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Nach der Gleichstellung (1879–1933)

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Die Folge der langen restriktiven Politik gegenüber Juden war eine künstliche Verzögerung der Verstädterung. Städtische jüdische Gemeinden entstanden erst in den sechziger Jahren des 19. Jhs. (Zürich 1862, St. Gallen 1863, Luzern 1867, Lausanne 1868). Kleine ältere Gruppen in Städten wie Basel, Bern und Genf erhielten erst jetzt eine substantielle Verstärkung. Deshalb blieb in der Schweiz auch das Landjudentum und seine Gruppensprache lange lebendig. Die Elsässer Juden ließen sich in ihren altbekannten Handelsgebieten westlich einer Linie von Basel nach Luzern nieder. Südbadische Juden gingen nach Zürich und in die Nord- und Ostschweiz, wo sie sich mit Hohenemser Juden trafen. Jetzt erst kam es – abgesehen von Genf und Avenches – zu meist maurischen (neoislamischen) Synagogenbauten (Basel, Zürich, La Chaux de Fonds, Bern, St. Gallen). Auch nach den Emanzipationskämpfen war es für die Juden in den Städten nicht einfach, eine jüdische Infrastruktur aufzubauen. Gegen die Errichtung jüdischer Friedhöfe bildete sich oft Widerstand, und die Schulbehörden hatten häufig kein Verständnis für die Beachtung der Schabbatruhe durch Schulkinder. In Zürich wurde letztere erst in den siebziger Jahren des 20. Jhs. rechtlich geschützt. In der Reihe dieser Widerstände ist auch die erste erfolgreiche Volksinitiative der Schweizer politischen Geschichte zu nennen, die 1893 das jüdische Schlachten, das „Schächten“, in der Bundesverfassung(!) verbot.

Die freie wirtschaftliche Betätigung erlaubte den Juden eine soziale Mobilität. Jüdische Kaufleute wurden prominent im Textilhandel, stiegen aber auch teilweise in die Produktion ein (Seide, Konfektion, Stickereien usw.). Die Hälfte aller Warenhausdirektoren um 1930 war jüdisch (Maus und Nordmann, Loeb usw.). In den wichtigen Branchen der Schweizer Exportindustrie (Maschinenbau, Chemie) waren sie jedoch mit Ausnahme der Uhrenindustrie kaum vertreten. Im Bankwesen herrschten protestantische Familien. Daneben waren allenfalls die Privatbanken Julius Bär und Dreyfus (Basel) von Bedeutung.

In den neunziger Jahren des 19. Jhs. kamen viele jüdische Studenten aus Osteuropa in die Schweiz. Das gesamte ideologische Spektrum war hier vertreten, von den Zionisten (Wladimir Jabotinsky) bis zu den Bundisten (Chaim Schitlowski) und proletarischen Internationalisten (Rosa Luxemburg, die von 1888 bis 1897 in Zürich war). Chaim Weizmann habilitierte sich 1903 für Chemie in Genf. An jüdischen Themen Interessierte gruppierten sich um den Berner Philosophieprofessor Ludwig Stein, der zahlreiche Dissertationen zu jüdischen Themen annahm. Dies zeigt, daß der Übergang von der russisch-polnischen Talmudhochschule zur deutschsprachigen Universität fließend war. Die guten Verbindungen eines anderen ostjüdischen Studenten, David Farbstein (1868–1953), ermöglichten Theodor Herzl die Abhaltung des Ersten Zionistenkongresses in Basel (1897). Die zentrale Lage der Schweiz und ihre Neutralität führte dazu, daß bis 1939 viele Kongresse hier abgehalten wurden. Für nicht wenige deutsche Zionisten stellte das plurikulturelle Zusammenleben in der Schweiz ein Modell für ihren idealen Staat im Lande Israel dar, so z.B. für Hans Kohn, eines der Gründungsmitglieder des Brit Schalom, der sich für einen binationalen Staat Palästina einsetzte, in dem Juden und Araber die gleichen Rechte haben sollten. In der sozialistisch-zionistischen Partei Poale Zion spielte nach der Staatsgründung Hanna Meisel-Schochat (1880–1972), die ebenfalls in der Schweiz studiert hatte, eine wichtige Rolle. Die Studentenkolonien lebten abseits von den Gemeinden. Einzelne betätigten sich sehr am allgemeinen kulturellen Leben, wie z.B. der Rechtsanwalt Wladimir Rosenbaum mit seinem offenen Haus in Zürich. Farbstein ließ sich von Sozialdemokraten in das Zürcher kantonale und städtische Parlament wählen und avancierte 1922 sogar zum ersten jüdischen Nationalrat (bis 1937).

Ostjüdische orthodoxe Familien bauten nach 1900 eigene Betgemeinschaften oder Gemeinden auf. Wie in Deutschland existierten hier lange gegenseitige Vorbehalte zwischen West- und Ostjuden, die eigentlich erst von der nächsten Generation durch die gemeinsame Sozialisierung, z.B. im Religionsunterricht oder in den Jugendbünden, überwunden werden sollten. Die bis nach 1945 fehlende rechtliche Anerkennung der jüdischen Gemeinden erleichterte die organisatorische Zersplitterung sehr. In Zürich hatten sich bis 1912 drei jüdische Gemeinden gebildet: 1862 die Israelitische Cultusgemeinde, 1895 die Israelitische Religionsgesellschaft, eine neo-orthodoxe Austrittsgemeinde nach Frankfurter Vorbild, und 1912 die Agudas Achim, eine lose Interessengemeinschaft ostjüdischer Betstübel unterschiedlichster landsmannschaftlicher Herkunft. Von 1927 bis 1975 existierte in Montreux eine Talmudhochschule litauischer Tradition, die von der Familie Botschko geleitet wurde. In ihr fand der bekannte Gelehrte Rabbiner Jechiel Weinberg Zuflucht, ein ehemaliger Dozent des orthodoxen Rabbinerseminars zu Berlin, der aus den Fängen der Nazis gerettet werden konnte. Die in der Schweiz tätigen Rabbiner stammten meist aus dem deutschsprachigen Raum und hatten ihre Ausbildung in den Rabbinerseminaren von Breslau, Berlin und Wien erhalten. Der aus dem westpreußischen Flatow stammende neo-orthodoxe Rabbiner Arthur Cohn wurde nach Basel berufen und zu einem Gründer der Agudat Israel, einem Dachverband orthodoxer Guppierungen aus Mittel- und Osteuropa.

Erst 1904 schlossen sich die meisten Gemeinden lose zu einem „Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund“ (SIG) zusammen, der das vom Bundesrat nach der Schächtinitiative zugestandene Koscherfleisch-Importkontingent verteilte und Anstrengungen gegen den Antisemitismus koordinierte. Bedeutende Historiker waren der Basler Arzt Achilles Nordmann und die aus Galizien stammende Augusta Steinberg. Letztere verstarb 1932 über einem Werk zur neuzeitlichen Geschichte der Juden in der Schweiz. 1902 hatte sie über die Juden in der mittelalterlichen Schweiz promoviert. 1901 löste das Israelitische Wochenblatt für die Schweiz die Korrespondentenberichte in der deutsch-jüdischen Presse ab. Für das jüdisch-kulturelle Leben in Zürich wichtig war die Vereinigung für soziale und kulturelle Arbeit im Judentum, die berühmte Gelehrte und Publizisten wie z.B. Martin Buber nach Zürich einlud.

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