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Gernot Böhme

Einführung

Das Thema Der mündige Mensch enthält ein Paradox. Auf der einen Seite wird Mündigkeit quasi wie eine Naturgabe dem Menschen zugeschrieben, jedem Menschen, auf der anderen Seite wird dieses Attribut – oder ist es eine Kompetenz? – jedem Menschen eben zugeschrieben, d.h. von Rechts wegen verliehen. Und das jeweils in einem bestimmten Alter. Dabei wird zwischen Geschäftsmündigkeit, Religionsmündigkeit, Ehemündigkeit, Strafmündigkeit und politischer Mündigkeit unterschieden. Der Heranwachsende wird vom Gesetz jeweils von einem bestimmten Alter an mit einer bestimmten Mündigkeit ausgestattet. Dabei wird also unterstellt, dass der Einzelne Mündigkeit schrittweise mit dem Alter entwickelt, das heißt, und damit wird es ernst: er sollte in seiner Entwicklung jeweils zu einem bestimmten Datum so weit sein, dass er der zugeschriebene Mündigkeit auch entsprechen kann. Also: er sollte – in der BRD – im Alter von 14 Jahren in seinem moralischen und rechtlichen Bewusstsein, wie auch in seiner Fähigkeit aus Einsicht zu handeln, so weit sein, dass man ihm seine Taten schuldhaft zuweisen kann und er somit strafmündig ist (Hillenkamp). Oder er sollte im Alter von 18 Jahren in seiner persönlichen Reife und seinen Kompetenzen für andere zu sorgen so weit sein, dass er eine Ehe führen kann (Akashe-Böhme).

Mündigkeit, die zunächst wie ein stolzer Besitz des Menschen erscheint, die – nach Kant – mit seinem intelligiblen Charakter als Mensch mitgegeben ist, erweist sich also als eine gesellschaftliche Zumutung. Mündigkeit ist eine Norm, der der einzelne Mensch in seiner Entwicklung entsprechen muss, will er als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft angesehen werden. Damit stellt sich die Frage wie – in den verschiedenen Dimensionen – Mündigkeit erworben werden kann, insbesondere, ob es eine Erziehung zur Mündigkeit gibt. Dass das genannte Paradox so aufgelöst werden kann und muss, wurde bereits von Immanuel Kant formuliert, wenn er in seiner Pädagogik sagt: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung“.1 Doch welches sind die Agenturen einer Erziehung zur Mündigkeit? Erzieht die Schule zur Mündigkeit? (Gruschka) Und kann man überhaupt diese Erziehung den Erziehungsinstitutionen – der Schule, der Familie – allein überlassen? Besteht nicht vielmehr die gesellschaftliche Zumutung der Mündigkeit darin, dass der Einzelne sich selbst um Mündigkeit bemühen muss? Wenn man noch hinzunimmt, dass der Aufstieg auf der Stufenleiter des Weges zur Mündigkeit keineswegs, wie es das Gesetz unterstellt, mit dem 18. Lebensjahr abgeschlossen ist, dann ist der Weg zur Mündigkeit als Programm der Selbstkultivierung auch eine Aufgabe des Institutes für Praxis der Philosophie e. V., IPPh. Und eben das wird dieses Buch zeigen, indem es Mündigkeit als Patientenmündigkeit und Konsumentenmündigkeit thematisiert (Böhme bzw. Buchholz). Gerade mit diesen Dimensionen von Mündigkeit wird die Kantische Forderung der Aufklärung nämlich als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“2 virulent. Denn als selbstverschuldet kann man Unmündigkeit ja erst in einem Stadium bezeichnen, in dem der Mensch eigentlich mündig sein sollte, also bei Erwachsenen. Es ist interessant, dass das deutsche Strafgesetzbuch ja bereits die Zumutung der Strafmündigkeit in Sinne einer Verpflichtung zur Selbstkultivierung auslegt – also keineswegs die Entwicklung des Einzelnen den Erziehungsinstanzen allein zuweist. Wenn beispielsweise eine Strafbarkeit wegen Verbotsirrtum (STGB § 17) in Frage steht, so ist zusätzlich zu erwägen, ob der Täter diesen Verbotsirrtum hätte vermeiden können. Es wird dem Einzelnen also zugemutet, sich selbst darum zu kümmern, was Recht und was Unrecht ist. Wenn Kant Unmündigkeit als selbstverschuldet bezeichnet, so weist er damit für uns in erstaunlicher Weise auf das gegenwärtig wichtigste Problem des Verlustes von Mündigkeit hin, nämlich auf die Entmündigung durch Experten: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt (...), so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“3

Wenn dieser Satz für den Leser der Kantischen Aufklärungsschrift am deutlichsten das aktuelle Problem der Unmündigkeit bezeichnet, nämlich dass der Einzelne in vielen Dimensionen seine Lebensführung an Experten delegiert, so darf nicht übersehen werden, dass für Kant der Weg zur Mündigkeit nicht primär ein Weg des Einzelnen, sondern der Gesellschaft im ganzen – um nicht zu sagen: der Menschheit war. Für ihn war das Projekt der Aufklärung im Wesentlichen die Etablierung einer kritischen Öffentlichkeit (Villhauer). Das zeigt sich vor allem an seiner Unterscheidung von privatem und öffentlichem Vernunftgebrauch. So wird beispielsweise das Räsonieren eines Offiziers über die Befehle seines Vorgesetzten als privat und damit als unzulässig bezeichnet. Gerade das war jedoch nach und mit den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen zu verlangen. Dem einzelnen Offizier wurde zugemutet, an ihn ergangene Befehle an universalistischen Maßstäben, insbesondere an der Forderung der Menschlichkeit (Kontrollratsgesetz no. 10) zu messen – und sie ggf. zu verweigern. Allgemein ist heute die Fähigkeit zu zivilem Ungehorsam der Prüfstein der Mündigkeit.4

Das ist moralgeschichtlich ein erstaunliches Faktum. Sollte die Menschheit oder wenigstens unsere Gesellschaft seit Kant tatsächlich einen Schritt auf dem Wege zum Besseren gemacht haben?5 Bei ihm lesen wir noch folgende Selbsteinschätzung: „Wir leben im Zeitpunkte der Disziplinierung, Kultur und Zivilisierung, aber noch lange nicht in dem Zeitpunkte der Moralisierung“.6 Man muss wohl feststellen, dass Kants Forderungen, was Aufklärung und Mündigkeit betrifft, noch durch seine Situation als Bürger, oder besser: Untertan in einem absolutistischen Staat bestimmt waren. Was er als Ziel von Aufklärung ins Auge fasste, nämlich eine freie, kritische Öffentlichkeit ist ja im Rahmen unserer demokratischen Staatswesen erfüllt. Das dürfte der Grund sein, warum wir heute beim Thema Mündigkeit auf die im Kantischen Text durchaus vorhandenen Forderungen an den Einzelnen, d.h. jeden Bürger zurückkommen. Freilich ist das sicher noch nicht eine hinreichende Erklärung. Vielmehr ist die historische Erfahrung mit totalitären Staaten, also die Erfahrung, dass – mit Adorno zu sprechen – das Ganze falsch sein kann, die Erfahrung, die man in Deutschland mit dem Nazi-Regime und der DDR gemacht hat, hinzuzunehmen. Diese Erfahrung stand auch im Hintergrund der 1968 erfolgten Einführung des Widerstandsrechtes in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Nachdem im §20GG die Verfassungsgrundsätze formuliert sind, insbesondere der Grundsatz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, wird dann in Abschnitt 4 das Widerstandsrecht formuliert:

„Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Dieser Artikel war auch als Korrektiv für die damals heiß umstrittene Notstandsgesetzgebung gedacht. Er enthält, genauer besehen, eine Explikation der Bestimmung, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht: das Volk besteht aus den vielen Einzelnen, den als politisch mündig gedachten Bürgern. Diesen wird das Recht zugesprochen, ihre Souveränität, die sie immer schon an den Staat delegiert haben, zurückzurufen, wenn der Staat durch seine Organe die verfassungsmäßige Ordnung selbst verletzt. Man kann sagen, dass seither sehr viele Menschen sich die ihnen sonst bloß zugeschriebene politische Mündigkeit durch einzelne Akte des Widerstandes explizit angeeignet haben. Durch die Deklaration „Wir sind das Volk“ in jenen Teilen der BRD, die heute als neue Bundesländer gelten, ist dieser Rückruf der politischen Souveränität zu einem wesentlichen Bestandteil bundesrepublikanischen demokratischen Selbstverständnisses geworden. Aber auch in den alten Bundesländern ist im Widerstand gegen die Volkszählung, in der Antikernkraft-Bewegung und in dem Widerstand gegen die Nachrüstung mit atomaren Mittelstrecken-Raketen eine politische Mündigkeit eingeübt worden, die weit über die bloße Mündigkeit qua Wahlberechtigung hinausgeht. In der Arbeit des Komitees für Grundrechte und Demokratie ist dieses Verständnis von politischer Mündigkeit auf Dauer gestellt worden (Narr).

Der öffentliche Vernunftgebrauch, der bei Kant zunächst nur als Freiheit der Feder gedacht werden konnte, ist im demokratischen Rechtsstaat inzwischen zur öffentlichen Autonomie geworden, im Sinne von politischen Partizipationsrechten. Diese sind zwar in der BRD fern von plebiszitärer Mitbestimmung, haben jedoch vermittelt über Parteien und Lobbys zu einer fortschreitenden Ausweitung der Staatsaufgaben geführt, dem Einzelnen in detaillierter Weise Schutz und Fürsorge angedeihen lassen. Das hat aber zu einer Einschränkung der privaten Autonomie, d.h. der Selbstbestimmung in eigenen – und familiären – Angelegenheiten geführt, und damit diesen Begriff zur Vorstellung freier Willkür verblassen lassen (Volkmann).

Über der Selbstverständlichkeit, mit der heute dem einzelnen erwachsenen Menschen Mündigkeit zugesprochen wird, wird nur allzu leicht vergessen, dass Mündigkeit nicht nur Projekt des individuellen Reifungsprozesses ist, sondern auch mühsam historisch und gesellschaftlich errungen werden musste. Im Blick auf die Geschichte versteht sich Mündigkeit keineswegs von selbst. Der Begriff der Mündigkeit setzte genetisch wie historisch einen Zustand der Abhängigkeit von Vormündern voraus. Mündig zu werden war so gesehen nicht die Überwindung eines Zustandes der Unreife sondern vielmehr die Entlassung aus der Vormundschaft: Emanzipation. Im 18. Jahrhundert und weit ins 19. hinein, teilweise sogar ins 20. war weiten Teilen der Bevölkerung, insbesondere den Frauen (Gahlings) der Status der Mündigkeit verwehrt, weil sie in Abhängigkeit von Vormündern, seien es nun die Väter, die Ehemänner oder die Dienstherren, gehalten wurden. Da die gesellschaftliche Zuschreibung von Mündigkeit – und zwar in allen genannten Dimensionen – versagt wurde, unterblieb auch die Erziehung und Selbstkultivierung zur Mündigkeit, die heute notwendig ist, um der gesellschaftlichen Zumutung von Mündigkeit zu entsprechen. Auch der Fortschritt in der Entwicklung von Menschen- und Bürgerrechten, der im Prinzip sich auf alle Menschen bezog, war doch nur jeweils für Teile der Bevölkerung wirksam. Insofern gibt es neben der ontogenetischen Entwicklung von Mündigkeit auch eine phylogenetische – wenn diese Sprechweise gestattet ist. Jeder Mensch muss heute in seiner ontogenetischen Entwicklung den mühsamen Prozess der phylogenetischen Durchsetzung von Mündigkeit gegen bevormundende und beherrschende Instanzen nachvollziehen. Deshalb ist die Besinnung auf die Geschichte der Mündigkeit ein wichtiges Exerzitium in der Achtung des kostbaren und stets gefährdeten Gutes Mündigkeit, das heute die Gesellschaft jedem Einzelnen zuerkennt.

Der mündige Mensch

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