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Vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts

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Spätestens seit dem beginnenden 16. Jh. ist die Geschichte der Juden Mitteleuropas nicht mehr eine solche des Reiches. Die Konzentration der Siedlung auf kleine Herrschaften und Dörfer brachte zugleich eine verfassungsrechtliche Umorientierung von den autonomen jüdischen Gemeinden auf die sogenannten Landjudenschaften, die sich nicht unbedingt mit den älteren regionalen Medinot mit ihren eigenständigen Minhagim deckten, sondern stärker auf die christlichen Landesherrschaften bezogen waren. Die statistisch kaum noch faßbare Siedlung splitterte sich auf kleinste Einheiten auf. Vielfach betrieben die Landesherren eine gezielte Ansiedlungspolitik, indem sie die schutzberechtigten Familien auf einzelne Dorfschaften und Ämter des Landes verteilten. Zu einer systematischen „Peuplierung“ kam es in Franken um Mergentheim, Weikersheim, Dörzbach und Crailsheim. Meist konnte ein Minjan nur noch mit wenigen weit auseinander wohnenden Familien zustande gebracht werden, und auch die für das religiöse Leben notwendigen Friedhöfe und Bethäuser wurden gewöhnlich von den Juden einer größeren Region gemeinsam genutzt. Neue Synagogen durften nur ausnahmsweise als Ersatz älterer gebaut werden.

Erst für das beginnende 17. Jh., als es allgemein zu einer Zunahme der Bevölkerung kam, lassen sich Dimension und Verteilung der jüdischen Bevölkerung zahlenmäßig abschätzen. Geht man von einem Haushaltsfaktor von sechs aus, so könnte man bei 2000 Haushalten die jüdische Bevölkerung des Reiches für diese Zeit mit 12.000 Seelen angeben. Hinzu kommen mindestens die etwa 2000 Juden des Prager Ghettos. Im gesamten Gebiet des Reiches, dessen Bevölkerung für diese Zeit auf 12 bis 20 Millionen Personen geschätzt wird, sind die Juden anteilig sehr ungleichmäßig vertreten. Für das Oberfürstentum Hessen, dessen Seelenzahl für die vierziger Jahre des 17. Jhs. auf 60 000 veranschlagt werden kann, konnten 189 jüdische Haushalte bzw. bei einem hier genauer berechenbaren Haushaltsfaktor von 6,3 insgesamt etwa 1200 Juden ermittelt werden. Mit einem Anteil von 2 % an der Gesamtbevölkerung entspricht dies einer verhältnismäßig dichten jüdischen Bevölkerung, die sich zum größeren Teil auf ein Dutzend „Friedhofsregionen“ mit jeweils etwa 50 bis 100 Personen verteilte.

Seit dem späten 16. Jh. gab es Impulse zur Gründung neuer städtischer Gemeinden, die ihrerseits zwar keine eigenen Traditionen mitbringen, dennoch aber an die Kultur der älteren Kehillot anknüpften. Konnte die Mitte des 16. Jhs. wieder zugelassene Gemeinde in Metz sich noch auf ihre Vorgängergemeinde berufen, so war allerdings die in dem gemeinsam vom Domstift Bamberg und den Markgrafen von Brandenburg-Ansbach verwalteten Marktflecken Fürth entstandene Gemeinde ohne Vorläuferin. Sie spielte mit einem Einwohneranteil von 20 % in der Stadt eine dominierende Rolle. Etwas später kam es in Niederdeutschland durch Zuwanderung vertriebener sefardischer (portugiesischer) sowie bald darauf aschkenasischer (hochdeutscher) Juden zu einigen bedeutsamen Gemeindegründungen in Glückstadt, Altona, Hamburg – dort wuchs die Anzahl der jüdischen Familien vom Beginn bis zur Mitte des 16. Jhs. von sieben auf über 100 –, Emden und Stade, zumeist auf Initiative der an einer willfährigen „Ersatzbürgerschaft“ und an einer „Peuplierung“ mit wohlhabenden Gewerbetreibenden interessierten landesherrlichen Obrigkeit. Gleichzeitig entstand in den Städten Halberstadt und Hanau neues jüdisches Leben, in letzterer auf Betreiben des calvinistischen Landesherrn und beeinflußt von seiner niederländisch-oranischen Verwandtschaft. Teilweise unter Führung von Hofjuden als Inhabern des Vorsteheramtes konnten sich die neuen „Großgemeinden“ seit der Mitte des 17. Jhs. zu eigen ständig handelnden politischen Faktoren entwickeln, so daß für diese Zeit nicht ohne Grund von einer Re-Urbanisierung der deutschen Judenschaft gesprochen wird.10

Für das Leben der mitteleuropäischen Juden wurde vor allem die Auflösung der Einheit der christlichen Kirche entscheidend. Hatte der Beginn der Reformation und das Auftreten Martin Luthers anfangs bei vielen Juden noch einige Hoffnungen geweckt, so wurden diese doch sehr schnell durch die Verfestigung und Abgrenzung der Konfessionen zerstört. Bis zur Mitte des 16. Jhs. war die dogmatische Verfestigung der Neu- und Altgläubigen so weit fortgeschritten, daß die Ansätze einer Neuorientierung des christlich-jüdischen Verhältnisses nicht mehr zum Tragen kamen. Die sich unter der Confessio Augustana sammelnden Anhänger Luthers ebenso wie die im Tridentinum einem rigorosen Dogma unterstellten papsttreuen Altgläubigen grenzten sich gegenüber abweichenden Denominationen stärker als bisher ab. Das gleiche gilt für den im Augsburger Religionsfrieden von 1555 zunächst nicht anerkannten, doch noch im 16. Jh. als eine „zweite Reformation“ in zahlreichen deutschen Landesherrschaften sich durchsetzenden Calvinismus, auch wenn er sich vom orthodoxen Luthertum durch eine flexiblere Einstellung zu den Juden unterschied. Dies alles führte dazu, daß – trotz gemäßigter Stimmen unter einzelnen Reformatoren wie Wolfgang Capito, Philipp Melanchthon und Andreas Osiander – die im Spätmittelalter verschärften antijüdischen Traditionen zum festen Lehrbestandteil der sich konstituierenden Konfessionen wurden. Dies gilt weniger für die Blutbeschuldigungen, die allerdings mit offizieller Duldung in katholischen Gebieten zum Bestandteil der Volksfrömmigkeit wurden, als für den eschatologisch erklärten Sonderstatus der Juden, durch den diskriminierende Regelungen gerechtfertigt wurden. Anteil am humanistischen Geistesleben im Reich konnten sich die verbliebenen Juden nicht erringen. Der Hebraist Elia Levita aus Neustadt an der Aisch wanderte noch vor 1500 nach Italien aus; immerhin konnten viele seiner sprachwissenschaftlichen Schriften in der Reichsstadt Isny am Bodensee gedruckt werden.

Angesichts der bedrückenden Situation der Juden im Reich der Reformationszeit erstaunt es nicht, daß unter ihnen eine gewisse Empfänglichkeit für messianische Bewegungen und „falsche Propheten“ entstand, wie sich beim Auftreten des Ascher Lemmlein in Istrien um 1500 und des jemenitischen Juden David Reubeni 30 Jahre später zeigte, dessen Gesandter Salomo Molcho vor dem Regensburger Reichstag von 1532 erschien. Ebenso entstand eine große Bereitschaft zur Aufnahme kabbalistischer Gedanken, wie schon bei dem in Frankfurt am Main als Vorsänger wirkenden Naftali Hirz Treves um 1560. Die noch im 15. Jh. blühende rabbinische Kultur jedoch war im aschkenasischen Deutschland zusammengebrochen. Erst gegen Ende des 16. Jhs. kam es, vor allem von Prag aus, zu einer neuen Blüte der Gelehrsamkeit. Mitverantwortlich dafür war auch die „Protektion“ Kaiser Rudolfs II., der seine Residenz in diese Stadt verlegte. Die bekannteste Gestalt dieser Zeit wurde Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel, gen. Maharal, aus Worms, der unter der Bezeichnung „der Hohe Rabbi Löw“ populär geworden ist. Nach Studien in Polen wurde er mährischer Landesrabbiner in Nikolsburg (Mikulov), wohnte und lehrte aber ab 1573 in Prag. Sein Einfluß als rabbinischer Gelehrter war schon unter seinen Zeitgenossen beträchtlich. In seinem Werk verknüpfen sich mystische mit philosophischen Gedanken. Bekannt wurde er auch durch seine rationalistische Kritik an der tradierten talmudischen Gelehrsamkeit, die seiner Ansicht nach mit der Methode des Pilpul in den Jeschiwot zu bloßen sophistischen Gedankenspielen verkommen war. Angeregt durch ihn wurden weitere talmudische Gelehrte wie Rabbi Mordechai Jaffe, der Anfang des 17. Jhs. an der Prager Jeschiwa lehrte und vor dem Hintergrund eines breiten kabbalistischen und philosophischen Wissens wie Maharal die Methode des Pilpul bekämpfte. Wenig später wirkte in Prag Jomtow Lipmann Heller aus Wallerstein in der Grafschaft Oettingen, der als hervorragender Kenner des halachischen Rechts unter dem Einfluß seines Lehrers Maharal einen Mischna-Kommentar verfaßte. Sein Zeitgenosse Salomo Efraim Lunschitz machte sich als Prediger und Vorsitzender des Rabbinatsgerichts in Prag einen Namen. Ein anderer Gelehrter dieses Kreises, David Gans aus Westfalen, wurde durch chronographische und astronomische Werke berühmt, vor allem durch seine unter dem Namen Zemach David bekannt gewordene 1592 entstandene Weltchronik. Auch Maharals älterer Bruder, Chajim ben Bezalel, der die Stelle eines Rabbiners in Friedberg in der Wetterau bekleidete, verdient Erwähnung, da er als Verfasser einer hebräischen Grammatik Pionierarbeit im aschkenasischen Judentum leistete. Nur am Rande sei der zeitweise für Rudolf II. als Astronom tätige und in Prag beerdigte Philosoph und Mathematiker Josef Salomo Delmedigo (Rofe) aus Candia in Kreta genannt, dessen Wirksamkeit hauptsächlich mit dem Süden und Südosten Europas in Verbindung zu bringen ist.

Neben Prag konnten sich auch Frankfurt und Worms ebenso wie Friedberg, Fulda und Hanau einen gewissen Ruf als Zentren rabbinischer Gelehrsamkeit erhalten. Hingewiesen sei auf Josef Juspa Hahn aus Nördlingen, der als Rabbiner um 1600 die Frankfurter Jeschiwa leitete. Ganz in der Tradition der Chasside Aschkenas stellte er in seinem Werk Jossif Omez die Minhagim der Frankfurter Gemeinde zusammen, um daraus Handlungsanleitungen für religiöse Pflichterfüllung und Redlichkeit im Alltag zu gewinnen. Gleichzeitig wirkte der in Frankfurt geborene Mëir (Maharam) Schiff als Rabbiner in Fulda, der in seinen Erläuterungen zum Schulchan Aruch eine gemäßigte Form der Pilpul-Methode vertrat. Als Kabbalist bekannt wurde Elia Loans, Enkel des Josel von Rosheim, der Anfang des 17. Jhs. als Rabbiner in Fulda, Hanau, Friedberg und Worms wirkte. Als Verfasser verbreiteter Werke zur Kabbala wurden um die gleiche Zeit auch der später nach Safed in Palästina auswandernde Jesaja Horowitz, Rabbiner in Frankfurt und Prag, und der in Frankfurt geborene Naftali Bacharach berühmt, der 1648 mit seinem Werk Emek ha-Melech (Tal des Königs) die kabbalistische Lehre des Isaak Luria einem breiteren Publikum bekannt machte. Der eine Generation später lebende Wormser Rabbiner Josef (Juspa) Schammes, der durch ein umfangreiches Werk über die religiösen Sitten der Wormser Gemeinde bekannt wurde, entfaltete seine Wirksamkeit größtenteils erst nach dem Dreißigjährigen Krieg.

Eine für das Heilige Römische Reich völlig neue jüdische Kultur entstand mit der Gründung der portugiesischen (sefardischen) Gemeinde in Hamburg am Ende des 16. Jhs. Sie wurde in der Anfangszeit von Persönlichkeiten getragen, die als „Conversos“ (Judeo-Christen) eng mit der christlichen Kultur in Berührung gekommen waren. Nur einige wenige ihrer in der ersten Hälfte des 17. Jh. aufgetretenen Exponenten können genannt werden: der Arzt und Dichter Rodrigo de Castro, der schon erwähnten Delmedigo, der sich von 1622 bis 1625 in Hamburg aufhielt, dann die Lexikographen Benjamin Mussafia und David de Isaak Kohen de Lara, der Dichter und Grammatiker Mose Gideon Abudiente, der Rabbiner Abraham da Fonseca. Sie alle haben nur noch wenig gemein mit der traditionellen rabbinischen Gelehrsamkeit, sondern repräsentieren einen Typ von philosophischen Denkern, die in der christlichen ebenso wie in der jüdischen Geisteswelt der Renaissance zu Hause waren.

Eine Umorientierung jüdischen Lebens in Mitteleuropa wurde darüber hinaus durch die juristische Konstituierung der Landeshoheit bewirkt. Unter dem Einfluß gelehrter, am römischen Recht geschulter Juristen versuchten Landesfürsten ebenso wie die zu Freien Reichsstädten vereinheitlichten Kommunen, später auch die reichsritterschaftlichen Herrschaften, einheitliche Untertanenverbände zu schaffen. Der frühe Versuch Johannes Reuchlins, die Juden des Reichs durch Konstruktion eines römischen Bürgerrechts zu Untertanen des römisch-deutschen Kaisers zu erklären, führte zwar zur Verbesserung der Rechtsstellung der Juden vor den Reichsgerichten, nicht aber zu einer Aufhebung der tradierten Sonderstellung. Diese wurde jetzt noch mehr als bisher vom landesherrlichen Judenregal bestimmt, nachdem auch die alten, aus der Kammerknechtschaft resultierenden kaiserlichen Schutzrechte zu bloßen Kontrollrechten über die Regalien verdünnt wurden. Da aber die Regalität zu einem wichtigen Konstituens der Landeshoheit wurde, ebenso wie auf städtischer und ritterschaftlicher Ebene die „iura recipiendi iudeos“ den obrigkeitlichen Charakter der Herrschaften wesentlich mitbestimmten, hing die Ansiedlung von Juden seither davon ab, ob ein Landesherr, Stadtrat oder Reichsritter sich von der Judenaufnahme einen ökonomischen Nutzen versprach, nicht davon, ob der Kaiser als oberster Schutzherr zustimmte. In den Reichsterritorien, in denen die Landstände oder die Domkapitel ein Mitspracherecht an der Regierung hatten, wurden vielfach interne Aufnahmebeschränkungen derart festgelegt, daß der Landesherr nur eine bestimmte Anzahl von Juden in seinem Lande aufnehmen durfte. Der Einfluß der den gewerblichen Sektor regulierenden Zünfte kam in einzelnen Territorien – wie in der Landgrafschaft Hessen – dadurch zum Ausdruck, daß diese mit Hilfe der Städtekurie des Landtags Ansiedlungsverbote für Juden in den landesherrlichen Städten durchsetzen konnten, um die wirtschaftliche Konkurrenz der nicht in den Zünften vertretenen Juden fernzuhalten. Daneben wurde sowohl in protestantischen wie in katholischen Territorien und Städten der Einfluß der Geistlichkeit dadurch wirksam, daß diese durch Gutachten und theologische Traktate immer wieder auf die Juden als Adressaten des Missionsauftrags der Kirche hinwies und deshalb einer Duldung nur unter einschränkenden Voraussetzungen zustimmte. Exponenten einer solchen offensiven „politischen Theologie“ waren etwa Martin Bucer aus Straßburg in den dreißiger und der Braunschweiger Superintendent Martin Chemnitz in den siebziger Jahren des 16. Jhs.

Bis zum Ende des 16. Jhs. setzte sich unter den „Reichspublizisten“ und obrigkeitlichen Rechtsberatern die Ansicht durch, „daß die Juden, wenn sie ruhig und friedlich leben, zu dulden sind und nicht vertrieben werden dürfen“, wie es der Gießener Professor Theodor Reinkingk formulierte. Obwohl Vertreibungen weiterhin vorkamen, gab es nun doch angesichts des fortgeschrittenen Prozesses der Verrechtlichung jüdischer Existenz im Rahmen des Judenregals neue Chancen des Rechtsschutzes. Hierzu gehörte vor allem die Klage vor den Reichsgerichten sowie die Einschaltung des kaiserlichen Fiskalprokurators, der Verstöße gegen den Kernbereich des Judenregals als crimen laesae maiestatis ahndete. Die meisten Landesherren, städtischen und ritterschaftlichen Obrigkeiten gingen, soweit sie zur Duldung von Juden bereit waren, dazu über, in detaillierten Regelungen die Bedingungen der Aufnahme und der Beziehungen zu den eigenen Untertanen festzulegen. Dies konnte in umfassenden Statuten, Generalgeleiten, Privilegien oder Judenordnungen geschehen, wie 1539 in der Landgrafschaft Hessen, 1584 in Worms, 1599 in Kurköln und 1617 in Frankfurt; dies konnte aber auch durch Policey-Verordnungen und Einzeldekrete geschehen, mit denen auf Beschwerden und Suppliken reagiert wurde. All diese Regelungen bildeten ein „supplementäres“ Regelungsgeflecht, mit dem das auch für Juden geltende Landesrecht durch Einschränkungen und Vorbehalte ergänzt wurde. In den Augsburger Reichs-Policey-Ordnungen von 1530, 1548 und 1551 und der Frankfurter Reichs-Policey-Ordnung von 1577 wurden hinsichtlich des Geldhandels, der gewerblichen Tätigkeit der Juden und ihres Umgangs mit Christen Rahmenbedingungen für diejenigen Territorien und Stände festgelegt, die über das Judenregal oder sonstige Schutzrechte verfügten. Darüber hinaus wurden seit Mitte des 16. Jhs., zahlreicher unter den Kaisern Ferdinand I., Maximilian II. und Matthias, an reichsunmittelbare oder die Unmittelbarkeit beanspruchende Stände kaiserliche privilegia contra iudaeos erteilt, mit denen die Darlehens- und Pfandgeschäfte der Juden eng begrenzt oder ganz verboten wurden. Da hiermit Kernbereiche obrigkeitlichen Judenschutzes normiert waren, dienten diese Regelungen vor allem in kleineren Herrschaften als Legitimation für die eigene „Judenpolitik“. Diese wurde in jedem Fall durch Schutz- und Geleitbriefe für einzelne Juden konkretisiert.

Die Juden selbst stellten sich auf die Verfestigung der Landeshoheit durch eigenständige territoriale Zusammenschlüsse ein. Vielfach kam es seit dem beginnenden 16. Jh. zur Einsetzung von Landesrabbinern, die gerichtliche Befugnisse in innerjüdischen Streitigkeiten sowie in „Zeremonialangelegenheiten“ wahrnehmen konnten. Allerdings hatten die älteren Landesrabbinate zumeist einen über die Territorien hinausgehenden Sprengel. Der Landesrabbiner in Friedberg war etwa für die ober- und niederhessischen Juden sowie teilweise diejenigen des Hochstifts Paderborn zuständig. Sein Wormser Kollege betreute den kurmainzischen Rheingau, die Kurpfalz, Hessen-Darmstadt und das Hochstift Speyer. Der in Frankfurt am Main ansässige Rabbiner war auch für Ostfriesland, die Mark Brandenburg, die Hochstifte Münster und Paderborn, Kurtrier und die Markgrafschaft Ansbach zuständig. Weitere Landesrabbinate befanden sich im habsburgischen Günzburg an der Donau (nach der Vertreibung der Juden von dort 1617 nach Wallerstein verlegt), in Fulda, Bonn, Bingen, Fürth und Hildesheim. Erst im Laufe des 17. Jhs. gelang es den Landesherren, auch die Rabbinatsgerichte zu territorialisieren.

Seit der ersten Hälfte des 17. Jhs. wurden in einigen Ländern mit landesfürstlicher Zustimmung „Judenvorgänger“ (Vorsteher, Parnassim) bestallt, die für die Umlage gemeindlicher Abgaben und auch die Einziehung von Landessteuern zuständig waren. Ihnen zugeordnet wurden, die „Landjudenschaften“ oder „Judenlandtage“ als Beschlußgremien aller in einem Territorium oder einer Region ansässigen jüdischen Haushalte. Sie wurden nicht selten von einzelnen Landesherren als Zusammenkünfte zur Publikation von Verordnungen und auch von Missionspredigten instrumentalisiert. Für die beteiligten Schutzjuden boten die Landtagssessionen den konstitutionellen Rahmen für die Wahl und Einsetzung ihrer Selbstverwaltungsorgane und Rabbinen. Auf ihnen konnten ihre Statuten beraten und publiziert werden. Sie bildeten die Foren für die Austragung von Streitigkeiten, die auf der Ebene autonomer Gemeinden nicht mehr reguliert werden konnten, und schließlich stellten sie Informationsbörsen dar, durch die der solidarische Zusammenhalt der verstreut angesiedelten jüdischen Familien bestärkt wurde. Durch die Wahl von Schtedlanim, die die Interessen der territorialen Judenschaft gegenüber dem Landesfürsten vertraten, konnten sich die jüdischen Landtage allmählich zu handlungsfähigen Organen in christlicher Umwelt entwickeln. Letzlich traten sie in jeder Beziehung an die Stelle der autonomen Gemeinden.

Die seit dem späten 17. Jh. sich allgemein durchsetzende Institution des Hofjudentums hatte hingegen im 16. und frühen 17. Jh. noch keine nachhaltige Bedeutung als Bindeglied zwischen dem kaiserlichen oder landesherrlichen Hof und den Judengemeinden. Michel von Derenburg und der Berliner Münzmeister Lippold, die im 16. Jh. für den Hof der Markgrafen von Brandenburg tätig waren, standen in der Tradition älterer Finanziers, ohne damit schon dem Typ des merkantilistischen Hoffaktors zu entsprechen. Die ersten Ansätze eines Hofjudentums bildeten sich hingegen im Prag Kaiser Rudolfs II. heraus. Der erste Vertreter dieses Systems war Mordechai Meisel, der 1593 vom Kaiser besonders privilegiert wurde, ohne aber schon den Titel eines Hoffaktors zu erhalten. Diesen konnte nach ihm der sefardische Jude Jakob Bassevi von Treuenburg, Primator der böhmischen Judenschaft, erlangen. Seine Verdienste um den Prager Hof wurden damit 1611 von Kaiser Matthias anerkannt und 1622 von dessen Nachfolger Ferdinand II. bestätigt. Als Hausfaktor des Generalissimus von Wallenstein hatte er an der Finanzierung des Dreißigjährigen Kriegs einigen Anteil. Der etwa gleichzeitig entstehende Typ des jüdischen Residenten, der die Interessen eines christlichen Herrschers in Städten des Heiligen Römischen Reiches wahrzunehmen hatte, wird zuerst in dem portugiesischen (sefardischen) Juden Duarte Nunes da Costa (Jakob Curiel) sichtbar, der 1641 vom portugiesischen König Johann IV. zum Cavaleiro Fidalgo und zugleich zum Residenten der Krone in Hamburg ernannt wurde.

Die Schwerpunkte gewerblicher Tätigkeit der Juden waren noch mehr als im späten Mittelalter auf die jeweils vorhandenen Märkte fixiert. Eine bedeutende Rolle spielten dabei die Messen in Frankfurt und Leipzig, die jeweils zu den Messezeiten im Frühjahr und im Herbst eine große Anzahl von jüdischen Händlern anzogen. Dort, aber auch auf den regionalen Wochen- und Jahrmärkten konnten die auf dem Land ansässigen Juden landwirtschaftliche und dörfliche Produkte anbieten und dafür Fertigwaren zum Verkauf auf den Dörfern erwerben. Für Frankfurt konnte festgestellt werden, daß die dort ansässigen jüdischen Finanziers zum Verbindungsglied in der Vermarktungskette der landwirtschaftlichen Erzeugnisse wurden, zu deren Transport in die Stadt sie ebenso jüdische Mittelsleute wie christliche Fuhrleute und Dienstboten beschäftigten. Objekte des von Juden betriebenen Handels waren namentlich Pferde und Vieh, Leder und Textilien, daneben Gewürze, Tabak, Bier, Tuche, Metalle, Arzneien und Hausrat. Gehandelt wurde auch mit verfallenen Pfändern, über die wegen Nichtrückzahlung von Darlehen verfügt werden konnte. Ansonsten war die Bandbreite möglicher gewerblicher Tätigkeiten gering. Neben der weiterhin hauptsächlich betriebenen Geldleihe gegen Pfand spielten solche Handwerke eine Rolle, die für den kultischen Bedarf der Gemeinde notwendig waren, wie Schächter und Bäcker, oder auch solche, die von den Zünften nicht kontrolliert wurden, wie Goldschmiede, Glaser und Geldwechsler, in geringerem Umfang auch Färber, Würfelmacher und Textilbearbeiter. Hinzu kamen akademisch – etwa in den Universitäten Padua und Orléans – ausgebildete Mediziner und „handwerkliche“ Wundärzte, die sich bei christlichen Patienten großer Beliebtheit erfreuten. Hingewiesen sei auf den aus Lissabon stammenden sefardischen Juden Emanuel Bocarro y Rosales, der sich 1615 in Hamburg als Arzt niederließ. Angesichts seiner Verdienste um die ärztliche Versorgung des Wiener Hofes verlieh ihm Kaiser Ferdinand III., ausdrücklich non obstante hebraismo, 1641 das „kleine Palatinat“. Im allgemeinen hatten die jüdischen Pfandleiher und Händler ebenso wie auch die Ärzte einen weit über die Territorien hinausgehenden Aktionsradius. Mit Hilfe von kaiserlichen oder landesherrlichen Geleitbriefen konnten sie den Schutz der jeweiligen Obrigkeiten beanspruchen, waren aber dennoch vielfältigen Behinderungen und Anfeindungen ausgesetzt. Die ihnen abverlangte Abgabe des Leibzolls bzw. der Leibmaut und auch die diesen pervertierende, obrigkeitlich nicht sanktionierte Form des Würfelzolls stellten schikanöse Handelsbelastungen dar, die als Reminiszenzen an die kirchliche Lehre vom Minderstatus der Juden zu erkennen sind.

So wenig sich die Juden des Reiches dem Territorialisierungsprozeß entziehen konnten, so sehr waren sie daran interessiert, zum Schutz ihrer im Rahmen regionaler Obrigkeiten bedrohten Existenz ihre überkommenen überterritorialen Verbindungen aufrechtzuerhalten. Der Kampf um die Beschlagnahme herbräischer Bücher auf Betreiben des Apostaten Johannes Pfefferkorn 1509, der nur durch die guten Verbindungen der Frankfurter Judenschaft zum Kaiserhof und die Intervention des Humanisten Johannes Reuchlin gewonnen werden konnte, hatte deutlich gemacht, wie sehr auch die zu landesherrlichen bzw. städtischen Schutzverwandten herabgestuften Juden des Reiches des kaiserlichen Wohlwollens bedurften. Für sie war das Heilige Römische Reich Legitimationsinstanz und Aktionsrahmen zugleich, wodurch ein Netzwerk von Aktivitäten sanktioniert und solidarisches Handeln als Minderheit gegenüber den Gojim ermöglicht wurde. In diesem Zusammenhang müssen das Auftreten Josels von Rosheim und zuletzt der Zusammenschluß der sogenannten Frankfurter Rabbinerverschwörung gesehen werden.

Josel ben Gerschon Roschaim aus Hagenau, dessen Familie wohl aus dem burgundischen Louhans stammte, kann als der bedeutendste Fürsprecher der Juden des Heiligen Römischen Reiches angesehen werden. Als Schüler des Talmudisten Jochanan ben Aaron Luria in Hagenau und beeinflußt durch die Lehre der Chassidim, die ihm über das 1473 erschienene Kleine Buch der Frommen des Mose ha-Kohen ben Eleasar vermittelt wurde, konnte er sich in den Kreis der rabbinischen Gelehrten der Zeit einordnen, mußte aber gleichzeitig seinen Lebensunterhalt als Geldverleiher bestreiten. Seine „Laufbahn“ als politischer Unterhändler der Judenschaft begann 1507, als er sich erfolgreich bei dem Kaiser für die aus der Reichsstadt Oberehnheim vertriebenen Juden einsetzte. 1510 zum Schtadlan der Judenschaft in der habsburgischen Landvogtei Unterelsaß erwählt, konnte er sich kraft dieses Mandats in zahlreichen Interventionen bei christlichen Herrschaftsträgern für seine verfolgten Glaubensgenossen einsetzen. Als er 1529 von einer Rabbinerversammlung zu Günzburg an der Donau beauftragt wurde, sich bei König Ferdinand I. von Böhmen für die des Ritualmords beschuldigten Juden in Pösing einzusetzen, konnte er sich den – vom kaiserlichen Fiskal allerdings bestrittenen – Titel eines „Befehlshabers gemeiner Jüdischeit deutscher Nation“ zulegen. Zeugnisse über Interventionen des seit 1525 in der Reichsstadt Rosheim ansässigen Josel beim Kaiser oder den jeweils verantwortlichen Obrigkeiten haben sich in reicher Anzahl erhalten. Er verhinderte Vertreibungen, löste gefangene Juden aus, besorgte Geleitbriefe und vermittelte in konkreten Streitfällen zwischen Juden und Christen. Am Reichskammergericht in Speyer machte er zahlreiche Prozesse zur Absicherung des in landesherrlicher und städtischer Hand befindlichen Judenregals anhängig. Doch sorgte er auch zur Besänftigung der um ihre Hoheitsrechte bangenden Obrigkeiten für eine Niederschlagung jüdischer Schuldklagen am kaiserlichen Hofgericht in Rottweil. Erfolg hatte 1530 eine von Karl V. auf dem Augsburger Reichstag angeordnete Disputation zwischen ihm und dem Renegaten Antonius Margaritha, bei der er den Kaiser beein drucken konnte. Eine Intervention bei Martin Luther, durch die eine 1537 geplante Vertreibung der Juden aus Sachsen verhindert werden sollte, blieb allerdings trotz seiner freundlichen Beziehungen zum Reformator erfolglos.

Dagegen erzielte Josel eine über das 16. Jh. hinausreichende Wirkung, indem er zahlreiche kaiserliche Privilegien erwirkte, die bis zum Ende des Reiches zur Legitimation von Schutzansprüchen verwendet wurden. Schon 1515 stand er mit Kaiser Maximilian I. in Koblenz persönlich in Kontakt, und anläßlich seiner Königskrönung gewährte der von Josel aufgesuchte Karl V. 1520 eine Privilegienbestätigung, die im Mai 1530 von Innsbruck aus erneuert und im August dieses Jahres durch eine Ausdehnung der 1415 von König Sigismund den unterelsässischen Juden gewährten Freiheiten auf das gesamte Reich ergänzt wurde (beides 1541 erneut bestätigt). Das wohl freiheitlichste und großzügigste Privileg, das den Juden des Reiches jemals erteilt wurde,11 konnte Josel im April 1544 während des Speyerer Reichstags erwirken. Der später immer wieder erneuerte Brief brachte den Juden des Reiches insbesondere einen Bestands- und Geleitschutz sowie die Zurückweisung des immer wieder erhobenen Ritualmordvorwurfs.

Mit nicht minder großer Energie kämpfte Josel um solidarisches Handeln und moralische Erneuerung innerhalb der durch Verfolgungen und Vertreibungen bedrängten Judenschaft. Wichtigstes Ergebnis seiner Bemühungen waren die am Rande des Augsburger Reichstages 1530 von den dort zusammengerufenen Gemeindevorstehern gebilligten Vorschriften in Form von Takkanot, die Josel sogleich an mehrere Reichsstände verteilen ließ. Mit ihnen sollte zur Verhinderung von „ungeburd“ das Darlehensgeschäft reglementiert und die Jurisdiktion der Parnassim gestärkt werden. Insgesamt aber wurde Redlichkeit im Geschäftsgebaren angemahnt, „als dann unser judischer Gebruch und gemeiner Canon Ordnung und Gesetze von Alter her und unser Heilige Schrift ausweist und vermag“. Durch zwei Schriften, den 1531 am Hof Karls V. in Brüssel entstandenen Derech ha-Kodesch (Weg zur Heiligung) und den Sefer ha-Mikne (Buch des Erwerbs), in denen er bedenkenswerte historische Ereignisse und eigene Lebenserfahrungen zusammenstellte, wollte er die Erinnerung seiner Glaubensgenossen an die Zeit der Verfolgungen wachhalten und zugleich Wege zur inneren Heiligung und sittlichen Vervollkommung aufzeigen.

Als Josel von Rosheim 1554 starb, fand er keinen Nachfolger. Weder konnte sich die Institution eines Reichsrabbinats durchsetzen – das zuletzt von Jakob ben Chajim aus Worms bekleidete Amt wurde seit 1574 nicht mehr besetzt –, noch konnten vor dem Zeitalter der Hofjuden einzelne Persönlichkeiten die Funktion eines allgemein anerkannten Fürsprechers am Kaiserhof übernehmen. Dennoch aber blieb das Werk Josels von nachhaltiger Wirkung; es hat letztlich die vollständige Territorialisierung der Juden des Reichs verhindert und die überterritoriale Solidarität zum Bewußtsein gebracht. Darauf konnten die seit dem Dreißigjährigen Krieg als feste Institution der merkantilistischen Fürstenstaaten auftretenden Hofjuden aufbauen. In die gleiche Tradition konnten sich aber auch die Rabbinerkollegien stellen, die sich seit der Günzburger Zusammenkunft von 1529 zur besseren Regelung des gemeindlichen Lebens und der Jurisdiktion informell bildeten. Die bedeutendste Zusammenkunft dieser Art, die „Frankfurter Rabbinerverschwörung“, kann die Grenzen solidarischen Handelns der Juden im Reich deutlich machen.

Im Rahmen der Herbstmesse trat 1603 in Frankfurt am Main ein Rat von Delegierten und Weisen zahlreicher jüdischer Gemeinden des Reiches zusammen, um „die Bedürfnisse der Gesamtheit zu erwägen, um vorzubeugen und um nach den Erfordernissen der Zeit und der Zustände Anstalten zu treffen, damit nicht das Volk sei wie eine Herde ohne Hirten“. Man wollte den Versuch einer organisatorischen Zusammenfassung und Konzentration der Kräfte machen, um den Konsequenzen der Territorialisierung zu entgehen und eine reichsunmittelbare Stellung unter dem Kaiser zu behaupten, aber auch, um Schaden von der Religion abzuwenden.12 Auf der Zusammenkunft wurde eine umfängliche Ordnung zur Organisation und inneren Erneuerung der deutschen Judenschaft beschlossen. Vorgesehen war u.a. die Einrichtung von fünf Rabbinatsgerichten zu Frankfurt am Main, Worms, Fulda, Friedberg und Günzburg an der Donau. Hierbei handelte es sich um Sitze von älteren Rabbinatskollegien, die sich auch vorher schon eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den jeweiligen Territorien hatten erhalten können. Diese Gerichtshöfe sollten im Rahmen bestimmter Sprengel als Oberinstanz der lokalen Rabbinate in innerjüdischen Streitigkeiten für das gesamte Gebiet des Reiches zuständig sein. Gleichzeitig sollte die Autonomie der jüdischen Gemeinden gestärkt werden. Zu diesem Zweck wurden örtliche Steuern eingeführt, die gemeindeweise erhoben und eingeschätzt werden sollten. Durch eine einprozentige Vermögensabgabe sollten die Vorsteher der Judenschaft des Reiches besoldet werden, „um die Gemeinden in geeigneten Stunden und mit dem Beistand dessen, der uns nicht verwaisen läßt, vor Königen vertreten zu können“. Zahlreiche weitere Bestimmungen regelten in der Tradition der Takkanot die Geschäftspraktiken im Verkehr mit den Gojim, die so gehalten sein sollten, daß sie keinen Anlaß zu Ärgernissen gaben, das Verbot der Münzverschlechterung, die Ausstellung von Rabbinatsdiplomen, die Einhaltung der Kaschrut-Gebote, das Verhalten jüdischer Frauen im Kontakt mit Gojim, Einschränkungen des Luxusaufwandes und die Kontrolle des Drucks hebräischer Bücher.

Sieht man von der vorher so nicht vorhandenen reichsweiten Organisierung einer zweiinstanzlichen Rechtspflege ab, so enthielten die übrigen Beschlüsse nur das, was auch Gegenstand älterer Takkanot oder ohnehin Praxis war. Dennoch konnten die Beschlüsse der Frankfurter Versammlung nicht verbindlich umgesetzt werden, da die Landesherren, die durch den wohlinformierten Kölner Kurfürsten gewarnt worden waren und sich in ihren Rechten beeinträchtigt fühlten, Widerspruch anmeldeten und der damals regierende Kaiser Rudolf II. nicht in der Lage war, die Juden als seine Schutzbefohlenen über die Territorialgrenzen hinweg an sich zu binden. Die königsnahe Gruppe der Juden war für ihn als politischer Faktor nicht wichtig genug, um ihr einen reichsunmittelbaren Status zu ver leihen. Statt dessen wurden sie durch den kaiserlichen Reichshofrat in Wien wegen ihres angeblichen crimen laesae maiestatis zu einer Geldbuße verurteilt.

In gewisser Weise dokumentiert der Frankfurter Versuch einer reichseinheitlichen Regelung interner jüdischer Angelegenheiten die Unmöglichkeit, die territorialen Grenzen durch normative Festlegungen zu überschreiten. Über die Landjudenschaften und die Landesrabbinate, die an die Stelle der autonomen Gemeinden traten, begannen die Territorien längst eigene Wege zu gehen, die spätestens mit dem Westfälischen Frieden 1648 auch verfassungsrechtlich sanktioniert wurden. Spätere Versuche der Vereinheitlichung jüdischer Angelegenheiten auf Reichsebene, wie sie 1659 von einer nach Hanau einberufenen Rabbinerversammlung initiiert wurden, hatten keine verfassungsrechtlichen Auswirkungen mehr im Reich.

Insgesamt jedoch war die Lage der Juden im Heiligen Römischen Reich seit dem 17. Jh. verfassungsrechtlich derart konsolidiert, daß jede Veränderung des Status quo Gegenreaktionen hervorrief, entweder von seiten des Kaisers und der Reichsgerichte, für die es um die Substanz des Judenregals ging, oder von seiten der regionalen Obrigkeiten, wenn sie ihre Schutzkompetenzen beeinträchtigt sahen. Zu Testfällen wurden die Judenvertreibungen aus Frankfurt und Worms, auf die deshalb abschließend eingegangen werden soll.

Beide Ereignisse vollzogen sich im Rahmen sozialer Unruhen innerhalb lutherisch gewordener Freier Reichsstädte, in denen die Präsenz des Kaiserhofes und der katholischen Geistlichkeit noch deutlich spürbar war. In beiden Städten gab es starke jüdische Gemeinden, die die Verfolgungen des 15. und 16. Jhs. unbeschadet überstanden hatten. Frankfurt hatte um 1610 etwa 2200 Juden, was einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 11 % entsprach. Die Wormser Gemeinde umfaßte im gleichen Jahr 650 Juden, was ebenfalls auf einen Bevölkerungsanteil von 11 % in der Stadt hinauslief. In beiden Städten bildete die ghettoartig abgeschlossene Judenschaft einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor. Um 1610 kam es in Frankfurt wie in Worms zu Unruhen, die sich gegen die Mißwirtschaft der patrizischen Stadträte richteten. Initiatoren der Aufstände waren die Zünfte, die nur über beschränkte Einflußmöglichkeiten im Stadtregiment verfügten. Nur in zweiter Linie waren die Juden als unliebsame Konkurrenten der Zünfte Zielscheibe der allgemeinen Unzufriedenheit. Sie nämlich hatte man im Verdacht, durch undurchsichtige geschäftliche Machenschaften zu den Mißständen beigetragen zu haben.

In der Reichsstadt Frankfurt gab die Wahl des Erzherzogs Matthias zum römischen Kaiser im Juni 1612 den Anlaß zur Artikulation der Unzufriedenheit innerhalb der Bürgerschaft. Unter der Führung des Lebkuchenbäckers Vinzenz Fettmilch richteten sich die Forderungen der in den Zünften organisierten Aufständischen mehr und mehr gegen die Juden als schwächste Glieder des Gemeinwesens. Der Rat wurde aufgefordert, die Juden als unnütz und verderblich für die Stadt zu vertreiben, da sie zu hohe Zinsen nähmen. Als der Rat dies verweigerte, kam es 1614 zum Ausbruch des Aufstands. Nach einem Überfall von Zunftangehörigen im Judenviertel wurde im September des Jahres die Judengasse geplündert und ihre Anwohner vertrieben. Doch schon einen Monat später mußten unter dem Druck des Kaisers und der als Reichskommissare eingesetzten Fürsten, des Kurfürsten von Mainz und des Landgrafen von Hessen-Darmstadt, die Aufständischen aufgeben. Die Drohung des Kaisers, der Stadt alle ihre Privilegien zu entziehen, hatte die Stellung des alten Rates wieder gestärkt. Die Juden wurden feierlich in die Stadt zurückgeholt und in ihre alten Rechte wieder eingesetzt, die Rädelsführer des Aufstands gleichzeitig hingerichtet. Mit Privileg vom Januar 1617 bestätigte der Kaiser die erweiterte „Judenstättigkeit“ und stabilisierte damit die Rechtssituation der Frankfurter Juden für die Zeit bis zum Ende des Alten Reiches.

In der Reichsstadt Worms entstanden die Bürgerunruhen, die sich im zünftisch besetzten „Gemeinen Rat“ artikulierten, ab 1613 aus Unzufriedenheit mit dem patrizischen „Dreizehnerrat“. Da die Zünfte den dem Schutz des Dreizehnerrats unterstellten Juden mißbräuchliche Darlehenspraktiken und überhöhte Zinssätze vorwarfen, gerieten diese neben den Patriziern ins Kreuzfeuer der Kritik. Nachdem ein Vermittlungsversuch des Kurfürsten von der Pfalz scheiterte, kam es am Ostermontag 1615 zu Gewalttätigkeiten gegenüber den Juden und zu Plünderungen in der Judengasse. Schließlich wurden die Juden der Stadt über den Rhein vertrieben, die Synagoge erheblich beschädigt und der Friedhof durch Zerschlagung und Umstürzen vieler Grabsteine geschändet. Auf Intervention des Kaisers Matthias wurde der aufständischen Bürgerschaft geboten, den Juden die Stadttore wieder zu öffnen, sie wieder zur Nutzung der städtischen Allmende zuzulassen, alle gegen sie eröffneten Prozesse niederzuschlagen und die entwendeten Pfandstücke zurückzugeben. Aufgrund eines vom pfälzischen Kurfürsten vermittelten Vergleichs durften die Juden schließlich zurückkehren, ihren alten Besitz wieder einnehmen und ihre Synagoge wiederaufbauen. Die alten Privilegien wurden bestätigt.

In Frankfurt wie auch in Worms wurde die dem Rat als Obrigkeit unterstellte Judenschaft weitgehend als Teil der alten, patrizisch orientierten Ordnung verstanden. Sie konnte deshalb leicht in den Strudel sozialer Unruhen geraten und zum Spielball von urbanen Machtkämpfen werden. Da der Kaiser ebenso wie die Landesfürsten als Garant der alten Ordnung in der Regel an einer Stabilisierung der patrizischen Herrschaft in den Städten interessiert war, konnte durch Konstellationen, wie sie in den beiden Reichsstädten anzutreffen waren, ein Solidarisierungseffekt zugunsten der Judenschaft entstehen, der die ansonsten für sie gefährlichen Zünfte als Exponenten ökonomischer Macht neutralisierte. Die kaiserliche Sanktion bewirkte in beiden Städten, daß bis zum Ende des Alten Reiches an den bestehenden Verhältnissen nichts mehr geändert wurde und die Juden kraft kaiserlicher und landesfürstlicher Schutzgarantie unbehelligt blieben.

Aber auch auf dem Lande kam es immer wieder zu Versuchen, die Judenschaften oder wenigstens ihre weniger begüterten Mitglieder des Landes zu verweisen. Doch wie in den Städten stabilisierte sich hier die Lage seit dem beginnenden 17. Jh. Kam es zu einer Vertreibung, wie etwa 1628 in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, so schaltete sich der Kaiser als oberster Schutzherr mit Hilfe des Reichskammergerichts ein. Die kaiserliche Schutzgewalt war zwar selbst nicht mehr in der Lage, handelnd einzugreifen, doch führten die kammergerichtlichen Verfahren zur Befriedung und zur Wiederherstellung des Status quo ante oder zur Stabilisierung des gefährdeten Status quo.13 Die häufig von den Städten ausgehenden Vertreibungsbegehren fanden zudem in der Schutzgewalt des Landesherrn ihre Grenze. Zu Verschiebungen konnte es nur noch innerterritorial kommen, wenn etwa die städtischen Zünfte eine Verweisung auf das Land erreichten.

Für die breite Masse der Landjuden wie auch der städtischen Judengemeinden im römisch-deutschen Reich kann also festgehalten werden, daß sie im beginnenden 17. Jh. zwar noch immer schutzlos den unkontrollierten Aktionen konkurrierender Wirtschaftskräfte, besonders der Zünfte, ausgeliefert waren; doch blieben Vertreibungen regionale Einzelaktionen, die regelmäßig schutzbereite Gegenkräfte mobilisierten, die aus den verschiedensten Motiven heraus an einer Wiederherstellung des Status quo ante interessiert waren. Mehr als für ihre christliche Umwelt bildete das Kaisertum für die Judenschaft noch immer einen stabilisierenden Faktor zur Existenzsicherung innerhalb der Territorien, und so ist es erklärlich, daß seit Josel von Rosheim der habsburgische Hof zum entscheidenden Angelpunkt jüdischen Lebens im Heiligen Römischen Reich wurde.

1 Zit. nach Germania Judaica 1, Tübingen 1963, S. 186.

2 Stow 1992, S. 101.

3 Friedrich Battenberg, Regensburg, die Juden und das Reich der Hohenstaufen um 1200, in: Daxelmüller (Hrsg.) 2001.

4 Ernst Karpf, Das Frankfurter Judenpogrom von 1241, in: Backhaus (Hrsg.) 1995, S. 57–92, hier S. 71ff.

5 Bernd Schneidmüller, Eine Pfalzstadt in der Krise. Frankfurt am Main im Jahre 1241, in: Backhaus (Hrsg.) 1995, S. 15–56, hier S. 43.

6 Shlomo Spitzer, Bne Chet. Die österreichischen Juden im Mittelalter. Eine Sozial- und Kulturgeschichte, Wien/Köln/Weimar 1997, S. 35.

7 Lohrmann 1990, S. 101.

8 Schwabenspiegel I, 260; dazu: Kisch 21978, S. 86.

9 Zitiert nach Battenberg 1990, Bd. 1, S. 116.

10 Israel 1985, S. 96.

11 Stern 1959, S. 161.

12 Volker Press, Kaiser Rudolf II. und der Zusammenschluß der deutschen Judenheit. Die sogenannte Frankfurter Rabbinerverschwörung von 1603 und ihre Folgen, in: Haverkamp/Ziwes (Hrsg.) 1981, S. 243–293, S. 247.

13 Frey 1983, S. 133.

Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa

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