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Das Heilige Römische Reich bis 1648 Anfänge im Hochmittelalter

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Die Anfänge jüdischer Siedlung im Bereich des Heiligen Römischen Reiches liegen im dunkeln. Als sich im 10. Jh. aus dem östlichen Teil des zerfallenden Frankenreiches allmählich wieder eine großräumige Herrschaftsordnung zu entwickeln begann, die in Abwehr äuße rer Gegner im Innern eine starke Königsmacht herausbildete, waren die Bedingungen geschaffen, die wieder eine kontinuierliche Siedlung von Juden zuließen. Die Begründung eines erneuerten römischen Kaisertums durch Otto den Großen 962 mit dem Anspruch einer das gesamte christliche Europa umfassenden Universalgewalt ließ ältere Schutzpflichten über „homines minus potentes“, die seit karolingischer Zeit auch Juden erfaßten, neu erstehen. Die Legende, im Jahre 982 habe ein Angehöriger der jüdischen Familie Kalonymos dem Kaiser Otto II. in einer Schlacht das Leben gerettet, belegt das Bewußtsein einer engen Verbindung zum Kaisertum.

Seit dieser Zeit, im späten 10. Jh., etablierten sich durch Zuwanderung aus unterschiedlichen Richtungen an den großen Handelswegen, zuerst vor allem in den ehemaligen römischen Civitates unter dem Schutz der Reichsbischöfe, die ersten größeren Judengemeinden. Es waren dies Kaufmannskolonien, die die sich nun bietenden ökonomischen Chancen zu nutzen wußten. Die älteste und bis ins 11. Jh. wichtigste unter ihnen war – sieht man von der schon im 9. Jh. gegründeten Gemeinde in Metz ab – die seit etwa 917 belegte Mainzer Gemeinde. Einige Jahrzehnte danach werden die Wormser (980), die Regensburger (981) und die Kölner Juden erstmals erwähnt, später dann die Gemeinden in Trier (1066) und Speyer (1084), wenn auch archäologischen Befunden zufolge meist ältere Ursprünge zu vermuten sind. Nicht zufällig waren Juden auch in den Pfalzorten Magdeburg (965) und Merseburg (973) anzutreffen, obwohl sich hier noch keine Gemeinden bildeten. Bis zum Ende des 11. Jhs. etablierten sich weitere jüdische Gemeinden in Aachen, Bamberg, Bonn, Heilbronn, Neuss, Prag und Xanten.

Mit der Neuansiedlung von Juden im ottonisch-salischen Reich, die nur in selteneren Fällen auf älteren Kernen beruhte, setzte auch eine wirtschaftliche Neuorientierung ein. Waren die Juden der fränkischen Zeit meist Kaufleute – die Raffelstetter Zollordnung von 903/05 setzte sie geradezu mit diesen gleich –, die sich um die Versorgung der herrschaftlichen Pfalzen kümmerten, so wurden sie nun als Kaufleute in den Städten ansässig, um vielfältigere Handelskontakte anknüpfen zu können. Neben den weiterbestehenden Transithandel mit Seide, Gewürzen, Pelzen und Medikamenten trat nun über die Messen und Märkte die Versorgung der Stadtbevölkerung mit Rohstoffen, Nahrung, Metallen, Wein, Getreide, Vieh und Kleidung, keinesfalls aber in Form eines Handelsmonopols. Ergänzend zum Messegeschäft entwickelte sich das Kredit- und Geldwechselgeschäft.

Die Geschäftsform der „ma’arufia“, eine von der örtlichen Gemeinde anerkannte Alleinberechtigung eines jüdischen Kaufmanns bei seinen nichtjüdischen Partnern, und auch die Praxis der Darlehensaufnahme bei Nichtjuden zu Handelszwecken zeugen von einer zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung mit der nichtjüdischen Umwelt. Dem entspricht auch die Wohnweise: Keineswegs entstanden in sich abgeschlossene Ghettos, wie man lange Zeit geglaubt hat, sondern allenfalls Wohnviertel um einen kultischen Mittelpunkt, wie sie auch bei anderen Bevölkerungsgruppen üblich waren, so daß man geradezu von einer „concivilitas“ im Verhältnis zu den Christen sprechen kann. Das um 1020 als „iudeorum habitacula“ bezeichnete Regensburger Judenviertel, wie in Köln entlang der römischen Mauer gelegen, ist in diesem Sinn zu verstehen. So ist es kaum auffällig, daß noch zwei Jahrhunderte später christliche Gebäude hier als „circumsita iudeis“ beschrieben wurden. Nur konsequent war es, daß, wie in Worms belegt, christliche Bauleute der Dombauhütten auch die Synagogen und Mikwot errichteten.

Die wohl schon von einem Kollegium der Parnassim und einem Vorsteher (auch Judenbischof) geleiteten Kehilot des aschkenasischen Siedlungsraums im römisch-deutschen Reich erfüllten von Beginn an im Kern kultisch-religiöse Aufgaben und entwickelten sich meist bald zu Zentren rabbinischer Gelehrsamkeit. Sie standen in enger Verbindung mit den älteren Gemeinden des Westfränkischen Reiches, z.B. in Limoges, Orléans, Rouen, Reims und Troyes. Schon bald nach der Jahrtausendwende entstanden Synagogen in Mainz, Köln, Speyer und Worms, denen Jeschiwot angegliedert waren. Durch die Anlage von Friedhöfen (Worms 1076) und die Errichtung von Mikwot wurde die Entstehung eines geregelten Gemeindelebens ermöglicht.

Die Mainzer Jeschiwa des Talmudgelehrten Gerschom ben Jehuda, der den Beinamen „Leuchte des Exils“ (Meor ha-Gola) trug, war die bedeutendste dieser Zeit. In zahlreichen, auf Anfrage vieler deutscher, französischer und italienischer Judengemeinden erteilten Responsen und Takkanot versuchte Gerschom – wie andere Rabbinen der Zeit – von dort aus die religiösen Grundsätze des Judentums mit den ethisch-sittlichen Erfordernissen des Lebens in Europa in Übereinstimmung zu bringen. Andere, wie Meschullam ben Kalonymos und Simon der Große in Mainz und der Wormser Vorbeter Mëir ben Isaak, wurden um die gleiche Zeit durch ihre mystischen und liturgischen Dichtungen berühmt. Der in Worms aufgewachsene und später in Troyes lehrende Salomo ben Isaak, gen. Raschi, ein Schüler des berühmten Mainzer Talmudisten Jakob ben Jakar, erlangte nachhaltigen Ruhm durch seine vereinfachende, leicht verständlich geschriebene Zusammenfassung der aschkenasischen Tradition (Perusch Raschi). In ähnlicher Weise war in Speyer Rabbi Eljakim ben Meschullam tätig, der durch einen nur teilweise überlieferten Talmudkommentar hervortrat, und in Worms Salomo ben Simson, vermutlich identisch mit dem „Judenbischof“ Salman, der als Halachist ebenso wie als synagogaler Dichter Berühmtheit erlangte. Die Wirksamkeit dieser und zahlreicher anderer Gelehrter führte dazu, daß noch im 13. Jh. Isaak ben Mose, gen. Or Sarua, aus Wien rühmen konnte: „Von unseren Lehrern in Mainz, Worms und Speyer ist die Lehre ausgegangen für ganz Israel, und seitdem Gemeinden in den Rheinlanden, in ganz Deutschland und in unseren Königreichen gegründet sind, hat man sich daselbst an ihre Vorschriften gehalten.“1

Die Beziehungen zur christlichen Herrschaft – zu den Vertretern der beiden Universalgewalten ebenso wie zu regionalen Funktionsträgern – waren am beiderseits anerkannten Paradigma der Schutzherrschaft orientiert. Der Missionseifer eines Herrschers konnte zu Störungen führen wie 1012, als Kaiser Heinrich II. Zwangsbekehrungen und Vertreibungen in Mainz veranlaßte. In Privilegienbriefen vom Februar 1090, die durchaus auf halachisches Recht Rücksicht nahmen, erteilte Heinrich IV. den Juden der Gemeinden von Speyer und Worms, wahrscheinlich kurz darauf auch denen von Regensburg, umfangreiche Rechte. Danach durfte z.B. niemand ihr Vermögen beeinträchtigen. Sie sollten innerhalb des Reiches ungehindert Handel treiben können, ohne dafür Zollabgaben entrichten zu müssen. Den Wormser Juden wurde darüber hinaus der Geldwechsel in eigenen Wechselstuben gestattet. Niemand durfte ihre Kinder zwangsweise taufen, und auch ihre Sklaven durften nicht durch Taufe dem Dienst entfremdet werden. In Rechtsstreitigkeiten mit Christen sollte jede Partei nach ihrem Gesetz Recht geben und ihre Sache beweisen. Konflikte untereinander sollten von den Juden selbst geregelt werden. Für Worms wurde zusätzlich bestimmt, daß der Ortsbischof und seine Amtsträger in Rechtsangelegenheiten nur mit demjenigen unter den Juden verhandeln sollten, dessen Wahl vom Kaiser legitimiert worden war, da sie zur kaiserlichen Kammer gehörten („ad cameram nostram attineant“). Mit dieser Formel, die ähnlich später im rheinfränkischen Landfrieden Friedrich Barbarossas von 1179 Verwendung fand („iudei, qui ad fiscum imperatoris pertinent“), wurde, obwohl hier noch ohne negative Konnotation, die kaiserliche Kammerknechtschaft der Juden vorgebildet. Nur insoweit läßt sich die These K. Stows von der „Wasserscheide“ mittelalterlicher jüdischer Geschichte zwischen älterer Freiheit und neuer Abhängigkeit aufrechterhalten.2

Auch wenn nicht alle jüdischen Gemeinden im ottonisch-salischen Reich über derartige Vorrechte verfügten, so repräsentieren diese doch einen Rechtsstatus, der in späterer Zeit nicht mehr erreicht wurde. Indes wurde das bisher weitgehend friedliche Zusammenleben zwischen Juden und Christen durch die Verfolgungen im Vorfeld des Ersten Kreuzzugs jäh abgebrochen. Im November 1095 hatte Papst Urban II. in Clermont zur Waffenhilfe für die von muslimischen Seldschuken bedrängten Christen im Vorderen Orient aufgerufen. Der auf große Resonanz stoßende Aufruf wurde bald so aufgefaßt, daß auch die Feinde Christi im eigenen Land bekämpft werden sollten. Schon um die Jahreswende 1095/96 kam es in Rouen zu ersten Ausschreitungen gegen Juden. Berüchtigt wurde der nach Osten ziehende Kreuzfahrerhaufen des Grafen Emicho aus dem Nahegau. Dieser und vermutlich drei andere verursachten nacheinander Massaker unter den Judengemeinden der Städte Speyer, Worms, Mainz, Trier, Metz, Köln, Neuss und Xanten. Innerhalb der Monate Mai und Juni, noch bevor sich das reguläre Kreuzfahrerheer sammeln konnte, wurden alle wichtigen Gemeinden des lothringisch-rheinischen Raumes vernichtet. Auf dem Wege nach Osten erfaßte man schließlich noch die Gemeinden von Regensburg und Prag. Ausweislich der Memorbücher waren von über 20.000 Juden mindestens 5000 Opfer zu beklagen, davon allein in Mainz über 1000 und in Worms weitere 800. Lediglich die Speyerer Judengemeinde konnte sich dank des energischen Eingreifen des Bischofs Johann erfolgreich zur Wehr setzen.

Wie viele der jüdischen Gemeinden des römisch-deutschen Reiches überlebten oder sich reorganisieren konnten, ist schwer zu sagen. Als Folge der Pogrome entstand eine gewisse Diversifizierung der jüdischen Siedlungen, die jetzt nicht mehr auf die großen Pfalz- und Bischofsstädte beschränkt waren, sondern auch kleinere Landstädte erfaßten. Die Anzahl der Wohnplätze vermehrte sich von 13 um 1096 auf etwa 90 anderthalb Jahrhunderte später. Eine gewisse räumliche Konzentration ist für die Rheinlande, im 13. Jh. auch für das mittlere Deutschland, für Franken und Schwaben festzustellen. Nicht minder bedeutsam war der mentalitätsgeschichtliche Wandel, der sich in den zahlreichen Pijutim und Chroniken niederschlug: Ein durch die Erfahrungen der Verfolgungszeit geprägtes neues Bewußtsein der eigenen, vom Leiden bestimmten Schicksalsgemeinschaft begleitete fortan das aufkeimende jüdische Gemeindeleben. Dem Eingreifen des während der Pogrome in Italien weilenden Kaisers Heinrich IV. ist es zu danken, daß die kaiserliche Schutzzusage erneuert und in einem 1103 verkündeten allgemeinen Landfrieden normiert wurde.

Die Vervielfältigung jüdischen Lebens schlug sich nun auch in einer Ausweitung möglicher Tätigkeitsbereiche nieder. Hierzu zählten Münzprägungen, Zollpachten und Finanzoperationen im Dienste christlicher Herrscher, besonders der Herzöge von Bayern, Böhmen, Mecklenburg, Österreich, Schlesien und Tirol wie auch der Erzbischöfe von Mag deburg, Salzburg und Trier. Der Bischof von Würzburg bestellte gar einen jüdischen „Lokator“. Die Ausbildung christlicher Konkurrenz in den Städten verringerte allerdings gleichzeitig den Anteil der Juden am allgemeinen Warenhandel. Eine größere Rolle als bisher spielte der Handel mit verfallenen Pfändern und mit Wein. Dominierend wurde nun das jüdische Engagement im Darlehensgeschäft, das jetzt angesichts wachsender kirchlicher Kritik am Zinsgeschäft christlicher Kaufleute zu einem eigenständigen Geschäftszweig wurde. Doch erst im 13. Jh., als die Anfeindungen gegenüber Juden zunahmen, wurde der Geldhandel zur eigentlichen Grundlage jüdischer Existenz, wogegen der Warenhandel fast vollkommen zurücktrat. Der allgemeine Mangel an liquidem Geld führte dazu, daß außer dem hohen und niederen Adel auch die Geistlichkeit und die Stadtbürgerschaft Kredit leistungen der Juden gerne in Anspruch nahmen.

Eine übergreifende Organisation der Gemeinden des Reiches kam nicht zustande. Wohl aber organisierten sich seit dem 12. Jh. unter Lösung von der bisherigen Orientierung an den Synoden von Troyes und Reims die drei bedeutendsten Judengemeinden in Speyer, Worms und Mainz zu gemeinsamen Tagungen. Als sogenannte SCHUM-Gemeinden, so benannt nach den hebräisch transliterierten Anfangsbuchstaben ihres Namens, nahmen sie für sich das Recht in Anspruch, unter Bannandrohung allgemeingültige Takkanot zu erlassen. Auf einer ersten Versammlung 1150 in Mainz wurde festgelegt, daß die SCHUM-Gemeinden für alle Streitfälle der Juden und jüdischen Gemeinden untereinander zuständig sein sollten. Trotz Wiederholung der Beschlüsse auf Tagungen von 1223 und 1250 gelang es indes nicht, diese Grundsätze umzusetzen und die Autorität der drei Gemeinden dauerhaft zu etablieren, da die traditionell autonome Struktur der deutschen Gemeinden bindende Eingriffe von außen nicht zuließ. Dennoch wurden viele Takkanot der SCHUM-Gemeinden richtungweisend.

Die Kultur der rheinischen rabbinischen Gelehrten konnte ebenfalls nach kurzer Unterbrechung wieder neu stabilisiert werden. Der Talmudkommentar Raschis (Perusch Raschi) wurde nun seinerseits zur Grundlage der im 12. Jh. wirksamen Schule der Tosafisten, besonders der beiden Enkel Raschis, Samuel ben Mëir, gen. Raschbam, und Jakob Tam, gen. Rabbenu Tam. Sie entwickelten zur Fortbildung des vorgefundenen Rechtskorpus und zur Anpassung an die neuen Bedürfnisse des alltäglichen Lebens eine analytische, auf Frage und Antwort beruhende Dialektik der Rechtsauslegung. Mit der Sanktionierung der Geldleihe leisteten sie einen bedeutsamen Beitrag zur Stabilisierung der jüdischen Kreditpraxis. Namentlich erwähnt werden sollen die beiden Gelehrten Elieser ben Joel, gen. Ravia, aus Mainz, der nach Studien in Mainz, Metz, Regensburg und Speyer in Bonn, Bingen, Köln, Würzburg und Frankfurt am Main wirkte, sowie Isaak ben Mose, gen. Or Sarua, aus Böhmen, der vor allem in Wien wirkte. Neben die Tosafisten traten seit der 2. Hälfte des 12. Jhs. die Vertreter einer neuen mystischen Bewegung, der Chasside Aschkenas. Mit deren bedeutendstem Exponenten, dem um 1140 in Speyer geborenen und zuletzt in Regensburg wirkenden Rabbi Jehuda ha-Chassid, wird die Entstehung des „Buches der Frommen“ (Sefer Chassidim) in Verbindung gebracht. In dieser Sammlung von Exempla wurde für eine elitäre, ethisch verfeinerte und esoterisch angelegte Glaubenshaltung geworben. Weiter verbreitet wurden die Lehren namentlich durch seinen Schüler Rabbi Eleasar ben Jehuda aus Worms, gen. Rokeach, der in zahlreichen mystischen Schriften die chassidischen Lehren systematisierte, theoretisch begründete und zugleich popularisierte, ohne den elitären Anspruch seines Lehrers aufrechtzuerhalten.

Das urbane Leben der Juden des römisch-deutschen Reiches, umgeben von der Umwelt der Gojim, paßte sich den veränderten Gegebenheiten an. Standen im 10./11. Jh. die verschiedenen städtischen Gruppen im Rahmen einer offenen Verfassung noch relativ unverbunden einer königlichen bzw. bischöflichen Stadtherrschaft gegenüber, so vollzog sich hier seit dem 12. Jh. ein Wandel. Nach dem Vorbild der oberitalienischen Kommunen begannen die städtischen Bürger unter Führung patrizischer Familien ein neues Gemeinschaftsbewußtsein zu entwickeln, mit dem sie sich von herrschaftlichen Bindungen zu befreien und zugleich von adeligen Lebensformen abzugrenzen versuchten. Der nun allenthalben sichtbar werdende Trend zur „Verstädterung“ und zur „Verselbständigung“ der Stadtbewohner brachte neue Abgrenzungen hervor, die eindeutigere Zuordnungen der Menschen innerhalb der Gesellschaftsordnung ermöglichten, aber auch Lösungen aus der Selbstverständlichkeit überkommener Bindungen provozierten. Eine Konsequenz daraus war, daß die Juden nun ihre Stellung im urbanen Umfeld neu definieren mußten, da sie wie die christlichen Bürger am säkularen Urbanisierungsprozeß partizipierten. Dies führte einerseits zu einer normativen Annäherung bis hin zu einer „concivilitas“ gegenüber christlichen Bürgern wie etwa in Regensburg, wo König Philipp 1207 die Steuerlasten und König Konrad IV. 1251 die Verteidigungslasten der Christen und Juden der Stadt synchronisierten; andererseits kam es aber auch zu einer gewissen Marginalisierung, da Juden dem Schwurverband der christlichen Gemeinde nicht angehören konnten und damit außerhalb der neuen Organisationsstrukturen standen. Die Gefahr bestand um so mehr, als seit dem 11. Jh. von den Bischöfen Burchard von Worms und Ivo von Chartres die patristische Konstruktion der „servitus perpetua iudeorum“ als eine Rechtsfolge der Erbsünde in den Normenkanon des Kirchenrechts aufgenommen wurde, was eine Verrechtlichung der jüdisch-christlichen Beziehungen im Sinne einer minderen, abhängigen Rechtsstellung der Juden zur Folge hatte.

Wenn diese nicht verdrängt werden wollten, mußten sie ihre gefährdete Position mit Hilfe ihrer jeweiligen Schutzherren stabilisieren. Dies geschah z.B. in Regensburg mit einem 1230 von König Heinrich (VII.) ausgestellten Privileg, das einen Freiheitsbrief Friedrich Barbarossas bestätigte. Die Regensburger Juden sollten danach unbeschränkt mit Gold, Silber und anderen Waren handeln dürfen. Sie sollten nur vor demjenigen Richter zu Recht stehen, den sie selbst gewählt und angenommen hatten. Sie sollten durch einen Zeugenbeweis nur dann überführt werden können, wenn mindestens ein Jude als Zeuge zur Verfügung stand, und sie sollten schließlich diejenigen Güter, die sie seit mindestens zehn Jahren in ihrer Gewalt hatten, endgültig behalten dürfen. Mit diesen recht umfassenden Gewährleistungen zum Schutz ihres Handels, ihrer Position vor Gericht und ihres Vermögensstandes wurde ein effektiver Ausgleich dafür geschaffen, daß die Regensburger Juden an dem verdichteten Organisationsgefüge der Stadt nicht mehr partizipieren konnten.3

Eine Gefahr drohte den im Reich ansässigen Juden des 12./13. Jhs. indes noch von den erstmals 1144 in Norwich verbreiteten Vorwürfen des Ritualmords an christlichen Kindern. Seit 1221 hatten diese Vorwürfe auch im Heiligen Römischen Reich Nachahmung gefunden. 1235 waren an verschiedenen Orten derartige Beschuldigungen aufgetaucht, und besonders in Lauda, Tauberbischofsheim und Fulda kam es zu Ausschreitungen gegen die hier ansässigen Juden. Durch den Fuldaer Fall wurde Kaiser Friedrich II. zum Einschreiten veranlaßt. Auf unerklärliche Weise war am Heiligabend des genannten Jahres das Haus eines Müllers in Fulda niedergebrannt, wobei die fünf Kinder des Müllers umkamen. Die Juden wurden verdächtigt, sie benötigten das Blut dieser Kinder zu Heilzwecken und hätten zur Vernichtung der Spuren das Haus in Brand gesteckt. Die 32 Mitglieder der Gemeinde wurden festgesetzt und noch vor Ende des Prozesses von einer aufgehetzten Menge ermordet. Der vor das Hofgericht des Kaisers gebrachte Prozeß, mit dem die Verantwortung der Juden für alle Ritualmorde bestätigt werden sollte, erbrachte einen Freispruch. Kaiser Friedrich II. ließ aufgrund eines Sachverständigengutachtens im Juli 1236 durch Rechtsspruch der Fürsten feststellen, daß die Juden aufgrund der Lehren des Alten und des Neuen Testaments keinen Durst nach Menschenblut haben könnten.

Der Staufer begnügte sich jedoch nicht mit dieser Feststellung, sondern nahm den Freispruch zum Anlaß, seine schutzherrliche Gewalt über die Juden in Auseinandersetzung mit dem Papsttum zu erneuern. Auf dem Augsburger Hoftag vom Juli 1236 erteilte er den Juden des Reiches ein umfassendes Privileg, mit dem er die Geltung eines von Friedrich Barbarossa 1157 den Wormser Juden gegebenen Freiheitsbriefs auf das gesamte Reich ausdehnte. Dabei nahm er die Gelegenheit wahr, in Übernahme älterer Ansätze die Zugehörigkeit der Juden zum kaiserlichen Fiskus zu statuieren, dem sie als Sklaven unterstünden („universi Alemannie servi camere nostri“). In einem im September 1236 an Papst Gregor IX. gerichteten Schreiben stellte er ergänzend klar, daß die Juden im Reich nach gemeinem Recht seiner – und nicht der päpstlichen – Gewalt unmittelbar unterworfen seien („iudeos autem etsi tam in imperio quam in regno nobis communi iure immediate subia-ceant“). In einem 1237 der Stadt Wien erteilten Privileg begründete der Kaiser die Kammerknechtschaft der Juden damit, daß diese so von öffentlichen Amtsfunktionen ausgeschlossen werden sollten, weil sie von alters her zur Buße für ihre Verbrechen – gemeint ist der angebliche Gottesmord – zu ewiger Knechtschaft verdammt seien. Damit wurde die im kirchlichen Rechtsbuch des sogenannten Liber Extra von 1234 nach den Vorgaben Burchards und Ivos stereotypisierte Begründung für die „servitus perpetua iudeorum“ übernommen. Dies geschah aber offensichtlich zur Legitimierung der kaiserlichen Schutzgewalt in Auseinandersetzung mit Kirche und Papst. Eine Rechtsminderung war damit nicht beabsichtigt.

Abhängigkeit und Kammerzugehörigkeit bedeuteten indes für die Juden des Reiches, daß sie die Gewährung kaiserlichen Schutzes durch eine finanzielle Sonderbelastung erkaufen mußten. Die für das Jahr 1241 überlieferte Steuermatrikel der kaiserlichen Kammer läßt dies deutlich werden: Besteuert wurden hier in erster Linie die königlichen Domanialstädte. Die dort jeweils ansässigen Juden wurden gesondert veranschlagt, und zwar mit Summen, die ihren Bevölkerungsanteil bei weitem überschritten. Daß sie mit insgesamt 16 % aller im Bereich der Königs- und Freistädte veranschlagten Steuerleistungen beteiligt wurden, macht deutlich, daß ihre Steuerkraft gegenüber derjenigen der Bürger als recht hoch eingestuft wurde.

Die Effektivität des kaiserlichen Schutzes hing ganz von der konkreten politischen Situation ab. Die Vernichtung der Frankfurter Juden in der „Judenschlacht“ von 1241 etwa, die vielleicht eine Reaktion auf die katastrophale Niederlage eines christlichen Ritterheeres gegen die Mongolen war, vielleicht aber auch die geplante Fortsetzung eines Rechtskonflikts der jüdischen mit der christlichen Gemeinde um den Bestand einer Taufe,4 provozierte zwar ein Eingreifen König Konrads IV., doch mußte er schließlich 1246 im Namen seines Vaters Friedrich II. auf die Ahndung der durch die Duldung der Vernichtung der Frankfurter Juden und kaiserlichen Kammerknechte („exterminium iudeorum de Frankenfurt, servorum camere nostre“) verletzten kaiserlichen Schutzrechte verzichten und der Stadt Verzeihung gewähren. Der Verzicht sollte Frankfurt als Stützpunkt der staufischen Partei absichern.5

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