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1938–1945

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Nur wenige österreichische Juden erkannten die Gefahr des aggressiven Nationalsozialismus rechtzeitig, nur wenige sorgten vor. Nach seinem Besuch bei Adolf Hitler im Februar 1938 sah sich der österreichische Kanzler Kurt von Schuschnigg gezwungen, Arthur Seyß-Inquart als Verbindungsmann zu den Nationalsozialisten in die Regierung zu berufen. Mit dem Ministerposten des Inneren lag die Obhut über die Ordnungsmacht bereits ab 15. Februar in den Händen eines Nationalsozialisten. Als Schuschnigg am 9. März für den 13. März eine Volksabstimmung zur Unabhängigkeit Österreichs ankündigte, erhielt er rückhaltlose Unterstützung seitens der Jüdischen Gemeinde: „Wir österreichischen Juden stehen zu Volk und Heimat; wir werden unsere Pflicht tun: Mit Schuschnigg für Österreich!“, schrieb die Zeitung der „Union österreichischer Juden“.

Die Regierung Schuschnigg hielt dem Druck aus Deutschland nicht stand. Sie demissionierte am 11. März 1938, und damit fing für die Juden in Österreich die Katastrophe an. Von Beginn an waren sie den demütigenden Übergriffen und dem Raubzug der Nationalsozialisten und der nichtjüdischen Bevölkerung schutzlos ausgeliefert. Ein Spezifikum waren die selbstorganisierten Diebstähle. Berüchtigt wurde in den ersten Tagen das sogenannte Straßenwaschen, bei dem aufgegriffene Juden zum Beseitigen der Wahlparolen für die Volksabstimmung oder zu anderen Putzaktionen gezwungen wurden. Ein weiteres Spezifikum waren die sogenannten „wilden Arisierungen“, die selbst den Interessen der Nationalsozialisten wegen des unkontrollierten Entzugs materieller Werte zuwiderliefen.

In der Gesamtsicht der Entwicklung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik brachten die Ereignisse in Österreich radikalisierende Elemente ein: Sie zeigten die Gewaltbereitschaft der Nichtjuden gegenüber der jüdischen Bevölkerung und zugleich die geringe Bereitschaft, hiergegen offen Stellung zu beziehen. Von Beginn an waren die Juden Österreichs völlig rechtlos und jeglichen Übergriffen ausgeliefert. Anders als in Deutschland erkannten viele deswegen schon vor dem Novemberpogrom, daß es keine andere Perspektive als eine Flucht gab. Alles zielte darauf ab, die Juden mit Gewalt aus Österreich zu vertreiben. Dies ist ein Grund dafür, daß es ca. 130.000 Juden gelang, vor Kriegsausbruch zu fliehen. Ende April formulierte ein Artikel im Völkischen Beobachter das Ziel der NS-Politik:

Bis zum Jahre 1942 muß das jüdische Element in Wien ausgemerzt und zum Verschwinden gebracht werden. Kein Geschäft, kein Betrieb darf zu diesem Zeitpunkt mehr jüdisch geführt sein, kein Jude darf irgendwo noch Gelegenheit zum Verdienen haben, und mit Ausnahme der Straßenzüge, in denen die alten Juden und Jüdinnen ihr Geld – dessen Ausfuhr unterbunden ist – verbrauchen und aufs Sterben warten, darf im Stadtbild nichts davon zu merken sein.

Eine Woche nach dem „Anschluß“ wurde das Amtsgebäude der Wiener Kultusgemeinde besetzt, und ihre Funktionäre wurden verhaftet. Viele von ihnen deportierte man mit dem ersten Transport ins KZ Dachau, unter ihnen den Präsidenten der Wiener Kultusgemeinde, Desider Friedmann und Robert Stricker. Mit dem Auftauchen von Adolf Eichmann wurde ein Modell entwickelt, das in der späteren Vernichtungspolitik noch eine wichtige Vorbildfunktion einnehmen sollte: die Organisation der Vertreibung und die tragische Instrumentalisierung der Funktionäre der Jüdischen Gemeinde für Zwecke der NS-Politik. Während Friedmann und Stricker nach wie vor im KZ inhaftiert waren, wurden am 2. Mai 1938 die Geschäfte der wiedereröffneten Israelitischen Kultusgemeinde dem früheren Amtsdirektor Josef Löwenherz übertragen. Sofort installierte man eine eigene Auswanderungsabteilung, deren Aufgabe es war, die Fluchtbemühungen zu unterstützen bzw., aus nationalsozialistischer Sicht, die Vertreibungspolitik zu forcieren. Am 20. August 1938 wurde auf Initiative Eichmanns die „Zentralstelle für Jüdische Auswanderung“ im ehemaligen Rothschildpalais eröffnet.

Außerhalb Wiens entbrannte ein Wettkampf der lokalen Nazigrößen, ihre Gaue möglichst schnell „judenfrei“ zu bekommen. Ihre Gewaltbereitschaft zeigte sich vor allem beim Novemberpogrom. In Salzburg wurden beispielsweise alle jüdischen Männer nach Dachau deportiert, um so die Familien zum endgültigen Verlassen des Landes zu zwingen. Am schlimmsten wüteten die Übergriffe gegen die kleine Zahl der Juden in Innsbruck. Der Leiter der Innsbrucker Kultusgemeinde, Richard Berger, wurde ermordet und seine Leiche in den Inn geworfen, zwei andere Gemeindemitglieder wurden erstochen. Am 15. März 1939 wurde Tirol schließlich für „judenfrei“ erklärt. Mit dem Novemberpogrom forcierten die Nationalsozialisten die Arisierung von Wohnungen und Betrieben bzw. deren Liquidation. Insgesamt wurden 4600 Juden aus Österreich ins KZ Dachau deportiert.

Für die Juden Österreichs begann ein Wettlauf mit der Zeit. In ihrer Verzweiflung entschlossen sich Eltern, ihre Kinder alleine außer Landes zu schicken, weswegen eine große Zahl der „Kindertransport-Kinder“ aus Österreich stammte. Zwischen dem 10. Dezember 1938 und dem 22. August 1939 verließen 2844 Kinder das Land, von denen 2262 in England Asyl fanden. Die Aktivitäten der Funktionäre der Gemeinde waren vollends auf die Organisation der Auswanderung und auf die zunehmende Last der Fürsorge für diejenigen konzentriert, die kein Asylland finden konnten und von der NS-Politik gezielt in Armut gestürzt wurden. Schon 1939 kam es zu Zwangsarbeitsmaßnahmen.

Der Ausbruch des Krieges verschärfte die Lage. Nur wenigen gelang jetzt noch die Flucht in immer abgelegenere Länder, etwa nach Schanghai, das ca. 8000 Vertriebene aus Österreich aufnahm. Polnische und staatenlose Juden wurden sofort verhaftet. Anfang Oktober 1939 verschleppte man mehr als 1000 Menschen nach Buchenwald. Die von den Nationalsozialisten geplante „Umsiedlungsaktion“ der jüdischen Bevölkerung in die neu eroberten Gebiete Polens bedingte im Oktober 1939 die sogenannten Nisko-Transporte, mit denen Juden in Lager im Gebiet von Lublin gebracht wurden. Die Kultusgemeinde sah sich gezwungen, die Transportlisten zusammenzustellen und die Transporte auszustatten. Kaum angekommen, wurden viele über die Grenze in sowjetisches Gebiet gejagt. Bald danach stellte man die Deportationen vorerst ein.

Trotz der sich weiterhin ständig verschärfenden Gesetzgebung bemühte man sich in Wien, das jüdische Gemeindeleben aufrechtzuerhalten. Dies geschah z.B. durch Unterricht, Veranstaltungen des Kulturbundes oder die nach wie vor stattfindenden Gottesdienste in der ältesten Synagoge der Stadt in der Seitenstettengasse, die im Novemberpogrom nicht zerstört worden war. „Kommet einzeln, nicht in Gruppen! Verweilet nicht auf der Straße!“, hieß es beispielsweise in einer Einladung zum Jugendgottesdienstes anläßlich des Pessachfestes 1941.

Anfang 1941 befanden sich noch 53.604 „Glaubensjuden“ im Gebiet des ehemaligen Öster reich. Im Februar und März 1941 begannen Deportationen in den Lubliner Distrikt. Unter den mehr als 5000 Deportierten befanden sich erstmals auch alte, geschwächte und behinderte Menschen. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion setzte im Oktober 1941 die dritte, ein Jahr andauernde Deportationswelle ein, die 38.425 Menschen betraf. Zuerst waren die Deportationsziele Lodz, Riga und Minsk, später Izbica und das „Altersghetto“ Theresienstadt. Nach Abschluß der großangelegten Deportationen wurde die Wiener Kultusgemeinde aufgelöst, und deren Funktionäre wurden nach Theresienstadt deportiert, wo sie wiederum Funktionen übernehmen sollten. In Wien übertrug man die Geschäfte ab dem 1. November 1942 einem „Ältestenrat der Juden“. Auch danach wurden Juden aus Öster reich bis zum Kriegsende in die Konzentrations- und Vernichtungslager verschickt. Der vormalige Präsident der Kultusgemeinde Desider Friedmann und der international bekannte Zionist Robert Stricker wurden Opfer der Schoa.

Am 31. Dezember 1944 lebten in Wien noch 5799 Menschen, die den Nürnberger Gesetzen entsprechend als Juden definiert wurden. Von ihnen waren 3388 durch privilegierte Mischehen und 1053 durch nichtprivilegierte Mischehen geschützt. Nur eine geringe Zahl konnte versteckt überleben, die Angaben schwanken zwischen 280 und 619 Personen.

Ermordete österreichische Juden


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