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Der lange Weg zur Emanzipation (1798–1879)

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Eine erste Wende in der Judenpolitik der Alten Eidgenossenschaft erreichte der Druck der französischen Politik. Der Leibzoll für Juden wurde 1797 in Basel, 1798 auf dem gesamten Gebiet der Schweiz (nun: „Helvetik“) abgeschafft. Zu dieser Zeit (1798/99) wurden im Parlament zwei heftige Debatten über die bürgerliche Stellung der Juden ausgetragen. Die Landjuden in Endingen und Lengnau hatten im Dezember 1798, inspiriert vom französischen Vorbild, eine Eingabe verfaßt, in der sie vollständige Gleichstellung forderten. Paradox mag erscheinen, daß die sonst sehr fortschrittlichen revolutionären Politiker die Juden nicht zum Bürgereid zulassen wollten, ja sogar über die allgemein übliche Wartefrist von zwanzig Jahren hinaus ein spezielles Stichdatum (1792) zur Antragstellung für die Einbürgerung festlegten, das für Christen nicht galt. Im September 1802 kam es im Kontext des taktischen Rückzugs französischer Truppen in den beiden Landgemeinden Endingen und Lengnau zu Ausschreitungen gegen die Juden. Die Schuldigen wurden von der Regierung, auch als ruhigere Verhältnisse einkehrten, nicht bestraft. Nach 1803 und der Rückkehr der Schweiz zum Föderalismus (napeoleonische „Mediation“) wandelten sich ehemalige Revolutionäre zu konservativen Staatsmännern. Der Aargauer Hans Herzog, ein ehemaliger Befürworter der Gleichberechtigung, handelte 1825 mit Frankreich den Ausschluß der Juden aus einem schweizerisch-französischen Niederlassungsvertrag aus. Trotzdem kam es in den dreißiger Jahren des 19. Jhs. zur Zulassung einzelner Juden in Westschweizer Kantonen, nach 1843 auch auf dem Kantonsgebiet von Zürich. Das konservative calvinistische Genf erlaubte ihnen 1843 den Bau eines privaten Betsaals in der Stadt, und allmählich durften die um 1780 unter piemontesischer Herrschaft in Carouge zugezogenen Juden in Genf selbst wohnen. Eine neue elsässisch-jüdische Landgemeinde entstand nach 1827 im waadtländischen Avenches, ein für den Pferdehandel bedeutendes Kleinstädtchen. Im für den Uhrenhandel wichtigen La Chaux de Fonds bildete sich 1833 eine Gemeinde. Die Aargauer und Elsässer Juden, nach 1826 von der französischen Realpolitik im Stich gelassen, führten einen langen vergeblichen Kampf um die Emanzipation – und dies in einem bürgerlichen, demokratischen und emanzipierten Staat. Der als besonders liberal bekannte neue Kanton Basel-Land wollte Juden prinzipiell Liegenschaftskäufe verbieten. Dies ging Frankreich doch zu weit, und die Regierung in Paris verfügte 1835/36 eine Grenzsperre gegen Baselbieter Kantonsangehörige. Ein Hort liberaler Freiheit war die von deutschen Emigranten geprägte Universität Bern, die 1836 Gustav Gabriel Valentin als Professor für Anatomie und Physiologie und damit als ersten jüdischen Ordinarius im deutschsprachigen Raum berief. Hier wirkte von 1860 bis 1866 auch Moritz Lazarus auf einem Lehrstuhl für Völkerpsychologie. Er hatte Zugang zum einflußreichen Honoratiorenkaffeetreffen der Berner Kantonsregierung („Regierungskaffee“). 1864 diente er als Rektor der Universität, zeitgleich wie in Zürich der jüdische Historiker Max Büdinger.

Das hartnäckige Andauern von Ressentiments gegen die Landjuden in der liberalen politischen Klasse wurde 1848 sichtbar, als sie in der neuen Bundesverfassung von der Niederlassungsfreiheit ausgenommen wurden. 1851 wurden die christlichen Heimatlosen, vor allem die fahrenden „Jenischen“ (Wanderhandwerker) durch eine Verordnung des Bundes eingebürgert. Die Juden wurden weiter übergangen. Die Aargauer Juden besaßen in ihrem eigenen Kanton bis in die sechziger Jahre des 19. Jhs. weder Freizügigkeit noch Stimmrecht. Sie wurden jedoch bereits 1853 zum Militär eingezogen. Langjähriger Vorkämpfer für ihre Gleichstellung war der Endinger jüdische Lehrer Marcus Getsch Dreifus, der als erster Schweizer Jude eine Universität besucht hatte und von der jüdischen Reformbewegung durch seine Aufenthalte in Baden (um 1829) und seine Korrespondenzen mit Isaac Marcus Jost und Ludwig Philippsohn beeinflußt war. Nach 1861 wurde er in seinen Bemühungen von dem bedeutenden Rabbiner und Ranke-Schüler Moritz Kayserling abgelöst, der nach seinem Aufenthalt in den beiden entlegenen schweizerisch-jüdischen Landgemeinden Endingen und Lengnau 1870 nach Budapest berufen wurde. Von französischer Seite her wirkte Moses Nordmann aus Hegenheim, der von den in die Westschweiz und nach Basel ausgewanderten Elsässer Juden als Rabbiner beigezogen wurde. Nordmann intervenierte verschiedentlich beim französischen Außenministerium.

1860 zeichnete sich ein Wandel in der französischen Politik ab. Für den Abschluß eines neuen Freihandelsvertrags mit der Schweiz wurde die Gleichstellung der Schweizer Juden zur conditio sine qua non erklärt. Auch England, die Niederlande (1863) und der amerikanische Botschafter Theodore S. Fay signalisierten ihre Kritik an der Schweizer Politik. Letzterer verfaßte 1859 eine Denkschrift, die die Diskriminierungen von Schweizer Juden durch die Kantone bloßstellte und für eine schlechte Presse im Ausland sorgte.

Darauf bemühten sich einige liberale Politiker, Diskriminierungen abzuschaffen. Im Aargau geschah dies im Mai 1862 unter der Voraussetzung, daß die Juden keinen Anteil am lokalen Bürgernutzen, d.h. dem Eigentum der Ortsbürgergemeinde (Wald, Brennholz usw.), erhalten sollten. Trotzdem entwickelte die katholisch-konservative Seite eine heftige Agitation, die mit der Abberufung des Aargauer Parlamentes wegen der „Judenfrage“ durch ein Referendum endete. Der Bundesrat mußte hier 1863 die Bundesexekution androhen, um die freie Niederlassung von Juden im Kanton durchzusetzen, sowie ihr Stimm- und Wahlrecht sicherzustellen. Durch diese Auseinandersetzung wurde die lokale Einbürgerung der Juden bei den Politikern noch unpopulärer, als sie es vorher schon gewesen war. Zum 1. Januar 1879 erhielten die alteingesessenen „autochthonen“ Aargauer Juden das Ortsbürgerrecht, allerdings in juristisch getrennten „rein jüdischen“ Ortsbürgergemeinden. Dies erst bedeutete den Abschluß des Kampfes um die Emanzipation nach über achtzig Jahren (1798–1879). Die in den sechziger Jahren des 19. Jhs. etablierte Form der direkten Demokratie hatte die Bedeutung judenfeindlicher Vorurteile in der Politik gesteigert, eine allgemeine gesellschaftliche Emanzipation hatte entgegen zeitgenössischen Wunschvorstellungen, etwa Heinrich Heines in seinen Reisebildern, in der Schweiz lange keine Gleichberechtigung mit sich gebracht. Sie erfolgte hier spät und erst auf ausländischen, d.h. vor allem französischen Druck.

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