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Die Moskauer Rus’ und das russische Imperium
ОглавлениеDas 13. bis 16. Jh. in Moskovien
In den Rivalitäten der Fürsten Zentralrußlands um die Vormacht spielte nicht nur militärische Durchsetzungskraft, sondern auch die symbolische Legitimierung eine Rolle. Dies steigerte die politische Bedeutung der orthodoxen Kirche, denn nicht zuletzt die Kathedra des Metropoliten machte eine Fürstenstadt zur Hauptstadt. Für die Moskauer Fürsten war es deshalb eine große Aufwertung, daß der Metropolit ab 1320 seinen Sitz dauerhaft in der Stadt nahm. Waren schon in der Kiever Zeit Sprache, Geschichte und Religion die wichtigsten Bausteine der kollektiven Identität gewesen, so nahm in der Moskoviter Zeit die Rolle der Religion zu, zumal die tradierten Institutionen Großfürstentum und Kirche stärker aufeinander bezogen waren. Die aus Byzanz ererbte Vorstellung von der „Symphonia“, dem „Gleichklang“ staatlicher und kirchlicher Macht, wurde zumindest insofern nachgeahmt, als eine größtmögliche Homogenität angestrebt wurde: Jurisdiktionsbereich des Metropoliten und Herrschaft des Großfürsten sollten in eins fallen, legitimer Herrscher aller orthodoxen Ostslaven war – in dieser Konzeption – eigentlich nur der Moskoviter Großfürst. Es entstand die Vorstellung vom „Heiligen Rußland“, in dem staatliche Herrschaft und Orthodoxie eine untrennbare Mischung eingingen.
Das anfangs sehr kleine, aber expansive Fürstentum Moskau hatte zunächst keine nichtorthodoxen Untertanen. Dort, wo an den Rändern des Herrschaftsbereichs heidnische Völker, wie etwa die Syrjänen, Untertanen des Fürsten wurden, setzte eine intensive Missionstätigkeit ein. Als es in den siebziger und achtziger Jahren des 15. Jhs. zu Kontakten mit jüdischer Gelehrsamkeit kam, geriet die orthodoxe Kultur in eine tiefe Krise. Es ist dies ein kompliziertes Kapitel im russisch-jüdischen Verhältnis, weil die Hintergründe nur indirekt aus den größtenteils polemischen Quellen abgeleitet werden können. Es gibt aber anschaulich Aufschluß über die Verschiedenheit der orthodoxen Kultur in- und außerhalb Moskoviens.
In den siebziger und achtziger Jahren des 15. Jhs. gab es Unruhen unter der Novgoroder Stadtgeistlichkeit. Ein Pope hatte dem Erzbischof einen direkt aus dem Hebräischen übersetzten Psalter übergeben und ihn auf eine Gruppe von Geistlichen aufmerksam gemacht, die einer Häresie anhängen sollten. Bei der weiteren Verfolgung der Angelegenheit mußte Erzbischof Gennadij feststellen, daß die Häretiker in Moskau Unterstützung fanden und dies nicht nur bei Teilen der Geistlichkeit, sondern auch bei reichen Kaufleuten und hohen Beamten des großfürstlichen Außenamtes.
Nach 1490 nahm sich Iosif, der Abt des Klosters von Volokolamsk, der Angelegenheit an. Er entfaltete einen großen Propagandafeldzug aus Briefen, Traktaten und Sendschreiben gegen die Lehren der Häretiker, die er „židovstvujuščie“ (Judaisierende) nennt. Er erreichte, daß 1504 ein Prozeß angestrengt wurde, an dessen Ende die Verurteilung einer ganzen Gruppe zu langen Haftstrafen, in einigen Fällen auch zum Tode, stand. Für schuldig befunden wurden eine Schwiegertochter des Großfürsten, hohe Beamte aus dem Dienstadel und Stadtgeistliche.
Da die Schriften Iosifs über weite Strecken sehr polemisch sind, hat man die Bezeichnung „Judaisierende“ bisweilen als reine Polemik, als Instrumentalisierung antijüdischer Vorurteile, ansehen wollen. Erst detaillierte Untersuchungen aus den letzten Jahrzehnten haben gezeigt, daß zwar nicht wenige Argumentationsstrategien grundsätzlichen politischen Auseinandersetzungen geschuldet waren, der Kern der Anschuldigungen jedoch nicht einfach aus der Luft gegriffen war. Bei den Häretikern waren nämlich Bücher bekannt, die entweder aus dem Hebräischen oder zumindest über jüdische Vermittlung ins Russisch-Kirchenslavische übersetzt worden waren: das Vocabularium logicae des Moses Maimonides, das Schesch Kenafim („Sechsflügelbuch“) des Immanuel ben Jakob Bonfils, die Schriften von Ghasali, das pseudoaristotelische Secretum secretorum und andere philosophische, naturkundliche und mystische Schriften. Eine davon, das Ladoicäische Sendschreiben, wird als Versuch gedeutet, gnostisch-kabbalistische Spekulationen auf das slavische Alphabet anzuwenden. Nach der Lektüre dieser Texte sollen die Häretiker die Trinität geleugnet und die Ikonenverehrung abgelehnt haben.
Ort der Übersetzung war wohl Kiev gewesen, und da die Kiever Juden in ihrer Stadt keine eigene Ausbildungsstätte hatten, pflegten sie besonders gute Beziehungen nach Konstantinopel und auf die Krim, versuchten aber gerade in der zweiten Hälfte des 15. Jhs. selbständiger zu werden. In Moskau und Novgorod fand die Übersetzungsliteratur das besondere Interesse der bildungsbeflissenen Aufsteiger, die ihrer Fähigkeiten und ihres Wissens wegen im Klerus oder als Beamte Karriere gemacht hatten. Letztere lieferten dem Großfürsten und Zaren wichtige Argumente in dessen Auseinandersetzungen mit der kirchlichen Hierarchie um den Grundbesitz der Kirche – was erklärt, warum dieser sie schützte, solange er konnte.
Daß vor allem Iosif von Volokolamsk mit solcher Wucht auf die Lehren reagierte, zeigt, daß ein ganz grundsätzlicher Bereich berührt war, nämlich der der Offenbarung und damit der Vorstellung von Gott als trinitarischem oder als monopersonalem. Daneben auch die nicht minder sensible Frage nach dem Verhältnis von Traditionalität und Rationalität, die hinsichtlich der Gottesbilder (Ikonen) für die Orthodoxie von besonderer Bedeutung ist. Eine Folge der Kulturkrise war jedenfalls, daß führende Hierarchen der Orthodoxie Bildungsmaßnahmen einleiteten.
Im allgemeinen waren jüdische Kaufleute nur auf Reisen im Moskauer Reich unterwegs, was in erster Linie damit zu tun hat, daß sie in der Regel Untertanen des polnischen Königs waren und als Fremde nur eine kurze Aufenthaltsgenehmigung erhielten. Anders war es um die Ausländer bestellt, die vor allem unter Ivan III. in Westeuropa – meist in Italien – als Fachkräfte angeworben worden waren: Architekten, Ingenieure, Münzmeister. Daß diese römischen oder – wie im Fall des „Kreml’-Arztes“ Leone – jüdischen Glaubens waren, nahm man in Kauf. Leone wurde 1490 im Moskau geköpft, weil er den Thronfolger bei einer schweren Krankheit nicht hatte vor dem Tod bewahren können. Man warf ihm einen Kunstfehler vor.
Die jüdischen Kaufleute, die von Polen-Litauen aus nach Moskovien einreisten, waren öfter Gegenstand diplomatischer Auseinandersetzungen. Da sie auf der Rückreise im Grenzgebiet nicht selten überfallen wurden, intervenierten die polnischen Könige beim Zaren. Ivan IV. Vasil’evič (1533–1584), genannt „der Schreckliche“, schloß deshalb die Grenzen für jüdische Kaufleute. Dieser Schritt muß offensichtlich im Zusammenhang mit den Anstrengungen englischer Kaufleute gesehen werden, den Westhandel Rußlands ganz für sich zu beanspruchen, um ihn auf dem Seeweg über den Hafen Archangelsk abzuwickeln. Das kam den Russen gelegen, denn die Beziehungen mit Polen-Litauen waren oft von kriegerischen Auseinandersetzungen um Städte im Grenzgebiet geprägt, und das machte den Handel zu Lande schwierig.
Während des moskovitisch-litauischen Krieges von 1562 bis 1570 nahm Ivan IV. in einem raschen Erfolg die Festung Polock. Mit der Unerbittlichkeit, der er seinen Beinamen verdankte, schüchterte er die Bevölkerung ein. Etwa 300 Juden, die sich nicht taufen lassen wollten, ließ er in der Düna ertränken, ihr Vermögen wurde eingezogen. Maßnahmen dieser Art ergriff Ivan häufiger nach der Eroberung von Städten. So ließ er z.B. 1570 einen großen Teil der Bevölkerung Novgorods ermorden, weil er Verräter in der Stadt wähnte.
(Norbert Franz)
Die Juden im Zarenreich seit der „Zeit der Wirren“
Während der „Zeit der Wirren“ (1598–1772), einer Zeit, in der Rußland eine schwere poli tische und wirtschaftliche Krise durchlief, verstärkten sich antijüdische Parolen. Nachdem 1598 mit dem Tod Fedors, des letzten überlebenden Sohnes Ivans IV., die Dynastie der Rjurikiden ausgestorben und auch der daraufhin zum Zaren gewählte Boris Godunov verstorben war, brach die bestehende Ordnung zusammen. Das Interregnum führte zur militärischen Intervention Polen-Litauens und Schwedens. Juden waren insofern an den Ereignissen beteiligt, als sie sich im Gefolge der Polen aufhielten bzw. als Marketender die polnischen Armeen begleiteten. Die Gefährdung der politischen Einheit und religiösen Identität Moskaus durch Polen-Litauen erzeugte xenophobe Stimmungen und verstärkte die judenfeindliche Einstellung Moskaus. Die Juden wurden als Helfer des polnischen Feindes angesehen oder mit ihm direkt identifiziert. Die Kirche brandmarkte die Juden als „Gottesmörder“. Die mehrfach als falsche Zarensöhne auftretenden Thronanwärter bezeichnete man, um sie abzuwerten, als gebürtige „Juden“.
Als 1610 der polnische Prinz Władisłav zum Zaren gewählt wurde, wurde ihm durch seine Anhänger vor der Wahl auferlegt, keine Kirchen und Kapellen von Katholiken zu dulden und die Ausübung anderer nichtorthodoxer Religionen nicht zu tolerieren. Besonders erwähnt wurde, daß die Juden nicht ins Moskauer Reich gelassen werden dürften, auch nicht zu geschäftlichen oder irgendwelchen anderen Zwecken. Die antijüdische und fremdenfeindliche Agitation kam teilweise aus Kreisen der Familie der Romanovs, die diese Propaganda beim Kampf um die Nachfolge auf den russischen Thron für ihre Ziele einsetzte. Es mag auch an diesen aktuellen Umständen der Thronfolge liegen, daß fast alle nachfolgenden Romanovs die antijüdischen Haltungen ihrer Vorgänger teilten, was sich aber nicht unbedingt in einer antijüdischen Regierungspraxis niederschlug.
In der Regierungszeit des Zaren Alexej Michaijlovič (1645–1676) wurden ebenfalls antijüdische Maßnahmen getroffen. Da Rußland in die Auseinandersetzungen zwischen den aufständischen Kosaken unter Bogdan Chmel’nickij gegen die polnische Adelsrepublik eingriff, kamen die russischen Truppen beim Einmarsch in polnisch-litauische Gebiete in Kontakt mit den hier bereits lange etablierten jüdischen Gemeinden. Die russischen Besatzer wollten beispielsweise die weißrussische Stadt Mogilev erst betreten, wenn alle Juden aus der Stadt verbannt waren. In der Hoffnung auf baldige Wiederkehr der polnischen Herrschaft zögerten viele Juden, die Stadt zu verlassen, und so kam es bis zur Ankunft polnischer Truppen dort zu von Russen an Juden verübten Massakern. In Vitebsk leisteten die Juden tapferen Widerstand, konnten die Einnahme der Stadt durch die Russen aber nicht verhindern. Die meisten Juden wurden gefangengenommen und ins Innere Rußlands abgeschoben, wobei ein Teil zum Übertritt zum orthodoxen Glauben gezwungen wurde.
Das Schicksal der Kriegsgefangenen wurde im polnisch-russischen Friedensvertrag geregelt. Zu Einzelfragen dieser Regelungen existieren in der Forschung unterschiedliche Varianten. Nach Simon Dubnow durften ungetauft gebliebene Juden in die Heimat zurückkehren, während die getauften und namentlich inzwischen mit Russen verheiratete Frauen in Rußland bleiben mußten. Auf diese Weise bildete sich in Moskau eine kleine Kolonie von jüdischen Täuflingen in der Moskauer Vorstadt, die teilweise im geheimen ihrem früheren Glauben treu blieben. Manche wurden sogar in die Ehrengilde der Kaufmannschaft aufgenommen. Für ungetaufte Juden aber wurde das Ansiedlungsverbot in Moskau 1676 durch einen Ukaz des Zaren erneuert.
In früheren Zeiten hatte es immer wieder kleinere jüdische Gemeinden in Rußland gegeben, und in den Großstädten ließen sich bisweilen einzelne Juden als Händler nieder. Doch erst mit der Annexion der linksufrigen Ukraine im Waffenstillstand von 1667 kam eine größere Gruppe von Juden unter Moskauer Herrschaft. Zwar wurden die Juden in den Verträgen mit Polen von 1678 und 1686 vom Handel in der russischen Hauptstadt ausgeschlossen. Jedoch konnte der Verbleib von Juden, die den Chmel’nickij-Aufstand und die russische Invasion überlebt hatten, in den annektierten, ehemals zu Polen-Litauen gehörenden Gebieten nicht verhindert werden.
Peter der Große (1682/89–1725) leitete im Zeichen von Frühaufklärung und rationalem Fortschrittsdenken tiefgreifende Reformen in Rußland ein, um das Zarenreich in ein den Westmächten ebenbürtiges Imperium zu verwandeln. Doch obwohl Peter I. bei der Modernisierung von Staat und Gesellschaft auf Gelehrte und Fachkräfte vor allem aus protestantischen Ländern zurückgriff und die Bedeutung konfessioneller Toleranz für die Entwicklung Rußlands erkannte, kam es zu keiner Zäsur in der staatlichen Politik gegenüber den Juden. Jedenfalls hat Peter I. keine Juden in sein Land eingeladen, um westliche Produktionsmethoden und wissenschaftliche Neuerungen einzuführen. Petersburg blieb den Juden unter Peter I. grundsätzlich verschlossen.
Die Motive Peters des Großen für diese Politik sind nicht ganz klar. Möglicherweise war er der Ansicht, daß er auf eventuelle judenfeindliche Strömungen im Volk und vor allem auf die der Altmoskauer Tradition verhafteten Kreise am Hof sowie auf die orthodoxe Kirche, die die Ideologie der russischen Autokratie grundlegte, Rücksicht nehmen mußte. Eine allzu tolerante Politik hätte den Widerstand dieser traditionsverbundenen Gruppen provozieren können. Peter selbst teilte zudem mit seinen Vorgängern gewisse antijüdische Abneigungen. So soll er gesagt haben, Juden seien Betrüger und listig, und er versuche, das Böse auszurotten, nicht es zu verbreiten.
Andererseits hat Peter während des Großen Nordischen Krieges gegen Schweden (1700–1721) durch persönliches Eingreifen gewaltsame Übergriffe gegen Juden durch eigene Truppenteile verhindert und die verantwortlichen Anführer exekutieren lassen. Zudem wurden trotz des allgemeinen Einreiseverbots vorübergehend in St. Petersburg weilende jüdische Kaufleute geduldet, was ebenfalls eine eher pragmatische, von ökonomischen Kriterien geleitete Einstellung Peters gegenüber den Juden andeutet. Manche dieser Juden, die als Staatslieferanten oder Finanzagenten tätig waren wie z.B. der Faktor des Zaren, Israel Hirsch, verfügten sogar über starken Einfluß und mächtige Fürsprecher am Petersburger Hof.
Das bezüglich der Geschichte der Juden in Rußland wichtigste Ereignis der Regierungszeit Peters I. hing mit seiner Expansionspolitik nach Nordosten zusammen. 1710 eroberte er im Nordischen Krieg gegen Schweden Livland mit der Stadt Riga, also Teile des heutigen Lettland. Dadurch kam, wie nach der Inkorporation der linksufrigen, ukrainischen Gebiete im Jahre 1667, noch vor den Teilungen Polens 1772 eine nennenswerte Zahl von Juden ins Petersburger Reich.
Unter den Regierungen Katharinas I. (1725–1727), Peters II. (1727–1730) und Anna Ivanovnas (1730–1740) kam es zu keiner Änderung des Aufenthaltsverbotes für Juden im Russischen Reich. Vielmehr wurden 1727 alle Juden durch einen Ukaz der Zarin Katharina I. formal aus Rußland und der Ukraine ausgewiesen. Zugleich wurde ihre Einreise ver boten. Katharina I. bezog sich dabei auf einen Erlaß Peters I., konnte aber ihren Befehl ebensowenig durchsetzen wie dieser, da die Juden für die Wirtschaft in der Ukraine zu wichtig waren. Etwa ein Jahr nach Veröffentlichung des Erlasses wurde der ukrainische Hetman Daniīl Apostol in Moskau vorstellig, um den Aufenthalt für Juden zu geschäftlichen Zwecken zu erbitten, da wegen des Erlasses von 1727 der Handel der ukrainischen Märkte mit Polen stark beeinträchtigt worden war. Im August 1728 erging daraufhin im Namen des noch minderjährigen Zaren Peter II. ein Ukaz, der den Juden gestattete, „nach dem Kleinen Rußland während der Messen zu kaufmännischem Geschäft zu kommen“, was aber auf den Großhandel beschränkt blieb. 1731 wurde dieses Zugeständnis auch auf das Gouvernement Smolensk ausgedehnt, und seit 1734 durften sich die Juden in den ukrainischen Gebieten auch im Kleinhandel betätigen.
Wenn der russische Staat in der Folgezeit wieder schärfer gegen Juden vorging, dann hing dies wie zu früheren Zeiten vor allem mit der Furcht der Regierung vor Proselytentum zusammen. 1738 untersuchte die russische Regierung den Fall des aus den Diensten entlassenen Marinekapitäns Aleksandr Voznicyn, der unter dem Einfluß des Juden Baruch Leibov zum Judentum übergetreten war. Baruch Leibov hatte in einem Dorf in der Nähe von Smolensk sogar eine Synagoge errichtet, was den heftigen Widerstand russischer Bürgersleute herausforderte. Er kam aus dem im westlichen Grenzgebiet gelegenen Distrikt Smolensk, wo schon im frühen 18. Jh. kleinere jüdische Gemeinden existierten. Der Prozeß kulminierte in der öffentlichen Verbrennung beider Beschuldigter in St. Petersburg am 15. Juli 1738. Zu dieser Zeit bestätigte die Zarin Anna das Ausweisungsdekret, das auch alle Juden aus der Ukraine vertreiben sollte.
Mit Elisabeth (1741–1762) bestieg eine Zarin den Thron, die den orthodoxen Glauben konsequent vertrat und sich durch eine scharfe Intoleranz gegen alle nichtorthodoxen Bekenntnisse auszeichnete. Sie setzte eine Kampagne zur zwangsweisen Konversion von nichtorthodoxen Einwohnern in Gang, die sich vor allem gegen Muslime und Juden richtete. 1742 erließ sie einen Ukaz, der die bedingungslose Ausweisung aller Juden des Reichs vorsah, sofern sie sich nicht taufen ließen. Geschäftliche Zwecke galten nicht mehr als Ausnahme. Gemäß diesem Ukaz, der auch die Juden in der Ukraine sowie in Livland und Riga betraf, fanden in der Folgezeit umfangreiche Vertreibungen statt. 1753 sollen nach allerdings umstrittenen Angaben 35.000 Juden aus Rußland ausgewiesen worden sein.
Die Einstellung und Politik der russischen Herrscher gegenüber den Juden im 17. und 18. Jh. ist immer noch ein vernachlässigtes Gebiet der Forschung. Gleichwohl wird diese Poli tik vor der Regierungszeit Katharinas II. häufig als eine mehr oder weniger bruchlose judenfeindliche Tradition beschrieben, die geprägt gewesen sei von „byzantinischem Klerikalismus“ (Dubnow) und fanatischem christlichen Glaubenseifer. Diese Einschätzung ist insofern zutreffend, als die antijüdischen Maßnahmen der Herrscher tatsächlich rein religiös begründet waren, was sich daran ablesen läßt, daß getaufte Juden grundsätzlich als russische Bürger voll anerkannt waren und jede Position besetzen konnten, die ihnen durch Stand und persönlichen Status zugänglich war. In diesem Zusammenhang ist jedoch festzuhalten, daß die Politik der Zaren gegenüber den Juden sich nicht grundsätzlich von ihrer Politik gegenüber den Muslimen und anderen nichtorthodoxen Religionsgemeinschaften unterschied. Auch ist festzustellen, daß sich antijüdischen Stereotype, wie z.B. die im übrigen Europa verbreiteten Ritualmordanschuldigungen, in Rußland kaum entfalten konnten, was auf die geringe Zahl der dort lebenden Juden zurückzuführen sein mag.
Die wenigen Juden, die in Moskau oder anderen Städten Innerrußlands oder aber in den abgelegeneren Gebieten des Zarenreiches, z.B. in Riga, Smolensk oder Černigov, lebten, wurden als Fremde angesehen, genossen aber noch nicht einmal diejenigen Rechte, die der Status des Fremden anderen bot. Dennoch kamen auch vor der Regentschaft Katharinas II. immer wieder Juden ins Russische Reich. Dies geschah entweder illegal oder mit Genehmigung Polen-Litauens zu Zwecken des Handels. Den Juden aus den weißrussischen Grenzgebieten, die ihre Waren direkt an den Staat lieferten, wurden bisweilen sogar Ausnahmegenehmigungen für einen befristeten Aufenthalt in der Stadt Moskau erteilt. Zudem bezeugen gerade die häufigen Wiederholungen der von den Zaren ausgesprochenen Aufent haltsverbote sowie die besondere Erwähnung dieser Verbote in Verträgen zwischen Rußland und Polen-Litauen, daß der Aufenthalt von Juden eine dauerhafte Erscheinung im Zarenreich war und daß es eine stringente Politik gegenüber den wenigen Juden seitens der Regierung nicht gab. Darüber hinaus sollte die Judenpolitik etwa der Zaren Ivan IV. und Elisabeth I. nicht vergessen lassen, daß sich in Rußland betont judenfeindliche Traditionen immer wieder mit einer pragmatischen Tradition abwechselten.
(Wilfried Jilge)