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Von 1945 bis heute

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Große Teile des ungarischen Judentums wurden in der Schoa ermordet. Die Zahl der Opfer wird auf 430.000 bis 560.000 auf dem Staatsgebiet von 1944 geschätzt. Die Katastrophe überlebten etwa 200.000 Juden, die meisten von ihnen in Budapest. Hier lebten unmittelbar nach Kriegs ende 144.000 Juden, während die Mitgliedszahlen der jüdischen Gemeinden in den Provinzstädten auf wenige Dutzend zusammenschrumpfte. Auch in Budapest nahm jedoch die Zahl der Juden aufgrund von Auswanderung, Mischehen und niedrigen Geburtenraten, die unter anderem auch auf die finanziellen und psychischen Folgen der Verfolgung zurückzuführen waren, in der Folgezeit stark ab. So lebten 1949 nur noch 96.537 Juden in Budapest, 9,1 % der Gesamtbevölkerung. Insgesamt verließen im Rahmen der Auswanderungswellen von 1945–1948 und 1956/57 zwischen 30.000 und 60.000 Juden das Land. Dies führte einerseits zu einer verstärkten Assimilationsbereitschaft bei denjenigen, die sich zum Bleiben entschieden hatten, und andererseits aufgrund der durch die Auswanderung verursachten sogenannten selektiven Verluste zu einer ungleichmäßigen Alters- und Geschlechtsverteilung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Die Folge war, daß sich viele Juden, vor allem Frauen, dazu veranlaßt sahen, einen nichtjüdischen Partner zu heiraten. Auf diese Weise verringerte sich die Anzahl derjenigen, die der jüdischen Gemeinschaft angehörten, während die Zahl der Familien, die auch Juden zu ihren Mitgliedern zählten, stieg. Heute wird die Zahl der Juden in Ungarn auf 60.000 bis 150.000 geschätzt. 1999 gaben in einer repräsentativen Studie 2 % der erwachsenen Befragten an, Juden unter ihren Eltern oder Groß eltern gehabt zu haben.

Der nach Kriegsende die gesamte Gesellschaft erfassende Umschichtungsprozeß erwies sich für die Juden, die im Durchschnitt besser ausgebildet waren als ihre nichtjüdischen Zeitgenossen, traditionell eine größere Mobilität besaßen und außerdem aufgrund der erlittenen Verfolgungen als politisch zuverlässig galten, als vorteilhaft. Plötzlich wurden ihnen Arbeitsplätze zugänglich, in denen sie vor dem Krieg aus politischen Gründen keine Anstellung gefunden hätten. Viele Juden traten in die neu organisierte Verwaltung, den Staatsdienst, politische Einrichtungen, Armee und Polizei ein.

Aufgrund der Rolle, die die sowjetische Armee bei der Befreiung des Budapester Ghettos und der Konzentrationslager gespielt hatte, und aufgrund des Versprechens der Kommunisten, der Diskriminierung Einhalt zu gebieten, standen nicht wenige Juden dem kommunistischen System loyal gegenüber. Viele von ihnen waren vor dem Aufstand von 1956 der Partei beigetreten und in mittlere oder sogar höhere Positionen gelangt. Die Parteikader jüdischer Herkunft gaben ihre vorherige Identität, ihre kulturelle Tradition und ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft auf. Die Konfrontation mit Realität des Stalinismus führte jedoch bei der kommunistischen jüdischen Intelligenz zu einer immer stärkeren Desillusionierung, und viele ihrer Mitglieder schlossen sich der entstehenden Oppositionsbewegung an und unterstützten 1956 aktiv den Aufstand.

Gleichzeitig hatten nach der Machtübernahme der Kommunisten das jüdische Kleinbürgertum und der Mittelstand unter den Maßnahmen der Regierung gegen Religion und Bürgertum zu leiden. Von der Deportation der früheren „Ausbeuter“ waren Juden wie Nichtjuden betroffen. Darüber hinaus bereitete auch die antizionistische Kampagne der Regierung den Juden Schwierigkeiten. So wurde der „Zionistische Verband“ aufgelöst und mehrere seiner Mitglieder verhaftet. 1953, nach dem sowjetischen „Ärzteprozeß“, wurde der Chefarzt des Jüdischen Krankenhauses festgenommen. Nach dem Aufstand von 1956 und dem Sechstagekrieg von 1967 versuchte die Kommunistische Partei, die Beteiligung der Juden am politischen Leben mit unauffälligen Mitteln zu beschränken.

Das religiöse Leben wurde kurz nach dem Krieg in – vorwiegend neologen – Gemeinden wiederhergestellt, doch waren in den fünfziger Jahren aufgrund der Umsiedlungen, Aussiedlungen und politischen Veränderungen nur etwa 60 bis 80 von ihnen, vor allem solche in größeren Städten, funktionsfähig. Bereits 1950 waren die Organisationen und Verbände der verschiedenen Richtungen der jüdischen Gemeinschaft aufgelöst und die jüdischen Gemeinden dem neu gegründeten Landesbüro der Ungarischen Israeliten bzw. der Landesvertretung der Ungarischen Israeliten (Magyar Izraeliták Országos Képviselete, MIOK) unterstellt worden. Dabei war auch die Selbständigkeit der Orthodoxen Gemeinschaft abgeschafft worden. Die beiden neuen Dachorganisationen fungierten innerhalb der vom Staat bestimmten Grenzen ausschließlich als religiöse Einrichtungen. Sie standen dem System loyal gegenüber, lehnten den Zionismus ab und verurteilten die israelische Politik. Obwohl das jüdische religiöse Leben zu dieser Zeit fühlbaren Einschränkungen unterlag, konnte die jüdische Gemeinschaft doch ein Krankenhaus, ein Waisenhaus und ein Seniorenheim unterhalten.

1948 wurden alle Elementarschulen, Bürgerschulen und Lehrerseminare sowie vier der fünf Gymnasien der Gemeinde verstaatlicht. Das Anne-Frank-Gymnasium und das Rabbinerseminar, das über eine wertvolle Bibliothek verfügt, blieben unter der Aufsicht des „Staatlichen Amtes für Religiöse Angelegenheiten“ erhalten. Am Rabbinerseminar, in seiner Art einmalig in Osteuropa, studierten auch Jugendliche aus den benachbarten Ländern. Dennoch blieb die Zahl der Lehrer und Studenten sehr niedrig. Die Zahl der Gymnasiasten sank bis zu Beginn der achtziger Jahre stetig – 1976 gab es lediglich zehn Schüler am Gymnasium –, danach war ein leichter Anstieg bemerkbar.

In den Jahren der „sanften“ Diktatur (1963–1989) konnte sich das jüdische Leben wieder etwas besser entfalten. 1988 entstand eine säkulare jüdische Organisation, der „Magyar Zsidó Kulturális Egyesület“ (Jüdischer Kulturverein Ungarn), der sich die Erhaltung der ungarisch-jüdischen Kultur und die Wiederbelebung des weltlichen jüdischen Lebens zum Ziel setzte. Der Verein zählt heute zwischen 1500 und 2000 Mitgliedern.

Nach der Wende von 1989 nahm das Interesse für jüdische Religion, Tradition und Kultur stark zu. Zahlreiche kulturelle, religiöse und zionistische Organisationen entstanden oder wurden reorganisiert. Auch die Zahl der jüdischen Zeitschriften und Periodika stieg seit 1989 um das Mehrfache an. Zu nennen sind hier die Zeitung Új Élet (Neues Leben) des „Verbandes der Jüdischen Gemeinden Ungarns“, der vom „Jüdischen Kulturverein Ungarn“ herausgegebene Szombat (Samstag) und die bereits 1911 von József Patai gegründete und 1989 neu publizierte Zeitschrift für Literatur und Kunst Múlt és Jövô (Vergangenheit und Zukunft). Auch zwei jüdische Verlage, „Makkabi“ und „Múlt és Jövô“, wurden 1989 gegründet.

Auch das jüdische Schulwesen wird immer breiter. Die Wiederbelebung der religiösen Erziehung wird von der Chabad-Lubawitsch-Bewegung, die vor einigen Jahren einen Rabbiner nach Budapest gesandt und kürzlich einen Kindergarten sowie eine Schule eingerichtet hat, stark unterstützt. Institutionen wie die American Endowment School mit 200 Schülern, 1990 von der Reichmann-Stiftung gegründet, bieten eine traditionelle religiöse Er ziehung. Die Schule des „Verbandes der Jüdischen Gemeinden in Ungarn“, die Sándor-Scheiber-Schule, sieht sich der Neologie verpflichtet, die 1990 entstandene Lauder Javne Jüdische Gemeinschaftsschule (und Kindergarten) unterrichtet ihre Schüler im liberalen jüdischen Geist. Am Rabbinerseminar wurde nach der Wende mit dem Pädagogium eine neue Fakultät eingerichtet, an der Religionslehrer und Sozialarbeiter ausgebildet werden.

Während die kommunistische Regierung Ungarns niemals offiziell die Verantwortung für das den ungarischen Juden vor 1945 zugefügte Unrecht übernommen und ihnen deshalb weder eine moralische noch eine materielle Entschädigung zugebilligt hatte, wurde die Frage der Entschädigung nach der Wende von 1989 wieder aktuell. Die demokratisch gewählten Regierungen drückten nun ihr Bedauern über die Leiden der Juden im Zweiten Weltkrieg aus. Das Parlament verabschiedete 1991 und 1992 drei Entschädigungsgesetze, nach denen allen ungarischen Staatsbürgern, die 1939 rechtswidrigen Verfolgungen zum Opfer gefallen waren, deren Eigentum widerrechtlich konfisziert worden war oder die aus politischen Gründen ermordet oder ihrer Freiheit beraubt worden waren, Entschädigung zusteht (Gesetz Nr. 25/1991, 24/1992, 32/1992). Diese Entschädigung kommt den Opfern selbst bzw. ihren Ehegatten oder unmittelbaren Nachkommen zugute. Aufgrund dieser drei Gesetze haben etwa 30.000 ungarische Juden Entschädigung in Form von Staatspapieren erhalten.

Mit dem Untergang der kommunistischen Diktatur keimte auch der Antisemitismus in Ungarn wieder auf. Laut empirischen soziologischen Untersuchungen sind 8 % der ungarischen Erwachsenen entschieden antisemitisch. Der offene politische Antisemitismus tritt lediglich in marginalen rechtsextremen Gruppierungen in Erscheinung, die über keine bedeutende politische Unterstützung verfügen. Die größte politische Organisation des rechtsextremen Spektrums, die „Partei für ungarische Wahrheit und Leben“ (MIÉP), erreichte bei den Parlamentswahlen 1994 1,5 % der Wählerstimmen und verpaßte damit den Einzug ins Parlament. Bei den Wahlen im Mai 1998 überwand sie jedoch mit 250.000 Stimmen die Fünfprozenthürde und erhielt 14 Sitze im Parlament.

(Übersetzt von Brigitta Eszter Gantner)

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