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Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (1919–1945)

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Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs war der ungarische Liberalismus in eine verhängnisvolle Krise geraten. Die Niederlage, die Revolution, die proletarische Diktatur, und besonders das mit dem Friedensvertrag verbundene Trauma waren die Ursachen dafür, daß Nationalismus und Antisemitismus zur herrschenden politischen Ideologie der folgenden Jahrzehnte wurden. Dies zeigte sich auch in dem im Jahr 1920 verabschiedeten „Numerusclausus-Gesetz“, das, obwohl weder das Wort „Israelit“ noch das Wort „jüdisch“ in seinem Text zu finden war, vor allem die Zahl der jüdischen Universitätsstudenten zu begrenzen suchte.

Durch den Gebietsverlust, den Ungarn aufgrund der Grenzziehung des Friedensabkommens von Trianon hinnehmen mußte, verlor das Land etwa die Hälfte seiner jüdischen Bevölkerung. Die Volkszählung im Jahre 1920 registrierte 473.355 Juden im Vergleich zu 909.531 im Jahr 1910. Der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung veränderte sich jedoch kaum. Hatte er 1910 etwa 5 % betragen, so lag er nun bei 5,9 %. 1930 lebten 445.670 Juden in Ungarn (5,1 % der Bevölkerung), und im Jahr 1941 zählte man innerhalb der „Trianon-Grenzen“ 400.981 Juden. Zu dieser Zeit betrug die Gesamtzahl der Juden in dem durch die Wiener Schiedssprüche von 1938 und 1940 vergrößerten Gebiet 725.007. Hinzu kamen noch 89.640 Personen, die nicht jüdischen Glaubens waren, die jedoch das Gesetz aus dem Jahr 1939, das noch eingehender zu behandeln sein wird, als jüdisch betrachtete.

Der Gebietsverlust nach dem Ersten Weltkrieg veränderte auch die Verteilung der Juden zwischen Stadt und Land grundlegend: Der Anteil der in Städten lebenden Juden stieg nun auf fast 73 %. In Budapest lebten im Jahre 1920 215.560 Juden (23,4 % der Gesamtbevölkerung der Stadt). Bis 1941 sank diese Zahl auf 184.453 (15,8 %). Durch den Verlust der größtenteils jiddischsprachigen Orthodoxen, die in den abgetrennten nordöstlichen Gebieten lebten, stieg der Anteil der Juden, deren Muttersprache Ungarisch war, auf über 95 %. 1920 gehörten 63,4 % der ungarischen Juden „neologen“ Gemeinden an, 1930 waren es 65,7 %. Als jedoch 1941 mit der Karpato-Ukraine, Oberungarn und dem Nordteil von Siebenbürgen Gebiete, in denen zahlreiche orthodoxe Juden lebten, Ungarn wieder angegliedert wurden, sank dieser Prozentsatz auf 36,6 %.

Die judenfeindlichen Gesetze der ersten Hälfte der zwanziger Jahre hatten eine dramatische Wirkung auf die gesellschaftliche Mobilität der Juden: Der Anteil der jüdischen Studenten sank 1926 auf 9,6 %, 1936 auf 8,9 % und 1941 sogar auf 2,8 %. Der Prozeß der Assimilation und der gesellschaftlichen Verschmelzung geriet hingegen nicht ins Stocken. Zwischen 1920 und 1929 lag der Anteil der Mischehen an der Gesamtzahl der Eheschließungen von Juden bei etwa 20 %, und in der Zeit zwischen 1930 und 1938 schwankte er zwischen 20 % und 25 %.

Seit der Mitte der zwanziger Jahre ließen die antisemitischen Tendenzen in der Politik zunächst ein wenig nach. Das als Teil des Konsolidierungsprozesses verabschiedete Gesetz über das Oberhaus (Nr.22/1926) sicherte den Vertretern der neologen und der orthodoxen Gemeinden je einen Platz im Oberhaus zu. Ebenso wurde das Numerus-clausus-Gesetz abgemildert. Nach der Machtübernahme Hitlers in Deutschland entstanden und erstarkten jedoch auch in Ungarn verschiedene rechtsradikale Parteien. Auf den Druck dieser Parteien hin und aufgrund des Einflusses, den das „Dritte Reich“ auf die ungarische Politik ausüben konnte, verabschie dete das ungarische Parlament seit dem Ende der dreißiger Jahre eine Reihe von judenfeindlichen Gesetzen. Das erste „Judengesetz“ über „die wirksamere Sicherung des Gleichgewichtes des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens“ (Nr.15/1938) band die Ausübung intellektueller Tätigkeiten an die Mitgliedschaft einer der entsprechenden Kammer und setzte den maximalen Anteil der Juden, die in diese Kammern aufgenommen werden konnten, auf 20 % fest. Ebenso wurde die Obergrenze für den Anteil der Juden unter den Handelsangestellten auf 20 % festgelegt.

Kaum ein Jahr später, 1939, trat das zweite „Judengesetz“ über „die Beschränkung der Verbreitung der Juden in der Wirtschaft und im öffentlichen Leben“ (Nr.4/1939) in Kraft, das bereits offen auf einer rassistischen Basis beruhte. Dieses Gesetz definierte, unabhängig von der Religionszugehörigkeit, alle diejenigen als Juden, bei denen mindestens ein Elternteil oder zwei Großeltern israelitischer Konfession waren. In der Kammer der Akademiker wurde die Obergrenze für den Anteil der Juden auf 6 % reduziert. Juden durften nicht als Redakteure und Zeitungsverleger tätig sein, keine Kinos oder Theater leiten und nicht im öffentlichen Dienst beschäftigt werden. Privatunternehmen durften Juden nur bis zu einem maximalen Anteil von 12 % an der gesamten Belegschaft anstellen.

Im April 1941 wurde der Arbeitsdienst von Juden, der sich schon seit 1939 angebahnt hatte, endgültig per Regierungsanordnung eingeführt. Das ebenfalls in diesem Jahr erlassene dritte „Judengesetz“ (Nr.15/1941) verbot die Ehe zwischen Juden und Nichtjuden, und ihre außerehelichen sexuellen Beziehungen wurden – nach deutschem Vorbild – als „Rassenschande“ bezeichnet und bestraft. 1942 wurde das Gesetz über die Anerkennung der israelitischen Religion aus dem Jahr 1895 außer Kraft gesetzt und diese damit aus der Reihe der anerkannten Konfessionen gestrichen. Auch das Recht, Immobilien zu erwerben, wurde den Juden genommen.

Trotz dieser Entrechtung, der Demütigungen und des Arbeitsdienstes galt Ungarn unter den von Deutschland beeinflußten Staaten noch als verhältnismäßig sicher: Zwar wurden die Juden, die nicht die ungarische Staatsangehörigkeit besaßen, 1942 aus dem Land ausgewiesen und mehrere tausend von ihnen fielen dem Massenmord in Kamenetz-Podolsk zum Opfer, aber den Juden mit ungarischer Staatsangehörigkeit drohte vorläufig noch keine physische Gefahr.

Nachdem Ungarn unter dem Ministerpräsidenten Graf Paul Teleki eine zweigleisige Politik zwischen einer Unterstützung Deutschlands und Verhandlungen mit den Alliierten betrieben hatte, schwenkte das Land unter Telekis Nachfolger László v. Bárdossy stärker auf eine deutschlandfreundliche Politik ein und trat an der Seite des „Dritten Reichs“ in den Krieg gegen die Sowjetunion ein. Als der Reichsverweser Miklós Horthy nach 1942 Anstalten machte, sich aus dem Bündnis mit Deutschland zu lösen, ließ Hitler am 19. März 1944 deutsche Truppen in Ungarn einmarschieren. Damit war das Schicksal des ungarischen Judentums besiegelt. Noch Ende März erschien eine Flut von Verordnungen, die die Lebensbedingungen der Juden noch weiter verschlechterten. Die Juden waren nun verpflichtet, den gelben Stern zu tragen, und auch der Arbeitsdienst wurde verschärft. Mitte Mai wurde im ganzen Land, die Hauptstadt ausgenommen, mit der Konzentration der Juden in Ghettos und mit ihrer Deportation in die Vernichtungslager begonnen. Durch die aktive Hilfe der ungarischen Behörden und Gendarmerie wurden bis Ende Juni alle Juden vom Lande deportiert. Die Deportation der Juden in Budapest wurde durch Horthy Anfang Juli 1944 einstweilig ausgesetzt.

Nachdem Horthy, der den Plan der Loslösung von Deutschland noch nicht ganz aufgegeben hatte, die ungarischen Truppen am 15. Oktober 1944 erfolglos zur Einstellung der Kampfhandlungen aufgefordert hatte, wurde er von deutscher Seite gezwungen, den Führer der Pfeilkreuzler-Partei, Franz Szálasi, zum Ministerpräsidenten zu ernennen. In der kurzen Zeit, die den Pfeilkreuzlern bis zur vollständigen Besetzung Ungarns durch sowjetische Truppen noch verblieb, betrieben sie die systematische Vernichtung der noch in Ungarn verbliebenen Juden und die Konfiszierung ihres Vermögens. Am 3. November 1944 wurden daher alle jüdischen Vermögen verstaatlicht. Die Errichtung des großen Ghettos in Pest am 29. November diente der Vorbereitung der Deportation. Diese wurde zwar aufgrund der militärischen Situation nicht mehr durchgeführt, doch fiel ein bedeutender Teil der Juden dem Terror der Sondereinheiten der Pfeilkreuzler zum Opfer. Von den Überlebenden dieser Zeit zwischen Oktober 1944 und Mitte Januar 1945 verdankten viele ihr Leben dem Einsatz ausländischer Diplomaten wie Raoul Wallenberg, Charles Lutz, Giorgo Perlasca und Angelo Rotta sowie der Rettungsarbeit kirchlich gebundener Personen wie z.B. Margit Schlachta, Gábor Sztehló, József Eliás und anderen.

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