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Restauration, Revolution und neuerliche Restauration (1815–1860)
ОглавлениеIn den Jahrzehnten seit 1770 begann der Weg der deutschen Juden in die Moderne, der einerseits durch eine partielle Aufgabe der religiösen Tradition durch die Juden selbst und andererseits durch von verschiedenen Seiten betriebene Bemühungen um ihre mehr oder weniger vollständigen bürgerlichen Gleichstellung gekennzeichnet war. Dieser Weg mündete in der oben beschriebenen Emanzipationsgesetzgebung der napoleonischen Zeit. Mit dieser schien eine liberale Lösung für die „Judenfrage“ gefunden zu sein. Mit der Entkonfessionalisierung des Staats- und Gesellschaftslebens war es möglich geworden, Juden nicht mehr als religiös gebundenes Kollektiv innerhalb eines Staates, sondern als der bürgerlichen Teilhabe befähigte Individuen zu verstehen. Die Juden vollzogen diesen Wandel von ihrer Seite aus nach. So war das auffallendste Merkmal der preußischen Judenschaft in den Jahren nach 1812 die Intensität, mit der sie sich an die Umwelt anzugleichen suchten. Als zahlenmäßig erfaßbarer Beleg für diese Assimilationsbestrebungen kann die Zahl der Konversionen von Juden zum Christentum dienen, die vor allem in Preußen ganz erheblich zunahm.
Die Emanzipation der Juden in deutschen Territorialstaaten
In den Jahren 1815 bis 1847/48 und auch noch darüber hinaus stand jedoch die vollständige bürgerliche Gleichstellung der Juden nicht mehr auf der politischen Agenda. Vielmehr wurde die „Judenfrage“ mit der Rückkehr zu einem christlichen Staats- und Gesellschaftsverständnis von der nun dominierenden Restauration verdrängt. Ein Vorfall, der sich 1816, vier Jahre nach dem Erlaß des preußischen Emanzipationsedikts zutrug, illustriert den Rückschritt, der in diesem Bereich zu verzeichnen war: Ein jüdischer Kaufmann hatte sich mit der Bitte an Friedrich Wilhelm III. gewandt, einen seiner Söhne nach dem König nennen zu dürfen. Der über dieses „Ansinnen“ erboste Monarch verbot daraufhin nicht getauften Juden, eindeutig christliche Namen anzunehmen. Erst die Revolution von 1848 führte dazu, daß Juden Namen wie „Christian“, die explizit christlich konnotiert waren, tragen durften.
Beschränkung der Emanzipation
Die teilweise oder vollständige Rücknahme der Emanzipationsgesetze, wie sie sich nach 1815 allenthalben beobachten ließ, stand im Zusammenhang mit der restaurativen Atmosphäre dieser Jahrzehnte. Fortschrittsfeindlichkeit und reaktionäre Zielsetzungen fanden ihren deutlichsten Ausdruck in der von den Herrschern Preußens, Rußlands und Österreichs 1815 gegründeten „Heiligen Allianz“, der später fast alle christlichen Staaten Europas beitraten. Das Christentum war für die Politik wieder bestimmend geworden. Dies beinhaltete auch die Vorstellung vom Gottesgnadentum der Herrscher sowie die Rückkehr des schon für überholt gehaltenen ständischen Ordnungssystems.
Die Aufklärung, die vor allem in Preußen die Bemühungen um die Emanzipation der Juden vorangetrieben hatte, konnte ihre führende Rolle nicht halten und verfiel zusehends der Bedeutungslosigkeit. Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) hatte die Aufklärung bereits 1801 als ein Fossil aus vergangenen Zeiten beschrieben. Gegenüber den Fürsprechern einer Judenemanzipation bemerkte er:
Fällt euch denn hier nicht der begreifliche Gedanke ein, daß die Juden, welche ohne euch Bürger eines Staates sind, der fester und gewaltiger ist als die eurigen alle, wenn ihr ihnen auch noch das Bürgerrecht in euren Staaten gebt, eure übrigen Bürger völlig unter die Füße treten werden.4
Damit waren die heftigsten Sätze gegen die Juden und auch gegen das kosmopolitische Weltbild der Aufklärung gesprochen. In dem Weltbild eines so wirkungsmächtigen Denkers wie Fichte gab es für Juden ebensowenig Platz wie bei den einflußreichen Romantikern. Das Staats- und Gesellschaftsverständnis der Restauration war damit vorbereitet.
Bereits auf dem Wiener Kongreß wurden mit der dort im Juni 1815 verabschiedeten Bundesakte die ersten Schritte zur Rücknahme der gewährten Bürgerrechte gemacht. Zwar hatten sich vor allem der preußische Staatskanzler Hardenberg und Wilhelm von Humboldt, seit 1810 Preußens Gesandter in Wien, für eine einheitliche Emanzipationsgesetzgebung aller deutschen Staaten als Bestandteil der Bundesverfassung eingesetzt, aber der Widerstand mehrerer kleinerer Staaten, darunter vor allem der Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck, war zu heftig. Sie forderten kompromißlos, die als unrechtmäßig angesehene – weil von Frankreich oktroyierte – Gleichberechtigung der Juden rückgängig zu machen. Die „Regulierung des Judenwesens“ stand damit jeweils im Belieben der 39 Staaten des 1815 konstituierten Deutschen Bundes.
In allen deutschen Staaten wurden die Rücknahme und die administrative Einschränkung der bereits erlassenen Emanzipationsgesetze vorgenommen. Bis zur Revolution von 1848 und der erst später erfolgenden endgültigen Emanzipation überzog Deutschland ein tristes Mosaik von überwiegend strengen Judengesetzen, die vor allem als „Erziehungsmaßnahmen“ gedacht waren: Die Juden sollten sich, so die Vorstellung, einer vollständigen Emanzipation zunächst als „würdig“ erweisen.
Problematische Entwicklung in Preußen
Besonders problematisch verlief die Entwicklung in Preußen. Hardenberg forderte zwar, das Edikt von 1812, das bislang nur für die Provinzen galt, die zum Zeitpunkt des Erlasses zu Preußen gehört hatten (Brandenburg, Pommern, Ostpreußen und Schlesien), auf alle Provinzen des 1815 erheblich erweiterten Staatsgebietes auszudehnen, konnte sich hiermit jedoch nicht gegen den Widerstand des Königs durchsetzen. Vielmehr wurden in den neuen Provinzen – mit Ausnahme einiger Gebiete im Westfälischen – alle unter französischem Einfluß eingeführten rechtlichen Verbesserungen für die Juden außer Kraft gesetzt und damit die Rechtslage wiederhergestellt, wie sie vor dem französischen Eingreifen bestanden hatte.
So galten nun innerhalb der Grenzen des neuen preußischen Staates anstelle der einst erstrebten Verwaltungseinheit rund 20 verschiedene Judenordnungen. Die Rechtslage der Juden war also nach 1815 unsicherer und verworrener denn je. In Aussicht gestellte „neue allgemeine Bestimmungen“ blieben über drei Jahrzehnte lang ebenso ein uneingelöstes Versprechen wie die von Hardenberg vor dem Abschluß des Wiener Kongresses geäußerte Zusage, eine Verfassung zu erarbeiten.
Aus den Beratungen der ersten Provinziallandtage über die künftige Judengesetzgebung (1824–1826) kam durchgehend die Empfehlung, die Judenfrage in den Provinzen restriktiv zu behandeln bzw. die alten Schutzverhältnisse wiederherzustellen. Auch wurden Eingriffe des Staates in das jüdische Kultus- und Unterrichtswesen gefordert, um ihrer „Absonderung“ entgegenzuwirken und die Juden „zur möglichst vervielfältigten Annahme des Christentums herbeizuführen“. Während der siebentägigen Debatten des Ersten Vereinigten Preußischen Provinziallandtages in Berlin im Dezember 1824 hatten Vertreter aus ländlichen Gebieten und Protestantisch-Konservative wie der Staatsminister Ludwig Gustav von Thile gegen die Gleichstellung der preußischen Juden offen Stellung bezogen. Begründung: Es sei dem Christentum „unerträglich, den Juden obrigkeitliche Rechte [d.h. höhere Ämter im Staatsdienst] beizulegen“.5 Die Emanzipation wurde abgelehnt.
Solche Aussagen deckten sich mit den Überzeugungen Friedrich Wilhelms IV. (1840–1861), der als „Romantiker auf dem preußischen Königsthron“ den „christlich-germanischen Staat“ propagierte. Unter ihm verschärfte sich die Situation der Juden weiter. Sie galten nun wieder als „fremde Körperschaft“, als „Staat im Staate“. Nachdem die revidierte Städteordnung von 1831 den Juden bereits den Zugang zum Bürgermeisteramt, das ihnen sowohl nach der Städteordnung von 1808 als auch nach dem Emanzipationsedikt von 1812 offengestanden hatte, versperrt und man ihnen 1833 die Ausübung des Schulzenamtes in ländlichen Gemeinden verboten hatte, bestätigte das Gesetz vom 23. Juli 1847 den preußischen Juden wiederum, daß sie nur Staatsbürger zweiter Klasse waren.
So wurde Juden lediglich der Zugang zu solchen Staatsämtern erlaubt, die nicht die Ausübung einer „richterlichen, polizeilichen oder exekutiven“ Gewalt beinhalteten. Dies galt auch im kommunalen Bereich, sogar für gewählte Magistratsmitglieder und ernannte Beigeordnete. Um die Position eines Bürgermeisters oder Gemeindevorstehers sowie als deren Stellvertreter konnten sich Juden nicht bewerben. Von der Beratung und Abstimmung über christliche Kultus- und Unterrichtsangelegenheiten waren sie grundsätzlich ausgeschlossen.
Für zwei Fünftel der in der Monarchie lebenden Juden, für die in der Provinz Posen, blieb es unverändert bei dem Ausschluß von den Rechten auf Freizügigkeit. Für die Juden Posens gab es eine Gewerbefreiheit ebensowenig wie die Möglichkeit, subalterne Staatsund Kommunalämter oder den Unterricht an christlichen Fachschulen zu übernehmen.
Antijüdische Ausschreitungen
Im Jahre 1819 setzten, ausgehend von Würzburg, in Bayern, Kurhessen, Franken, Baden, dem Rheinland und Westfalen sowie in Hamburg die „Hep-Hep-Krawalle“ ein, die nach dem die Ausschreitungen begleitenden Spott- und Hetzruf, ursprünglich eine Abkürzung der an den Universitäten entstandenen Parole „Hierosolyma est perdita“ (Jerusalem ist verloren), benannt sind. Zum ersten Mal seit dem Mittelalter gab es damit in Deutschland wieder Judenverfolgungen größeren Umfangs. Der Ablauf war überall ähnlich: Fensterscheiben wurden eingeworfen, Läden geplündert, Brände gelegt, Synagogen verwüstet, jüdische Grabsteine geschändet. Juden wurden auf offener Straße mißhandelt. Im Revolutionsjahr 1830 und in der Anfangsphase der Revolution von 1848/49 wiederholten sich die Pogrome, ohne aber das Ausmaß der „Hep-Hep-Krawalle“ zu erreichen.
In den alten Gebieten Preußens gab es solche Krawalle nicht. Hier stand das Gewaltmonopol des Staates, der derartige Unruhen grundsätzlich als Verstöße ahndete, Tumulten wirksamer entgegen als in anderen Territorien. Dagegen ging in Hamburg der Rat der Stadt nach den „Hep-Hep-Krawallen“ nicht etwa gegen die Gewalttäter vor, sondern ermahnte sämtliche jüdischen Einwohner, die Gesetze streng zu befolgen. Im Jahre 1835 wurden jüdische Gäste in Hamburger Kaffeehäusern mißhandelt und hinausgeworfen. Die in großer Zahl anwesenden Polizeibeamten sahen darüber hinweg.
In die auf allen Bereichen lastenden Versuche, das Rad zurückzudrehen, fiel für ganz kurze Zeit die Revolution von 1848 (1848/50). Sowohl die Nationalversammlung als auch zahlreiche Landesparlamente forderten die Judenemanzipation als wichtigen Teil der angestrebten fortschrittlichen Politik. Nach der zweiten Lesung der deutschen Grundrechte in der Frankfurter Paulskirche, nach denen das religiöse Bekenntnis die staatsbürgerlichen Rechte nicht einschränken sollte, wurde die vollständige Emanzipation der Juden in fast allen deutschen Staaten eingeführt. Die Revolution und ihre Errungenschaften wurde dann aber rasch von einer neuerlichen Restaurationswelle abgelöst. So war in Preußen nach der revidierten Verfassung von 1850 für Staatsämter wieder das christliche Religions bekenntnis erforderlich.