weiterhin sollte ihnen die Pacht von Zöllen und Mauten untersagt werden, wie auch das Halten von christlichem Gesinde. Speziell in Prag wurde ihnen der Handel an Sonn- und Feiertagen verboten. Zwar schwächte das Reskript von Ferdinand III. (1637–1657) aus dem Jahr 1652 den Landtagsbeschluß in einigen Punkten ab, doch die antijüdische Politik hatte damit einen Etappensieg errungen.

1711–1780

In der Folgezeit wurde jede Katastrophe, die die Juden heimsuchte – wie etwa die Pest von 1679/80 oder der Brand, der 1689 einen Großteil der Prager Judenstadt zerstörte –, ein willkommener Anlaß für Vertreibungs- oder Reduktionsversuche von seiten der städtischen Obrigkeiten. Neben den religiösen traten dabei wirtschaftliche Motive immer deutlicher in den Vordergrund. Obwohl die geforderten Maßnahmen zunächst nicht durchgeführt wurden, erarbeitete man so bereits ein detailliertes Instrumentarium für den Fall, daß die Interessen des Staates mit jenen der Städte konvergieren sollten. Dies traf Anfang des 18. Jhs. zu, als die Wiener Regierung eine merkantilistische Politik verfolgte und die böhmische Industrie sowie den Handel zu beleben suchte. Zu diesem Zweck wurde 1705 das Kommerzkolleg gegründet, das die Juden als wirtschaftliches Hindernis betrachtete. Karl VI. (1711–1740) setzte 1714 eine Judenkommission ein, der erstmals auch Vertreter der böhmischen und der Hofkammer angehörten. Ihre Ziele waren erstens die Absonderung der Juden durch Schaffung geschlossener Wohngebiete, zweitens eine Reduktion der jüdischen Einwohner und drittens die Beschränkung jüdischen Einflusses auf wirtschaftlichem Gebiet.

Hatten frühere Judenreduktionskommissionen ihre Aktivität ausschließlich auf Prag beschränkt, so lenkte das Kommerzkolleg die Aufmerksamkeit nun auch auf die Landjuden. Mitte der zwanziger Jahre wurden eine Reihe von Handelsbeschränkungen für Juden eingeführt, ebenso eine Leibmaut und das Verbot, Mauten, Schäfereien, Bierbrauereien, Mühlen und Höfe zu pachten. Das Gesetz mit den zweifellos weitreichendsten Folgen war jedoch das Reskript vom 25. September 1726, das bestimmte, daß in jeder Familie nur ein männliches Mitglied eine rechtsgültige Ehe eingehen und Ansässigkeit (Inkolat) erhalten könne. Dieses sogenannte Familiantengesetz setzte die Zahl der Familienstellen für Böhmen auf 8541 fest. Im Unterschied zu früheren Plänen war der Zweck des Gesetzes nicht die Reduktion, sondern das Konstanthalten der jüdischen Einwohner. Als Basis diente daher die im Zensus von 1724 ermittelte Familienzahl. Außerdem legte man fest, daß Juden sich nirgends niederlassen durften, wo sie nicht schon 1726 ansässig gewesen waren. Obwohl es sich in der vorliegenden Form also bereits um einen Kompromiß handelte, verhinderte das Familiantengesetz für mehr als 120 Jahre die natürliche Entwicklung der jüdischen Bevölkerung und verurteilte Teile derselben zu einem unsicheren Wanderleben.

Im Laufe des 17. Jhs. trugen verschiedene Ereignisse dazu bei, die dominante Stellung der Prager Juden zu schwächen. Bis dahin war Prag nicht nur das demographische, sondern vor allem auch wirtschaftliches Zentrum der böhmischen Juden gewesen. Die Prager Kontribuenten beglichen einen Großteil der den böhmischen Juden auferlegten Abgaben, und folgerichtig wurde der Prager Oberrabbiner als Repräsentant der gesamten böhmischen Juden heit angesehen. Mit ihrem eigenen Magistrat verfügte die Prager Judenstadt außerdem über eine Munizipalautonomie, die sie im Prinzip den christlichen Prager Städten (Altstadt, Neustadt, Kleinseite) gleichstellte. Aufgrund interner Streitigkeiten während des Dreißigjährigen Krieges sahen sich die christlichen Behörden mehrmals veranlaßt, in die innerjüdische Administration einzugreifen. Dies führte im Jahre 1636 zu einer Beschränkung der jüdischen Autonomie durch die Einsetzung eines Inspektors der Judenschaft, der als christliches Überwachungsorgan des Gemeindelebens fungierte. Ihm folgte wenig später ein christlicher Rentmeister, der für die Steuereintreibung zuständig war.

Parallel zu dieser institutionellen Schwächung der Prager Juden erlebten die Landjuden durch den Zuzug von Flüchtlingen aus dem Osten einen demographischen Aufschwung. Da sie 1654 bereits ein Drittel der Landeskontribution aufzubringen hatten, schufen sie sich mit den Deputierten und Beisitzern der böhmischen Landesjudenschaft eine eigene Vertretung. Die Pest des Jahres 1680 und der Brand von 1689 verzögerten nach dem Tod von Simon Spira-Wedeles (1679) die Wahl eines neuen Oberrabbiners für Prag. Dies nutzte die Landesjudenschaft 1689 zur Wahl eines eigenen Landesrabbiners. Obwohl sich das Bevölkerungsgleichgewicht zwischen Prag und den Landjuden bis in die zweite Hälfte des 19. Jhs. ständig zugunsten der letzteren verschob, konnte diese Institution sich nicht lange halten. Dazu trug zweifellos die Wahl des gelehrten David Oppenheim (1664–1736), eines Neffen des Wiener Hofjudens Samuel Oppenheimer, zum Oberrabbiner von Prag im Jahr 1702 bei. Seit 1717 fungierte er auch als böhmischer Landesrabbiner. Da der Landesrabbiner damit also in Prag saß, wurden für jeden der zwölf Landkreise Kreisrabbiner eingesetzt, um eine bessere Betreuung der verstreut lebenden Landjuden zu gewährleisten. Maria Theresia kamen die neuen Kreisrabbinate bei ihrer Verwaltungsreform von 1749 sehr gelegen, denn sie ermöglichten ihr eine direktere Kontrolle ihrer jüdischen Untertanen. Da die Regierung relativ rasch auf die Besetzung der Kreisrabbiner Einfluß gewann, wurden diese – entgegen der ursprünglichen Intention – am Ende des 18. Jhs. zu Aposteln der Aufklärung unter den böhmischen Landjuden. Das böhmische Landesrabbinat dagegen erlosch bald nach Oppenheims Tod, im Jahre 1749.

Neben der zunehmenden wirtschaftlichen Mißgunst ihrer christlichen Zeitgenossen und fortgesetzten religiösen Angriffen waren die Juden auch anderen Beschuldigungen ausgesetzt. Als nach dem Tod von Karl VI. der Österreichische Erbfolgekrieg (1740–1748) losbrach, wurden vor allem die Prager Juden im Verlauf der Kampfhandlungen immer wieder der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt. Gerüchte um angeblichen jüdischen Landesverrat während des Krieges mit Preußen im Jahre 1744 boten Maria Theresia nach der Rückeroberung Prags durch die kaiserliche Armee einen willkommenen Vorwand, sich der Juden in den Erbländern zu entledigen. In einem Reskript vom 18. Dezember 1744 dekretierte sie, „daß künftighin kein Jud mehr in Unserem Erbkönigreich Böheim geduldet werden solle“. Das Dekret wurde 1745 auf Mähren und Schlesien ausgeweitet. Jüdische und nichtjüdische Interventionen aus dem In- und Ausland erreichten zwar die Aufhebung des Ausweisungsdekrets für die böhmischen und mährischen Landjuden, die Prager Juden mußten die Stadt jedoch im März 1745 verlassen. Nur anhaltende diplomatische Bemühungen, die Erklärung der böhmischen Stände, daß sie nicht in der Lage seien, die durch die Ausweisung der Juden entstandenen Steuerausfälle zu ersetzen, und das jüdische Angebot, hohe Kontributionen zu leisten, ermöglichte ihnen 1748 schließlich die Rückkehr nach Prag.

Trotz dieser existentiellen Unsicherheit blühte das geistige Leben in Prag auch während des 17. und 18. Jhs. Aufgrund seiner berühmten Jeschiwot war Prag der Anziehungspunkt für jüdische Studenten aus vielen Ländern. Zu den herausragenden Oberrabbinern dieser Periode zählen Jomtow Lipmann Heller (1578–1654; Oberrabbiner 1627–1629), der allerdings 1629 aufgrund der Behauptung, daß er in Büchern und Predigten die christliche Religion geschmäht habe, des Landes verwiesen wurde, die bereits erwähnten Simon Spira-Wedeles und David Oppenheim sowie der wegen seiner Gelehrsamkeit allseits geschätzte Ezechiel Landau (1713–1793; Oberrabbiner ab 1754), der während der Josephinischen Reformen eine entscheidende Rolle spielen sollte. Neben ihrer Lehrtätigkeit an der Jeschiwa waren die Oberrabbiner auch Vorsitzende des Obergerichts. Obwohl die Autonomie der Prager Judenstadt seit der Einsetzung des christlichen Inspektors 1636 beschränkt war, verfügte sie immer noch über eigenständige Gerichtsbarkeit, die auf ihrer selbständigen Steuer gebarung beruhte. Trotz zahlreicher Versuche von seiten der Prager Altstadt, diese Autonomie zu zerschlagen und ihre eigene Autorität auf die Judenstadt auszudehnen, wurde sie sogar noch 1762 von Maria Theresia bestätigt. Erst 1784 hob Joseph II. die autonome Gerichtsbarkeit auf. Von jenem Zeitpunkt an unterstanden die Juden der Ortsgerichtsbarkeit. Jüdische Gerichte durften nur noch religiöse Angelegenheiten verhandeln.

Von der Pionierrolle der böhmischen Juden beim Aufbau des modernen Wirtschaftssystems zeugen unter anderem die erwähnten Konflikte zwischen ihnen und der christlichen Bevölkerung. Wie in Mähren, Galizien und Ungarn gab es zwar auch in Böhmen eine relativ breite jüdische Handwerkerschicht – Anfang des 18. Jhs. 27 % der Prager und 19 % der Landjuden –, vor allem aber bauten die Juden im Verlaufe des 17. und 18. Jhs. das System des Zwischenhandels auf. Ebenso wie der böhmische Adel wandten sie sich im letzten Drittel des 18. Jhs. der Industrie zu und entwickelten die Baumwollindustrie in Böhmen. Der merkantilistische Staat unterstützte diese Bemühungen durch Ausnahmen vom Zunftzwang und Zollerleichterungen. Durch Verbindung dieser Tätigkeit mit Großhandel, Bankwesen und der Pacht des Tabakgefälles – das Tabakmonopol wurde in Österreich 1701 eingeführt – gelangten einige Juden, darunter die Familien Popper, Hoenig, Laemel und Porges, zu großem Reichtum. Ein Teil dieser Familien (Popper und Hoenig) wurde bereits Ende des 18. Jhs. nobilitiert. Popper und Laemel erhielten die Erlaubnis, sich in der Prager Christenstadt anzusiedeln. Der letztere verlegte aber ebenso wie Israel Hoenig seinen Wohnsitz schließlich in die Residenzstadt Wien.

Infolge des wirtschaftlichen Aufstiegs erwachte in der jüdische Bourgeoisie auch der Wunsch, an der Kultur der Umwelt teilzuhaben. Früher noch als in Wien begannen Prager Juden, sich säkulare Bildung anzueignen, sich modisch zu kleiden, Kaffeehäuser, Theater, die Oper sowie sonstige christliche Vergnügungsstätten zu frequentieren und die jüdische Tradition zu vernachlässigen. Schon vor 1771 hatte die Prager Universität verschiedentlich jüdische Ärzte und Bader diplomiert. Aufgrund anhaltenden Drucks verfügte Maria Theresia im Jahre 1774, daß Juden an allen Universitäten des Reiches zum Medizinstudium zuzulassen seien. Trotz dieser scheinbar weitgehenden Akkulturation der neuen Finanzoligarchie stieß der Versuch der Kaiserin, 1776 in Prag eine deutschsprachige jüdische Schule zu errichten, auf erbitterten Widerstand. Noch war der durch äußere Restriktionsmaßnahmen entscheidend mitgeprägte traditionelle Rahmen zu starr. Ihn aufzuweichen, sollte erst Joseph II. (1741–1790, Kaiser ab 1765) gelingen, der nach dem Tod seiner Mutter 1780 die Alleinherrschaft antrat.

1780–1848

Bald nach dem Regierungsantritt Josephs II. begannen die Debatten über die Tolerierung nichtkatholischer Minderheiten. Das am 19. Oktober 1781 unter der Überschrift Verordnung zur besseren Bildung und Aufklärung veröffentlichte Hofdekret für die böhmischen Juden war das erste in der Serie von Toleranzpatenten, die Joseph II. für die Juden der Habsburgermonarchie erließ. Außer den in der Überschrift deklarierten Zielen verfolgte das Dekret den Zweck, die böhmischen Juden an ihre Wohnorte zu binden und sie durch Beschäftigung in Industrie, Handel und Handwerk für den Staat „nützlich“ zu machen. Der Integration in die christliche Gesellschaft sollte die Verfügung dienen, daß deutsch-jüdische Normalschulen errichtet werden oder, wo die Juden dies nicht leisten konnten, jüdische Kinder in christliche Schulen geschickt werden sollten. Außerdem eröffnete man den Juden den Zugang zu höherer Bildung einschließlich der Universitäten. Auch die diskriminierende Kleiderordnung – in Prag mußten Juden seit 1551 den gelben Judenfleck tragen – wurde aufgehoben. Um ihre „Produktivierung“ voranzutreiben, erlaubte man den Juden, sich ohne Kontrolle der Zünfte dem Gewerbe und Großhandel, der Manufaktur, Industrie und verschiedenen Handwerken zu widmen. Den Reichen wurde die Pacht von Grund und Boden gestattet, den Armen der Einzelhandel und das Hausieren, um ihren Unterhalt an den Wohnorten zu sichern. Die erniedrigende Leibmaut wurde zwar abgeschafft, andere jüdische Sondersteuern blieben jedoch in Kraft. Da es keineswegs in der Absicht des Kaisers lag, „die jüdische Nazion [sic!] in den Erblanden mehr auszubreiten oder da, wo sie noch nicht toleriret ist, neu einzuführen“, gewährte er keine Erleichterung bei den Familiantengesetzen und der Beschränkung der Freizügigkeit. Diese Einschränkungen und die Tatsache, daß das Dekret die jüdische Autonomie vorläufig unangetastet ließ, sicherten ihm die Akzeptanz durch christliche und jüdische Konservative.

Wie aber wirkte sich die Einführung der neuen Gesetze auf die böhmischen Juden aus? Die Etablierung der jüdisch-deutschen Normalschulen in Böhmen ist zweifellos als Erfolgsgeschichte zu bezeichnen. Hatten sich die Prager Juden 1776 noch nachdrücklich gegen die Errichtung einer säkularen Schule gewehrt, erfolgte die Eröffnung der deutsch-jüdischen Hauptschule in Prag nun bereits wenige Monate nach der Publikation des Toleranzpatents, im Mai 1782. Dieser Meinungsumschwung verdankte sich weniger den zu erwartenden Segnungen der josephinischen Toleranzpolitik als der Umsicht des Schuloberaufsehers für Böhmen, Ferdinand Kindermann von Schulstein. Indem er den Religionsunterricht von vornherein aus dem Lehrplan ausschloß und sich auch in anderen kritischen Punkten kompromißbereit zeigte, gewann der Pädagoge das Vertrauen des konservativen Oberrabbiners Ezechiel Landau. Mit dessen Unterstützung konnte das Projekt rasch realisiert werden. Nach dem Muster der Prager Hauptschule wurden bis zum Jahre 1787 in Böhmen 25 Trivialschulen errichtet. Während in Ungarn die josephinischen Normalschulen schon im ersten Jahrzehnt nach ihrer Einführung mangels Interesse geschlossen und die galizischen nach zahlreichen Suppliken von jüdischer Seite 1806 offiziell aufgehoben wurden, hatte sich die Zahl der böhmischen bis 1820 fast verdoppelt.

Völlig richtig hatte die jüdische Orthodoxie erkannt, daß die Gefahr weniger von staatlichen Verordnungen als von den Aufklärern aus den eigenen Reihen drohte. Tatsächlich waren viele der Maßnahmen, die von orthodoxen Kreisen als besonders drückend empfunden wurden und letztlich auch wirklich das traditionelle Leben unterminierten, von den Maskilim inspiriert worden. So konnte sich Ezechiel Landau mühelos mit Ferdinand Kindermann auf die Einführung des deutschen Pflichtschulunterrichts einigen. Kurz zuvor hatte er jedoch eine flammende Predigt gegen Naphtali Herz Weisels (Hartwig Wessely) 1781 erschienenes pädagogisches Reformprogamm Dibre schalom we-emet (Worte des Friedens und der Wahrheit) gehalten, in dem Weisel weltliche Bildung über die religiöse stellte. So ist es auch zu erklären, daß die weiteren Josephinischen Reformen – z.B. die Verpflichtung, offizielle Urkunden und Unterlagen in der „Landessprache“ (d.h. auf Deutsch) abzufassen (1784), die Aufhebung des autonomen jüdischen Gerichtswesens (1784) und die Einführung von festen Vor- und Familiennamen in deutscher Form (1787) – auf relativ wenig Widerstand stießen. Einzig die Einführung der Militärpflicht (1788) rief kontroverse Reaktionen hervor. Sie wurde jedoch durch Ezechiel Landaus Segnung der ersten 25 jüdischen Rekruten aus Prag im Jahre 1789 sanktioniert. Anders dagegen die von jüdischen Aufklärern angeregten Maßnahmen zur Hebung des Schulbesuchs. Die Tatsache, daß zusätzlich zu den bereits bestehenden Restriktionen zur Erlangung der Heiratserlaubnis ab 1786 auch der Vorweis eines Normalschulzeugnisses und ab 1812 eine Prüfung aus dem von dem radikalen böhmischen Aufklärer Herz Homberg (1749–1842) verfaßten „jüdischen Katechismus“ Bene Zion (Wien 1812) verpflichtend wurden, empörte die traditionellen Kreise. Auch die Debatte um einen staatlich kontrollierten Religionsunterricht, der in Konkurrenz zu dem traditionellen jüdischen Unterricht stehen sollte, wurde in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. mit großer Heftigkeit geführt.

Nach dem Erlaß der Toleranzpatente äußerten die böhmischen Juden erstmals den Wunsch nach einer Erweiterung ihrer Rechte und einer Änderung ihres politischen Status. So bat z.B. ein Gesuch von 1790, das fortschrittliche galizische Judenpatent auch in Böhmen einzuführen. Im Unterschied zum böhmischen Patent enthielt das galizische nämlich keine festgesetzte Familienzahl und keinerlei Heiratsbeschränkungen. Trotz seiner progressiveren Präambel brachte das von Franz II. (1792–1835) im Jahre 1797 erlassene Systemalpatent im Hinblick auf bürgerliche Rechte keine Verbesserung. Das Patent ließ nicht nur alle Restriktionen in Kraft, sondern griff auch massiv in innerjüdische religiöse Angelegenheiten ein. Es beschränkte die religiöse Macht der Rabbiner und nahm Einfluß auf die Besetzung religiöser Ämter. Die Zulassung zum Talmudunterricht wurde von einer Prüfung in der deutschen Sprache abhängig gemacht. Einige dieser Neuerungen waren wiederum auf Vorschlag des jüdischen Aufklärers Herz Homberg erfolgt.

Als im Verlauf der Napoleonischen Kriege (1792–1815) die Heeresbewegungen 1809 auch Prag in die Gefahrenzone brachten, bildeten sich eine Studentenlegion und eine Bürgergarde. Während die Studentenlegion jüdische Freiwillige ohne Einschränkungen aufnahm, wurde die patriotische Euphorie der Juden von der Bürgergarde strikt abgelehnt. Offensichtlich befürchtete man, daß die Juden aus ihrem Einsatz für das Vaterland später Rechte ableiten könnten. Daran dachten sie aber paradoxerweise erst zu einem Zeitpunkt, als die unter Napoleon eingeführten bürgerlichen Rechte für Juden auf dem Wiener Kongreß revidiert wurden. Das dem Kaiser 1815 vorgelegte Immediatgesuch, welches auch unter Berufung auf die Beteiligung der Juden an der deutsch-österreichischen Freiwilligenbewegung forderte, die Juden bezüglich „Erwerbs-, Gewerbs- und Besitzrechten“ der übrigen Bevölkerung gleichzustellen, blieb ohne Erfolg. So bestand zumindest für die neuen jüdischen Eliten die Diskrepanz zwischen einem hohen Maß an Akkulturation und Identifikation mit der Monarchie und einer stark diskriminierenden Gesetzgebung bis 1848 weiter.

Aus den sozioökonomischen Umwälzungen des ausgehenden 18. Jhs. ergab sich – parallel zum nichtjüdischen Bereich – einerseits der finanzielle Aufstieg der kapitalistischen Bourgeoisie und andererseits die Etablierung eines Bildungsbürgertums, das seinen Autoritätsanspruch nunmehr auf säkulares Wissen gründete. Innerjüdisch hatte das nicht nur die erwähnten Kämpfe zwischen Maskilim und Orthodoxen zur Folge, sondern auch einen rapiden Autoritätsverlust der traditionellen Gelehrtenschicht. War Prag unter Ezechiel Landau noch eines der wichtigsten Zentren jüdischer Gelehrsamkeit gewesen, so verlor es in den folgenden Generationen trotz bedeutender Rabbiner wie Eleasar Fleckeles (1754–1826) und Salomo Jehuda Rappoport (1790–1867, ab 1840 in Prag) zusehends an Anziehungskraft. Neben Orthodoxen und radikalen Aufklärern gab es in Prag seit dem Ende des 18. Jhs. auch eine Gruppe von gemäßigten Maskilim, die im Gegensatz zur Berliner Haskala die nationale jüdische Eigenart betonten. Sie schlossen sich 1802 in der „Gesellschaft der jungen Hebräer“ zusammen und gaben die kurzlebige Jüdisch-deutsche Monatsschrift in deutscher Sprache mit hebräischen Buchstaben heraus. Außer der Familie Jeitteles zählte zu dieser Gruppe u.a. der Druckereibesitzer Moses I. Landau (1788–1852), ein Enkel von Ezechiel Landau. Dieser spezifischen Qualität der Prager Haskala ist es mitzuverdanken, daß die Ideen der Reformbewegung in Böhmen nicht zu ähnlichen Spaltungen innerhalb der Gemeinden führten wie in Deutschland oder Ungarn.

1848–1867

Mit dem Beginn der industriellen Revolution Anfang des 19. Jhs. trugen – ähnlich wie in Mähren – vorwiegend jüdische Unternehmer zur Entwicklung der böhmischen Textilindustrie bei. Vor allem der Kattundruck galt als jüdisches Monopol. In den neu gegründeten Fabriken der Prager Vorstädte wurde die modernste Technologie eingesetzt. Als Fabrikbesitzer traten die Juden damit in ökonomischen Gegensatz zu einer neuen Bevölkerungsschicht, dem Industrieproletariat. So machte die Streikbewegung der Prager Kattunarbeiter im Juni 1844 nicht bei der Plünderung der Porges’schen Fabrik in der Prager Vorstadt Smíchov halt, sondern weitete sich zu antijüdischen Demonstrationen und Überfällen in der ganzen Stadt aus.

Neben den ökonomischen Spannungen tauchte ab dem zweiten Drittel des 19. Jhs. ein neues Konfliktpotential auf, dessen Wurzeln bereits in der Regierungszeit Maria Theresias zu suchen sind. Von den Germanisierungstendenzen des aufgeklärten Absolutismus ermuntert, hatten die Juden sich sprachlich und kulturell an die deutsche Bürokratie und Bourgeoisie assimiliert. Früher hatte man im privaten Bereich auf Jiddisch, mit der nichtjüdischen Umwelt aber je nach sprachlicher Umgebung auf deutsch oder tschechisch kommuniziert. Nun verschob sich vor allem in den Städten das Gleichgewicht in beiden Bereichen zugunsten des Deutschen. Dies sollte den Juden beim Erwachen der tschechischen Nationalbewegung, welche die Rolle des Deutschen kulturell und politisch in Frage stellte, vorgeworfen werden. Eine Gruppe jüdischer Intellektueller versuchte sich zunächst der tschechischen Nationalbewegung anzunähern, unter ihnen der spätere Redakteur der Neuen Freien Presse Moritz Hartmann (1821–1872), der slawophile Schriftsteller Siegfried Kapper (1821–1879), der durch seine Darstellung des jüdischen Lebens in Böhmen bekannt gewordene Leopold Kompert (1822–1886) und der Publizist David Kuh (1818–1879). Auf verschiedene Weise bemühten sie sich, eine Parallele zwischen den unterdrückten Tschechen und den Juden herzustellen. Die Mehrheit der Tschechen wies diesen jüdischen Annäherungsversuch allerdings zurück. Nach den antijüdischen Ausschreitungen des Jahres 1844 in Prag und noch viel mehr nach jenen, die während der Revolution von 1848 in ganz Böhmen stattfanden – die größte davon im April des Jahres in Prag –, waren die meisten Juden vom grundsätzlich judenfeindlichen Charakter der Tschechen überzeugt. Dies verstärkte vor allem in den Städten ihre Loyalität zum Zentralstaat und die Verbundenheit mit der deutschen Kultur. So wurden die Truppen des Fürsten Windischgrätz, der im Juni 1848 den Prager Pfingstaufstand niederschlug, aber auch weitere Übergriffe gegen Juden unterband, von vielen mit Erleichterung empfangen. Erst das Zusammenwirken verschiedener Faktoren sollte ab den siebziger Jahren des 19. Jhs. jene Identifikationsmuster ändern.

Die bürgerliche Revolution von 1848 endete vor allem in Böhmen für die meisten Beteiligten in einer Enttäuschung. Die tschechische Nationalbewegung, deren Führer František Palacky (1798–1876) seine Ziele im Rahmen der Habsburgermonarchie verwirklicht sehen wollte, mußte ebenso eine Niederlage hinnehmen wie die Liberalen, die eine großdeutsche Lösung angestrebt hatten. Viele der während der Revolution gewonnenen Freiheiten wurden nach dem Sieg der Reaktion wieder zurückgenommen. Für die Juden, die sich mehrheitlich auf seiten der Liberalen an den Kämpfen beteiligt hatten, brachte das Revolutionsjahr jedoch eine dramatische Änderung ihrer Situation. Die bürgerliche Emanzipation, welche ihnen die von Kaiser Franz Joseph I. (1848–1916) oktroyierte Verfassung vom 4. März 1849 garantiert hatte, wurde zwar nach der Niederlage der Revolution widerrufen, die Niederlassungsfreiheit und die Aufhebung der Familiantengesetze sowie der jüdischen Sondersteuern (bereits 1846 erfolgt) blieben aber in Kraft. So waren die Juden von den Ausnahmegesetzen, unter denen sie seit Jahrhunderten zu leiden hatten, erlöst. Einzig die Besitzfähigkeit wurde ihnen während des Neoabsolutismus (1851–1859) wieder abgesprochen. Während sich die Hoffnung der Slawen, neben Deutschen und Ungarn als drittes, gleichberechtigtes Staatsvolk anerkannt zu werden, 1867 im „Ausgleich“ mit Ungarn endgültig zerschlug, brachte das Jahr den Juden die lang ersehnte gesetzliche Emanzipation. Das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 stellte sie in jeder Beziehung allen anderen Staatsbürgern gleich.

Eine unmittelbare, verwaltungstechnische Konsequenz aus der veränderten gesetzlichen Situation war 1852 die Aufhebung der Prager Judenstadt als eigener Verwaltungseinheit. Den nun mit den anderen vier Prager Städten (Altstadt, Neustadt, Kleinseite, Hradčany) vereinigten Bezirk nannte man zu Ehren Josephs II. „Josefstadt“ (Josefov). Im Zuge der Assanierung wurden 1896 die meisten Gebäude der ehemaligen Judenstadt niedergerissen. Der Revolution in der Gesetzgebung folgten noch weitere auf sozialem, ökonomischem und – die vielleicht wichtigste – auf demographischem Gebiet. Die nach der Einführung der Freizügigkeit einsetzende Landflucht veränderte den Charakter der böhmischen Judenschaft nachhaltig. Ein Großteil der bis dahin verstreut lebenden Landjuden siedelte sich in größeren Städten und industriellen Zentren an. 1850 lebten die etwa 75.000 böhmischen Juden (1,72 % der Gesamtbevölkerung) in 347 Gemeinden. 1890 war die Zahl der jüdischen Bevölkerung zwar auf etwa 95.000 (1,62 % der Gesamtbevölkerung) angewachsen, die Zahl der jüdischen Gemeinden hatte sich jedoch auf 197 reduziert. Bis 1921 lebten nur noch 14,5 % der Juden in Orten mit weniger als 2000 Einwohnern. Im Laufe eines halben Jahrhunderts hatten sich die böhmischen Juden von einer mehrheitlich ruralen in eine urbane Gesellschaft verwandelt.

In Prag, dessen jüdische Einwohnerzahl bis zur Aufhebung der Familiantengesetze konstant zwischen 10.000 und 12.000 betrug, hatte sich die jüdische Bevölkerung bis 1910 fast verdreifacht (29.107). Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung war mit 6,3 % zwischen 1869 und 1910 jedoch konstant geblieben und verringerte sich bis 1921 sogar auf 4,7 %, obwohl zu dieser Zeit bereits ein Drittel der böhmischen Juden in Prag lebte. Während sich der jüdische Bevölkerungsanteil in anderen Großstädten, wie Wien oder Berlin, in diesem Zeitraum vervielfachte, sank die „Metropole von Israel“ – so die Bezeichnung für Prag in einer jüdischen Quelle des 18. Jhs. – nun auch demographisch zur Bedeutungslosigkeit herab. Einer der Gründe für diese Entwicklung ist in der Emigrationsbewegung aus den böhmischen Ländern zu sehen. Zogen ab der zweiten Hälfte des 19. Jhs. auch viele nichtjüdische Böhmen aus ökonomischen Gründen Richtung Westen, so galt dies in verstärktem Maß für arme Juden, die zusätzlich dem Antisemitismus zu entfliehen hofften. Allein in Prag fanden zwischen 1844 und 1921 acht antisemitische Ausschreitungen statt (1844, 1848, 1863, 1897, 1904, 1905, 1920 und 1921).

1867–1918

Mit der Zuwanderung von jüdischer wie auch nichtjüdischer Landbevölkerung aus den tschechischsprachigen Teilen Böhmens ab der Mitte des 19. Jhs. verschob sich in den Städten und industriellen Zentren das sprachliche Gleichgewicht zugunsten des Tschechischen. Das meist deutschsprachige Bürgertum sah sich einer aufstrebenden Gruppe tschechischsprachiger Zuwanderer gegenüber, die Rechte einforderten. Eine wichtige Rolle bei der Beförderung des Tschechischen spielte die liberale Erziehungsreform der sechziger Jahre. Das Schulgesetz von 1869 hob die kirchliche Kontrolle über die Grundschulen auf und schuf so die Basis für ein säkulares Bildungssystem. Dies wurde von der tschechischen National bewegung zum Ausbau eines nationalen Schulsystems in tschechischer Sprache genutzt, was 1882 in der Errichtung der tschechischen Universität in Prag gipfelte. Die Entkonfessionalisierung der Erziehung beseitigte aber gleichzeitig den Hauptgrund für die Aufrechterhaltung separater jüdischer Schulen, in denen auch auf dem Lande in deutscher Sprache unterrichtet wurde. Viele dieser seit dem Josephinismus bestehenden deutschen Schulen wurden, z.T. unter massivem Druck der tschechischen Nationalbewegung, während des letzten Drittels des 19. Jhs. geschlossen oder durch tschechische ersetzt. Eine langfristige Folge dieser Bemühungen war die Tatsache, daß 1930 die Zahl der jüdischen Studenten an der tschechischen Karls-Universität erstmals diejenige an der Deutschen Universität übertraf (1421 gegenüber 1069). 40 Jahre zuvor hatten nur 10 % der jüdischen Studenten der tschechischen Universität den Vorzug gegeben (57 gegenüber 528 an der Deutschen Universität).

Das böhmische Judentum hatte seit der Zeit des aufgeklärten Absolutismus eine umfassende Modernisierung durchgemacht, die mit der Übernahme der deutschen Sprache und Kultur einherging und in der Emanzipationsgesetzgebung Mitte des 19. Jhs. ihren Abschluß fand. Unter dem Einfluß der tschechischen Nationalbewegung durchlief es etwa ab 1870 einen sekundären Akkulturationsprozeß, der durch bewußten Bilingualismus gekennzeichnet war und die liberale deutsch-jüdische Allianz in Frage stellte. In einer von erbitterten Nationalitätenkonflikten geprägten Gesellschaft mußte sich auch die jüdische Politik einer nationalen Terminologie bedienen. Dies war ein wesentlicher Grund, warum trotz der im allgemeinen westlichen Prägung des böhmischen Judentums der Zionismus Ende des 19. Jhs. in weiten Kreisen der jüdischen Bevölkerung Böhmens Fuß fassen konnte.

Beeinflußt vom Kulturzionismus Achad Haams (1856–1927) und dem politischen Zionismus Theodor Herzls (1860–1904), aber auch von den Theorien des jüdischen Philosophen Martin Buber (1878–1965) und des Staatsgründers der Tschechoslowakei Tomáš Masaryk (1850–1937), propagierte die zionistische Bewegung einen national-jüdischen Weg und stand sowohl deutsch- als auch tschechischsprachigen Juden offen. Das Herz der Bewegung bildeten zwei in Prag situierte Institutionen – der „Verein jüdischer Hochschüler in Prag Bar Kochba“ und ab 1907 die zionistische Zeitung Selbstwehr. Die Prager Zionisten zählten so illustre Namen wie den Philosophen Hugo Bergmann (1883–1975), den Schriftsteller Max Brod (1884–1968) und den Journalisten Robert Weltsch (1891–1982) zu ihren Mitgliedern. Auch die meisten Schriftsteller, die zum sog. „Prager Kreis“ gerechnet werden, standen in engerer oder loserer Verbindung zu den Zionisten. Diesem Kreis gehörten Männer an, welche die deutschsprachige Literatur so nachhaltig beeinflußten wie Franz Kafka (1883–1924) oder Max Brod, aber auch weniger berühmte wie etwa Oskar Baum (1883–1941), Ludwig Winder (1889–1946) und Felix Weltsch (1884–1964).

Ebenso wie in den deutschsprachigen Ländern nahm die antisemitische Agitation nach der Erweiterung des Wahlrechts (1882 und 1896) auch in Böhmen zu. Charakteristischerweise wurde der Antisemitismus von beiden rivalisierenden Volksgruppen zur Massenmobilisierung benutzt, wobei man sich u.a. sogar der mittelalterlichen Ritualmordbeschuldigung bediente. Die Höhepunkte antisemitischer Propaganda bildeten die Unruhen nach dem Sturz der Regierung Badeni (1895–1897), die sich um eine Neuregelung der Sprachenfrage bemüht hatte, sowie die Ritualmordbeschuldigung gegen den jüdischen Landstreicher Leopold Hilsner aus dem böhmischen Grenzdorf Polna im Jahre 1899. Der „Fall Hilsner“ wurde sogleich von der tschechischen, deutschnationalen und christlichsozialen Presse aufgenommen, was in einer beispiellosen antisemitischen Kampagne zu Hilsners Verurteilung zum Tode führte. In der Folge kam es in ganz Europa zu antisemitischen Kundgebungen und Ausschreitungen, von denen besonders die kleinen Landjudengemeinden in Böhmen und Mähren betroffen waren. Eine rühmliche Rolle in dieser Affäre spielte der spätere Gründer der Tschechoslowakischen Republik, Tomáš Masaryk. Masaryk verurteilte in mehreren Schriften den Prozeßverlauf sowie das Verhalten der Öffentlichkeit und forderte – allerdings vergeblich – eine Revision des Verfahrens. Leopold Hilsner wurde zwar erst im Jahre 1917 von Kaiser Karl I. begnadigt, sein mutiges Eintreten gegen mittelalterliche Vorurteile verschaffte Masaryk jedoch internationale Popularität, die ihm im weiteren helfen sollte, seine politischen Anliegen durchzusetzen. Die intellektuelle und politische Integrität Masaryks ließen nach dem Zusammenbruch der Monarchie im Jahre 1918 schließlich auch die Juden in Böhmen und Mähren auf eine bessere Zukunft in der neugegründeten Tschechoslowakischen Republik hoffen.

Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa

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