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Selbstbehauptung im Untergang
ОглавлениеAls Hitler und die Nazis im Januar 1933 an die Macht kamen, war das der Anfang vom Ende. Der Kampf um Emanzipation und Gleichberechtigung, über 100 Jahre geführt, schien verloren. Enttäuschung breitete sich aus. Viele empfanden es als einen jähen Schock. So zum Beispiel der 86jährige Maler und Grafiker Max Liebermann, der Inbegriff eines deutschen Juden, der feststellte, er sei aus dem Traum der Assimilation, den er sein Leben lang geträumt hätte, erwacht.
Die jüdische Bevölkerungsgruppe hat nicht einheitlich auf die nationalsozialistische Bedrohung reagiert. Einige wollten wie Max Liebermann ausharren, andere entschlossen sich zur Auswanderung, die meisten waren unsicher und verhielten sich abwartend. Bis in den Sommer 1935 hinein hoffte so mancher, man könne sich mit dem Regime in irgendeiner Form arrangieren. Insbesondere diejenigen, die Deutschland als ihre Heimat betrachteten, die stolz auf die im Weltkrieg gebrachten „Blutopfer“ waren, verwahrten sich gegen die Ausgrenzungspolitik der NSDAP: „Wir wiederholen in dieser Stunde das Bekenntnis unserer Zugehörigkeit zum deutschen Volke, an dessen Erneuerung und Aufstieg mitzuarbeiten unsere heiligste Pflicht, unser Recht und unser sehnlichster Wunsch ist“ (29. März 1933).
Von zionistischer Seite ist der Versuch der Anpassung an die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse scharf kritisiert worden. Man schüttelte den Kopf darüber, daß Repräsentanten von Vereinigungen wie dem RjF oder dem „Vortrupp. Gefolgschaft deutscher Juden“ daran glaubten, die Nazis durch ein betont nationales und soldatisches Auftreten beeindrucken zu können. Für besonders abwegig hielt man die von einigen ernsthaft vertretene Überzeugung, daß eine „ehrenhafte“ Eingliederung in den NS-Staat möglich sei. Diejenigen, die in den zwei Jahren, in denen das vielleicht noch möglich schien, zwischen 1933 und 1935 also, eine solche Annäherung mittels Denkschriften und Eingaben versucht haben, wurden nach 1945 heftig attackiert, vereinzelt sogar der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt. Von zwei Seiten angegriffen, von den Nazis auf der einen, von den Zionisten auf der anderen, retteten sich die deutschgesinnten Juden in Losungen wie „Bereit für Deutschland“ (Hans-Joachim Schoeps) oder zogen sich auf Parolen wie „Jeder bleibt auf seinem Posten“ zurück.
Im Lager des deutschen Judentums hat man die Maßnahmen der neuen Machthaber zunächst falsch eingeschätzt. Man verkannte die Politik der Dissimilation, die auf Ausgrenzung abzielte, darauf, den Juden nicht nur ihre Existenzgrundlage, sondern auch ihre „deutsche“ Identität zu nehmen. Tragisch ist, daß trotz dieser Erfahrungen die Mehrzahl der deutschen Juden an dem Bekenntnis zu Deutschland festgehalten hat und nicht verstehen konnte, daß dieses Bekenntnis nicht akzeptiert wurde. Man verschloß davor die Augen, wollte es vielleicht auch nicht wahrnehmen, wohl in der geheimen Hoffnung, es werde im Deutschland Goethes und Schillers letztlich so schlimm schon nicht kommen.
Jugendliche fragen heute oft, warum sich die deutschen Juden eigentlich gegen die Ausgrenzung nicht gewehrt, warum sie sich schließlich wie Schafe zur Schlachtbank hätten treiben lassen. Das sind legitime Fragen, die aber die Möglichkeiten der damaligen Situation verkennen. Der Masse der deutschen Juden fehlte jede Voraussetzung, sich kollektiv zur Wehr zu setzen. Weder war dafür der Wille noch das nötige Bewußtsein vorhanden. Vermutlich ist dies auch von einer jüdischen Gemeinschaft zuviel verlangt, die in der Struktur bürgerlich war, überaltert und politisch zersplittert. Die Mehrzahl der deutschen Juden hatte – wie im übrigen auch die nichtjüdische Bevölkerung – bis dahin angepaßt gelebt und war loyal gegenüber der Staatsautorität. Die meisten hätten es abgelehnt, Anordnungen der Behörden in Frage zu stellen. Die Vorstellung, mit der Waffe in der Hand Widerstand zu leisten, war vollständig undenkbar und entsprach auch nicht dem traditionellen Verhalten, nachzugeben, sich in Situationen der Gefahr zu arrangieren – in der Hoffnung, so am ehesten unbeschadet überleben zu können.
Kaum noch nachvollziehbar ist der psychische Druck, dem die Juden nach 1933 aus gesetzt waren. Diffamierungen, Boykott und Ausschreitungen erzeugten Unsicherheit, schufen eine Atmosphäre der Angst. Das Gefühl der sozialen Isolierung ergriff fast jeden. In der Memoirenliteratur ist nachzulesen, wie weh manchem die Recht- und Wehrlosigkeit getan hat, wie bitter die gesellschaftliche Ausgrenzung empfunden wurde. Als im Herbst 1935 die sogenannten Nürnberger Gesetze („Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, „Reichsbürgergesetz“) in Kraft traten, mit denen zwischen Deutschen und Juden ein Trennstrich gezogen wurde, begannen viele zu ahnen, daß ein Juden und Deutschen gemeinsames Kapitel der Geschichte mit Riesenschritten dem Ende entgegenging.
Den allermeisten der rund 260.000 deutschen Juden, die in den Jahren von 1933 bis 1940 auswanderten, ist der Entschluß, Deutschland zu verlassen, nicht leicht gefallen. Diejenigen, die ihn schließlich fällten, taten es, weil sie für sich keinen anderen Ausweg mehr sahen. Aber selbst dann noch, als sie erkennen mußten, daß sie in dem Land, dem ihre Liebe galt, als unerwünscht angesehen wurden, selbst dann hielt so mancher an seinem Deutschsein fest. Ernst Levin z.B., der nach Südamerika geflüchtet war, schrieb im fernen Buenos Aires im Dezember 1939 ein Gedicht, das er Ein deutscher Jude an die National sozialisten betitelte. Es ist Trotz, aber auch verzweifeltes Bekennen, die sich in den Versen spiegeln:
Ihr habt uns beschimpft und bespieen,/Verfolgt mit wildem Hass,/Erniedrigt wie die Hunde/Ihr Tröpfe! Was macht uns das!/Beschmutzt habt ihr Euch selber,/Wir blieben fleckenlos rein,/Und werden auch in Zukunft/Die besseren Deutschen sein.17