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Mündigkeit und Unmündigkeit nach Kants Schrift “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?”

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Was ist Mündigkeit? Was ist ein mündiger Mensch? Welche Formen von Mündigkeit gibt es? Wie lässt sich Mündigkeit erreichen? Lässt sich Mündigkeit bewahren oder verlieren?

Diese Fragen werden in der berühmten Schrift Immanuel Kants “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?” diskutiert. Der Text enthält einige begriffliche Festlegungen, die nun schon Jahrhunderte nachwirken; ein Koordinatennetz des Verständnisses wurde mit ihm ausgelegt, das noch unsere heutigen Diskussionen prägt.

Kants Text erschien 1784, also vor 225 Jahren, in der “Berlinischen Monatsschrift” und versuchte sich in einer Antwort auf die Frage, die ein anderer Beiträger zur selben Zeitschrift, der Prediger und Theologe Johann Friedrich Zöllner (1753–1804), ca. ein Jahr zuvor, nämlich im Dezember 1783, gestellt hatte. In einer Anmerkung zu seinem Aufsatz “Ist es ratsam, das Ehebündnis ferner durch die Religion zu sanzieren?” (einer Auseinandersetzung mit der Idee der Zivilehe, welche er ablehnt) formuliert Zöllner:

Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und doch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!”1

Zöllner hatte also, in kritischer Absicht, eine inhaltliche Ausfüllung des Aufklärungsbegriffs gefordert und dessen Verwendung ohne diese nähere Bestimmung abgelehnt. Damit wollte er die ganze Tendenz in Frage stellen und ihr intellektuelle Unsauberkeit unterstellen, er sprach aber auch ein zentrales Problem der Aufklärungsbewegung an: sie war seit den Anfängen zum Beginn des 18. Jahrhunderts in England und Frankreich aufgespalten in unterschiedlichste Gruppierungen, Einzelpersonen und Parteien. Die britischen Whig-Politiker oder die französischen „philosophes“ verstanden unter „Aufklärung“ etwas anderes als die deutschen Fürsten und Herrscher, die sich als aufgeklärt betrachteten. Jeder nahm für sich in Anspruch, das authentische und wahre Programm der Aufklärung zu vertreten. Kant ging nun in der Zeitschrift, die eine Art Zentralorgan der aufklärerischen Diskussion in Berlin war, daran, den Aufklärungsbegriff aufzuklären und er vermied es in interessanter Weise, in die Falle zu tappen, die Zöllner ihm aufgestellt hatte. Doch davon später... Kants Text hebt jedenfalls an mit einem Satz, der zu einer der berühmtesten Aussagen der Philosophiegeschichte werden sollte:

“Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.” (A 4812 )

Diese Formulierung, verdient ein genaues Hinsehen, und wie für viele philosophische Einsichten gilt auch für diese: Je näher man sie ansieht, desto ferner blickt sie zurück.

Ich will im Folgenden kurz erläutern, welchen Begriff von Mündigkeit Kant entwickelt und dann mögliche Kritik- bzw. Diskussionspunkte nennen.

Wir sollten dabei im Auge behalten, dass Kant schon in eine vielfältige Aufklärungsdebatte hineinsprach. Seine Stellungnahme gehört zu einer Reihe von Schriften, mit denen er das eigene Denken zusammenfasst und einzelne Ergebnisse in populärer Form einem breiteren Publikum vorstellt. In diesem Fall reagiert er nicht nur auf den schon erwähnten Zöllner, sondern auf Diskussionen, in denen verschiedene Ansätze und Spielarten der Aufklärung thematisiert worden waren. Kant will – in gebotener Kürze und Knappheit – etwas Programmatisches sagen und dabei auch von ihm festgestellte Einseitigkeiten und Fehlstellungen korrigieren.

Auf einer ersten Ebene ist die Argumentation Kants im besagten Text gut zu verstehen. Unmündigkeit definiert er als das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Er formuliert:

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (A 481)

Ich will hier nicht im Detail nachvollziehen, welche Neufassung des Mündigkeitsbegriffs Kant gegen welche Traditionen stark macht. Nur soviel sei gesagt: Mündigkeit wurde vor ihm oft auf die elementare Selbsterhaltung des Menschen bezogen. Mündig war, wer ohne Unterstützung anderer überleben konnte, bzw. wessen derartige Überlebensfähigkeit gesellschaftlich anerkannt war. Wer möchte, kann im entsprechenden Artikel „Mündigkeit“ im 'Historischen Wörterbuch der Philosophie' dazu einiges nachlesen. „Mündigkeit“, so wird dort ausgeführt, bezeichnete lange die rechtliche Stellung dessen, der einer Hausgemeinschaft vorstand, also anderen Schutz und materielle Versorgung bieten konnte. Die in der Hausgemeinschaft aufwachsenden (meist muss man wohl sagen) Männer wurden dann ab einem bestimmten Zeitpunkt als fähig angesehen, eine eigene Hausgemeinschaft zu gründen, gesellschaftliche Anerkennungs- und Übergangsriten gaben dem Ganzen eine Form.

Außerhalb seiner berühmten Aufklärungsschrift äußert sich Kant zu den elementaren Formen der Mündigkeit und beschränkt diese auf die natürliche bzw. die „bürgerliche“ Ordnung (im Sinne des Lebenserwerbs). Moralisch und politisch aber hat die Mündigkeit ganz andere Dimensionen. Den Aspekt der Anerkennung von außen fasst Kant zum Beispiel ganz neu und er fügt als wesentlichen Aspekt die Freiheit hinzu. Die Freiheit der Menschen, sich öffentlich ihres Verstandes zu bedienen, ihre Meinung zu vertreten und im Austausch miteinander weiterzuentwickeln, ist die Grundlage der Aufklärung.

Ganz entscheidend ist, wie Kant die öffentliche Sphäre neu definiert – man könnte grob sagen, dass er sie vom Gerichtshof zum Marktplatz weiterentwickelt. War der Mensch zuvor darauf angewiesen, dass ihm in einem öffentlichen Verfahren die Mündigkeit zugesprochen wurde, so erwirbt er sie nun selbst auf dem Forum, dem Marktplatz, in einem wechselseitigen Austausch unter den Bedingungen der Freiheit.

Mit Hilfe der Freiheit entwickeln die Menschen ihr eigenes Denkvermögen und beginnen, sich selbst und die Welt besser zu verstehen. Kants Mündigkeitsbegriff ist einer, der Erkenntnis unbedingt fordert. Mündig werde ich, wenn ich mehr und mehr von der Welt erkenne. Und dieses Erkennen richtet sich bei ihm nach dem Modell der damals avanciertesten und anerkanntesten Wissenschaften, der Naturwissenschaften, besonders der Mathematik und der Physik. Die Aufklärung ist der Prozess, in dem Menschen ihre eigene Freiheit entdecken und behaupten, und schließlich durch diese Freiheit mehr über sich und die Welt erfahren. Die Geschichte ist der Lernprozeß autonomer Menschen. Kant betont, dass der Mensch sich die Mündigkeit selbst erwirbt; sie wird ihm nicht verliehen wenn er eine bestimmte Altersstufe erreicht, einen bestimmten Ausbildungsgrad erworben oder eine gewisse Geldsumme verdient hat. Mündigkeit in diesem Sinne hat also nichts mehr mit ökonomischer Unabhängigkeit zu tun. Man kann also sehr wohl Bezieher von staatlicher oder privater Unterstützung sein und dennoch mündig. Pointiert gesagt: auch dem Hartz IV-Empfänger oder dem Millionenerbe ist der Weg zur Mündigkeit nicht unbedingt verbaut.

Kant verdeutlicht, dass die Anstrengung groß ist, mit der man – langsam – mündig wird:

„Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen, und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ.“ (A 483)

Vor allem die Feigheit und die Faulheit sind es also, die oft der Bemühung um Mündigkeit entgegenstehen.

Mindestens drei Dinge sind hervorhebenswert:

– Einsicht und Mündigkeit kommen nicht schlagartig und umfassend mit der Entdeckung irgendwelcher Geheimnisse. Es handelt sich um einen langwierigen Prozess, der viel Mühe kostet und sich über zahlreiche Stufen vollzieht.

– Außerdem ist zu beachten, dass man sich gegen Traditionen des unfreien Denkens behaupten muss. Überhaupt wird die Tradition in diesem Text Kants vor allem unter negativen Vorzeichen behandelt. Sie behindert Selbstbefreiungsprozesse, belastet mit Autoritäten und verewigt Denkfehler. Auch von der Macht der bevormundenden Tradition muss sich der Mensch der Aufklärung, der mündige Mensch, nach Kants Ansicht also befreien.

Schließlich und drittens kann man an dieser Stelle verdeutlichen, wie sehr Kants Aufklärungs- und Mündigkeitsbegriff formal und nicht inhaltlich definiert ist. Er vermeidet eine inhaltliche Aufzählung von Kriterien der Mündigkeit, zeigt vielmehr nur, wie und gegen was Mündigkeit sich entwickeln lässt. Genauso wird die Aufklärung nur ex negativo bestimmt, eben als Ausgang aus der Unmündigkeit. Das ist ein entscheidender Punkt, der beispielsweise verhindert, dass Kants Theorie zu sehr zeitgebunden bleibt. Hätte er nach damaligem Verständnis das Wissen der Aufklärung und die konkreten Eigenschaften des mündigen Menschen zusammengefasst, dann wäre er möglicherweise ganz im Bannkreis der damaligen Denk- und Lebensverhältnisse verblieben.

So wie auch durchaus fortschrittliche und aufgeklärte Denker der Antike den Sklaven zum Hausrat zählten, so hätte der Verfasser der berühmten Aufklärungsschrift bei der inhaltlichen Definition der Mündigkeit wahrscheinlich Eigenschaften hinzugenommen, die wir heute als unpassend empfinden würden oder Menschen von der Mündigkeit ausgeschlossen, die nach unserem heutigen Dafürhalten nicht ausgeschlossen sein dürfen. Also: die Stärke der Kantischen Theorie liegt hier – wie in vielen anderen Fällen – darin, dass er Denkmöglichkeiten beschreibt, nicht Denkinhalte, Wege zur Mündigkeit und Beschränkungen dieser Mündigkeit, aber nicht die Mündigkeit selbst. Ihm geht es nicht darum, ein Geheimnis zu enthüllen, sondern Menschen fähig zu machen, dieses Geheimnis selbst zu enthüllen. Damit umgeht er auf elegante Weise die Vorurteilsstrukturen der Zeit und die Falle Zöllners, der eine direkte substanzielle Ausfüllung des Aufklärungsbegriffs eingefordert hatte.

Kant weist darauf hin, dass das Mündigkeitskonzept natürlich für Frauen wie für Männer gilt. Gleich zu Beginn seiner Abhandlung beklagt er, dass besonders „das ganze schöne Geschlecht“ sich immer wieder freiwillig unter die Herrschaft von Vormündern stellt.

Man könnte sagen, dass aus heutiger Sicht das alles in sehr sympathischer Weise dem allgemeinen Verständnis, dem „common sense“, entspricht. Die Botschaften lauten: Denke selbst, lass Dir nicht von so genannten Autoritäten etwas vormachen, bestimme Dein Leben und entdecke die Wahrheiten. Wenn sich alle so verhalten, so Kant, dann macht die Menschheit eine gute und richtige Entwicklung durch. Kants Mündigkeits- und Aufklärungsbegriff steht im Mittelpunkt einer optimistischen Geschichtsphilosophie, die von Aufschwung und Fortschritt ausgeht. Dass diese Entwicklung wirklich gut und richtig ist, das lässt sich an einer Formulierung zeigen: “selbst verschuldet”. Es bleibt bei diesem Verschulden zunächst etwas unklar, ob es um ein moralisches Verschulden geht oder einfach um Kausalität. Ist der Mensch zu kritisieren, handelt er unmoralisch oder unsittlich, da er sich in die Unmündigkeit begeben hat? Oder geht es um eine wertfreie Verursachung im Sinne von: Der Mensch hat sich selbst unmündig gemacht. Bewertet wird das zunächst nicht.

Es scheint aber dann doch klar zu sein, dass es etwas Schlechtes ist, was der Mensch hier getan hat; daher ist die Gesamtentwicklung aller Menschen von der Unmündigkeit zur Mündigkeit wohl auch moralisch positiv gewertet.

Gehen wir aber noch einen Schritt zurück, um die Schwierigkeiten besser zu verstehen: Wenn die Entscheidung für die Unmündigkeit eine moralisch schlechte war, dann muss es sich um eine bewusst und eigenverantwortlich getroffene Entscheidung handeln, sonst wäre eine moralische Verurteilung nicht möglich. Moralisch verurteilen können wir nur bewusste Handlungen. Das führt uns aber in einen seltsamen Widerspruch: der Mensch hat sich bewusst für die Unmündigkeit entschieden, aber diese Entscheidung ist im Grunde eine, die alle Eigenschaften einer mündigen und autonomen Handlungsweise hat. Wie kann man die Entscheidung für die Unmündigkeit selbst als Ausdruck der Unmündigkeit behandeln, wenn man sie moralisch werten will? Dieses Problem führt in einen entscheidenden Bereich gesellschaftlicher Ethik.

Es sei auf eine Lösung hingewiesen, die bei Kant nahe liegt. Wir müssen zwischen dem empirischen einzelnen Menschen und dem Menschen als Gattungswesen unterscheiden. Wenn wir den Einzelmenschen ins Auge fassen, dann muss der Aspekt der „Selbstverschuldung“ geringer angesetzt werden als beim Gattungswesen Mensch. Als Einzelner ist der Mensch eben sehr oft nicht daran moralisch schuld, dass er Möglichkeiten der Autonomie und Selbstbestimmung nicht genutzt hat. Vieles steht dem entgegen: wirtschaftliche und soziale Zwänge, Unterschiede in der Herkunft, der Erziehung etc. Diese Unterscheidung zwischen dem Einzelwesen und dem Sozialwesen macht auch plausibel, warum Kant so großen Wert auf die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Vernunftgebrauch legt. Es gilt für ihn:

„(...) der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter den Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern.“ (A 485)

Das ist ja nun etwas eigenartig. Würden wir nicht spontan sagen, es müsse gerade umgekehrt sein? Dass man nämlich für den öffentlichen Austausch eher Begrenzungen und Regeln definiert als für den privaten?

Wir verstehen das besser, wenn wir uns klar machen, dass für Kant die Eigenschaft des Menschen, einen Beruf auszuüben oder irgendeine Rolle mit spezifischen Verantwortlichkeiten zu übernehmen, in den privaten Bereich fällt. Als öffentlicher Mensch in einer Gesellschaft ist der Mensch privater Vernunftgebraucher... Aber was ist dann das Öffentliche? Hier zieht Kant über allen sozialen Rollen und praktischen Notwendigkeiten einer Gesellschaft das Allgemein-Menschliche ein – und das ist nun das wirklich Öffentliche! Öffentlicher Vernunftgebrauch findet statt, wenn wir als Menschen sprechen, nicht als Taxifahrer, Lehrer, Ärzte, Politiker oder Steuerzahler. Kant:

„Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf.“ (A 485)

Allein diese Unterscheidung, sauber durchgeführt und zu Ende gedacht, bringt einen großen Fortschritt für die politische Philosophie der Mündigkeit. Wir können in dem Maße aufgeklärt werden, in dem wir auch neben unsere Rollen treten können und unabhängig von Ihnen – als Menschen – argumentieren. Auch das wirkt nach heutigem Verständnis plausibel und (wenn man das so sagen darf) sympathisch. Wir sind als Menschen nicht einfach auf unsere sozialen Rollen und Funktionen festgelegt, wir sind nicht gefangen in den geistigen, finanziellen oder militärischen Machtverhältnissen, sondern es gibt immer noch die Ebene des Allgemein-Menschlichen darüber, auf der ein Austausch freier Geister stattfindet oder zumindest stattfinden sollte... Allerdings müssen wir in der Rolle auch dieser gerecht werden und gemäß der Rollendefinition handeln. Kant nennt das Beispiel des Militärs – hier ist es dem Soldaten nicht gestattet, während des Dienstes Befehle in Frage zu stellen:

„So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas befohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigerweise nicht verwehrt werden, als Gelehrter, über die Fehler im Kriegsdienste Anmerkungen zu machen, und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen.“ (A 486/487)

Es findet also eine Art Spaltung der Persönlichkeit statt, bei der sich nach Kant Gehorsam, gerne auch preußischer Kadavergehorsam und selbstbewußt-mündiges Räsonnieren nicht im Weg stehen. Der Offizier setzt sich eben nach Feierabend hin und verfasst Texte und Stellungnahmen, ebenso der Geistliche, der Politiker etc. Alle treten, neben oder über ihren sozialen Rollen, in ein großes Gespräch ein. Damit beschreibt Kant die Entstehung des später immer wichtiger werdenden Typus des kritischen Intellektuellen, der gerade dadurch bestimmt ist, dass er neben der konventionellen Rollenverteilung und über sie hinweg für sich eine Wächter- und Kritikerposition reklamiert. Es tritt natürlich die Frage auf, wie die verschiedenen Rollen gegeneinander abgegrenzt werden können und wer für diese Abgrenzung überhaupt zuständig sein kann. Zusätzlich muss man sich fragen, wie realistisch eine solche Rollenteilung überhaupt ist. Psychologisch gesehen, dürfte es äußerst schwierig sein, alle Bedenken auf den Feierabend zu verschieben und ansonsten brav seinen Dienst zu tun, wenn man vom Sinn dieses Dienstes nicht überzeugt ist. Aber auf diese Trennung legt Kant größten Wert, auch damit der Intellektuelle nicht in Loyalitätsprobleme gerät; er soll gleichzeitig funktionierendes Rädchen im Getriebe und als Sandkörnchen kritische Instanz sein. Vielleicht ist hier eine Tragik angelegt, die Kant gar nicht auflösen wollte...

Jedenfalls entsteht so das Publikum, von dem Kant spricht, das in einem permanenten gegenseitigen Aufklärungs- und Belehrungsprozess sich befindet. Wie Reinhold Bernhard Jachmann in seinen zeitgenössischen Erklärungen zu Kants politischen Auffassungen erläuterte:

„Sie wissen, daß Kant als Philosoph und nach der Anwendung seiner Tugend- und Rechtslehre auf die Politik, eine jede Staatsumwälzung unter allen Umständen, selbst unter dem Drucke grausamer Despoten, von Seiten der Untertanen für unrecht erklärte, und daß er die Verbesserung der in einem Lande herrschenden Politik und Staatsverfassung auf dem, freilich langsamern, aber auch sichreren Wege der sittlichen Vervollkommnung aller einzelnen Staatsbürger erreicht wissen wollte.“3

Als Einzelner kann sich der Mensch nicht aus dem Sumpf der geistigen Unfreiheit ziehen, im Austausch geht das durchaus:

„Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausweichlich.“ (A 484)

Diese große Bedeutung des sozialen Austauschs und des nur gemeinsam zu erreichenden Ziels wird auch in seinem Text „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ deutlich. In einer Fußnote heißt es da:

„Die Rolle des Menschen ist also sehr künstlich. Wie es mit den Einwohnern anderer Planeten und ihrer Natur beschaffen sei, wissen wir nicht; wenn wir aber diesen Auftrag der Natur gut ausrichten, so können wir uns wohl schmeicheln, dass wir unter unseren Nachbarn im Weltgebäude einen nicht geringen Rang behaupten dürften. Vielleicht mag bei diesen ein jedes Individuum seine Bestimmung in seinem Leben völlig erreichen. Bei uns ist es anders; nur die Gattung kann dieses hoffen.“ (A 397)

Es ist die Bestimmung der menschlichen Gattung, nach Vollkommenheit zu streben, auch moralisch und in der Organisation des Gemeinwesens.

Kant ist sich dessen bewusst, dass solch ein freier Austausch und Diskurs zur Weiterentwicklung der Menschheit als ganzer nur möglich ist, wo die Machtverhältnisse dies zulassen. Überschwänglich lobt er daher gegen Ende seines Textes den preußischen König Friedrich II., den wir vor allem als „Friedrich den Großen“ kennen. Ihn präsentiert er als Beispiel eines fortschrittlichen Monarchen:

„In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung oder das Jahrhundert Friederichs.“ (A 491)

Friedrich der Große wird nicht nur deshalb besonders hervorgehoben, weil er Kants Souverän und oberster Dienstherr war, sondern weil er aus Kants Sicht die religiöse Bevormundung verhindert hatte. Dies ist nach Kant eine der Hauptvoraussetzungen für eine freie intellektuelle Entwicklung. Er will zeigen, dass bestimmte Behinderungen des freien Austauschs der Gedanken wichtiger sind als andere. Ich will bei der weiteren Erörterung im letzten Teil dieses Beitrags seine Formulierung zum Ausgangspunkt nehmen:

„Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, die des Ausgangs des Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt: weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen; überdem auch jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die entehrendste unter allen ist.“ (A 493)

Die Vernunft soll als Richterin eingesetzt werden, und jede Offenbarungsreligion, die sich ihre kritische Nachfrage verbittet, ist daher als Feindin der Mündigkeit zu sehen. In einem weiteren Text Kants, der für die Mündigkeits-Problematik von Belang ist, nämlich „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ von 1786 wird dieses Lob der Vernunft so formuliert:

„Nehmt an, was Euch nach sorgfältiger und aufrichtiger Prüfung am glaubwürdigsten scheint, es mögen Fakta, es mögen Vernunftgründe sein, nur streitet der Vernunft nicht das, was sie zum höchsten Gut auf Erden macht, nämlich das Vorrecht ab, der letzte Probierstein der Wahrheit zu sein!“ (A 329)

Und zu seiner Zeit bestritt eben vor allem die Kirche diese Stellung der Vernunft. Wir sehen daran, wie sehr sich die Einschätzung der Hauptgefahren für Unabhängigkeit gewandelt hat. Neben die Kirche und oft an ihre Stelle sind heute politische und ökonomische Zwänge getreten, die wir teilweise als sehr viel dringlicher empfinden. Diese Erkenntnis einer doch gewissen Zeitgebundenheit des Kant-Textes soll überleiten zu einigen kritischen Anfragen, die auch in anderen Beiträgen dieses Bandes Beachtung finden.

Zum einen fragt man sich, wer das Fortschreiten der Aufklärung, die Ergebnisse der Befreiung des Menschen aus seiner Unmündigkeit überhaupt beurteilen kann. Kant sagt ausdrücklich, dass man sich die Fähigkeit, frei und unabhängig zu urteilen erst nach und nach aneignet. Es gibt also verschiedenste Zwischenstufen der Autonomie und immer wieder muss kritisch gefragt werden, welche Formen der Mündigkeit man sich bereits erobert hat. Es versteht sich, dass in einer solchen unsicheren Situation Autoritäten neu auftreten, die nun nicht mehr die Freiheit und Mündigkeit des Menschen direkt beschränken wollen, sondern „nur“ die Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten erklären, nach denen man seine Freiheit erwirbt. Diese neuen Gesetzgeber, die natürlich nur das Beste des Menschen im Auge haben, können unter dem Vorwand der Befreiung von Vorurteilen und Beschränkungen unter Umständen ein noch viel rigideres Regime aufrichten. So ist durchaus vorstellbar, dass die Herrschaft des Priesters durch die Herrschaft des Lehrers, des Therapeuten, des Philosophen abgelöst wird. Diese Gefahr thematisiert Kant nur sehr vorsichtig und der Zeitgenosse Johann Georg Hamann (1730–1788) hat deshalb schon darüber gespottet, wie Kant und seine Nachfolger eifrig die Erziehung des Menschengeschlechts in ihre Hand genommen haben. Gerade im Hinblick auf die Kritik Kants an der Religion erstaunt es dann doch, wie schnell aufklärerische Quasi-Priesterschaften entstehen konnten. Berichte über Kant-Feiern, bei denen der Königsberger Philosoph mit den Begriffen beschrieben wurde, die sonst Christus vorbehalten waren, vervollständigen das Bild. Schiller thematisierte diese Gefahr unter dem Aspekt einer Herrschaft des dogmatischen Rationalismus: er befürchtete, es werde „zu einer Unterdrückung, welche sonst die Kirche autorisierte“, künftig „die Philosophie ihren Namen leihen“.4

Und auch heute noch lässt sich in vielen Zusammenhängen zeigen, wie man seine eigene konkrete Herrschaft sichert durch abstrakte Herrschaftskritik. Sigmund Freud hat beispielsweise im Zusammenhang mit der Stellung des Psychoanalytikers zum Patienten darauf hingewiesen, dass die Gefahr einer großen Abhängigkeit besteht, gerade wo der Patient den Analytiker als Befreier von Abhängigkeiten erlebt. Diesen Mechanismus machen sich immer wieder „Menschheitsfreunde“ in Politik und Kultur zunutze, auf die die bekannte Sentenz „Wer 'Menschheit' sagt, der will betrügen“ nur zu gut passt.

Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass die Gewährung von Freiheit in Kants Verständnis einschließt, dass Menschen sich ihrer nicht oder zu zweifelhaften Zwecken bedienen. Was, wenn jemand die Mündigkeit aus freiem Willen und in vollem Bewußtsein ablehnt? Das ist in Zeiten des religiösen Fundamentalismus keine rein akademische Frage. Freiheit, so ist festzuhalten, verwirklicht sich in konkreten Formen und konkreten sozialen, kulturellen und historischen Zusammenhängen. Der Einzelne, der mit diesen konkreten Formen der Freiheit oder besser Befreiung konfrontiert wird, kann im Einzelfall mit guten Argumenten spezifische Formen der Mündigkeit ablehnen. So wird zum Beispiel auch nicht jeder die Freiheiten, die ein ungeregelter Kapitalverkehr ihm bietet, für sinnvoll und gut halten, eingedenk der Gefahren, die sich damit verbinden. Oder so werden sicher einige Menschen die sexuelle Befreiung der 60er und 70er Jahre als bedrohlich, sogar repressiv empfunden haben, da sie sich mit Formen der Ausbeutung, Kommerzialisierung und Zerstörung von Privatheit verbanden, die zuvor unbekannt waren. Auch muss sich vor diesem Hintergrund jeder, der für sich selbst ein aufgeklärtes Bewußtsein reklamiert, kritisch fragen, ob seine Formen der Aufgeklärtheit auch für andere, womöglich für die nächste Generation, noch verbindlich sein können.

Eine andere Frage richtet sich an den geschichtsphilosophischen Optimismus des Immanuel Kant. Gelegentlich diskutiert wurde Kants Behauptung, republikanisch verfasste Staaten seien grundsätzlich weniger kriegsbereit als Monarchien – eine Behauptung, die im nachrevolutionären Frankreich widerlegt wurde und die Kriege der USA nicht erklären kann, also durch die nachfolgende Geschichte obsolet wurde. Genau wie diese These ist auch die Behauptung, es sei im Menschen quasi genetisch angelegt, seine Freiheit zu erwerben und sich notwendig Foren der geistigen Unabhängigkeit zu erwerben, sehr problematisch.

Auch könnte, von Kant aus, aber auch gegen Kant gewendet, problematisiert werden, wie individuelle Aufklärungsgeschichte und allgemeine sich zueinander verhalten. Die Vorstellung, dass der Mündigkeitsstatus des Einzelnen den Grad der Aufklärung einer Gesellschaft widerspiegelt, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch und Kant hätte eine solche einfache Kopplung wohl auch abgelehnt. Aber die eigentümliche Dialektik zwischen individueller und allgemeiner Aufklärung enthält eine Dynamik, die Kant nicht ausreichend in den Blick genommen hat. Es sind nämlich zahlreiche Konstellationen und Situationen nicht nur möglich, sondern auch empirisch aufweisbar, in denen die Mündigkeit des Einzelnen die Unmündigkeit der Gruppe stärkt und umgekehrt. Geschichtlich gesehen haben oft kleine aufgeklärte Eliten ihren Status nur unter der Voraussetzung allgemeiner Unmündigkeit erwerben und erhalten können.

Auch müssen wir uns hier klar machen, welche Konsequenzen es hat, dass Kant den Erwerb von Mündigkeit nicht einfach im Rahmen einer individuellen Lebensgeschichte, sondern als Teil eines historischen Prozesses fasst. So besteht nämlich immer die Gefahr einer Arroganz der Spätergeborenen. Diese könnten ihre „Gnade der späten Geburt“ so verstehen, dass sie von einem insgesamt aufgeklärteren Zeitalter profitieren und auf unaufgeklärte Epochen zurückblicken könnten. Diesem Gefühl davon, „wie herrlich weit man es doch gebracht habe“, schiebt aber Kant einen skeptischen Riegel vor, indem er ausdrücklich betont, das Zeitalter sei noch nicht aufgeklärt, sondern nur in der Aufklärung begriffen:

„Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? So ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ (A 491)

Ein letzter Punkt sei noch genannt: Kant schwebt ein freies Gespräch von Gebildeten vor: wenn die Menschen außerhalb ihrer sozialen Rollen frei und selbstbewusst „räsonnieren“ (wie er das nennt), dann tun sie das notwendigerweise in schriftlicher Form, unter Anerkennung gewisser Diskurs- und Argumentationsregeln. Ausdrücklich spricht er vom „Lesepublikum“. Der ungebildete, des Schreibens nicht mächtige Teil der Menschheit bleibt hier ebenso außen vor wie diejenigen, die schlicht keine Zeit haben, um an den Diskussionen der Gelehrtenrepublik teilzunehmen. Hier muss man ehrlicherweise eine gewisse Verlogenheit ansprechen, die sich auf die Erben Kants übertragen hat: die schweigende Mehrheit ist nicht im Kalkül – und auch bei den Nachfolgern taucht sie höchsten als unbelehrbare Masse oder noch zu erziehender Teil des Volkes auf. Findet sie einmal zu einer Sprache und äußert sie sich – noch ungeschickt und ungefügig –, dann sind die Angehörigen der Kantschen Diskursgemeinschaft schnell mit Häme und Verurteilungen bei der Hand. Das Ekelgefühl der intellektuellen Eliten (gerade auf der sich als besonders aufklärerisch betrachtenden Linken) gegenüber den ungebildeten Massen ist bekannt.

Wenn wir nun die kantische Theorie zur Mündigkeit betrachten, dann können wir meiner Ansicht nach zusammenfassend sagen, dass sie für die Begriffsbestimmung und definitorische Zuspitzung ungeheuer viel geleistet hat. Das Selbstverständnis des autonomen modernen Menschen wurde hier in bleibenden Formulierungen niedergelegt. Aber es geht bei dieser Theorie eben nicht nur um das Individuum, sondern sie ist eindeutig eine Theorie des Sozialen. Als Einzelnem ist es dem Menschen nicht möglich, mündig zu werden; es ist nicht das soziale Atom, der vereinzelte Individualist, auf den hier gesetzt wird, sondern das menschliche Gemeinschaftswesen, dessen – so könnte man sagen – Natur seine Kultur ist. Kant traut diesem Menschen sehr viel zu, vor allem wenn er sich mit den Begrifflichkeiten des kantischen Systems anfreundet.

Ernst Cassirer hat sehr schön beschrieben, dass und wie Kant dem freien Gespräch mehr zutraute als der Diskurslenkung durch einige Meisterdenker:

„... im ganzen aber hielt er an der Überzeugung fest, daß, wenn einmal die Diskussion auf den richtigen Punkt gelenkt sei, sich aus dem Streit der Meinungen der Sinn des kritischen Hauptproblems von selbst immer bestimmter ergeben werde.“5

Wir können dem Optimisten und Menschenfreund Immanuel Kant und seiner begrifflichen Trennschärfe die Treue halten ohne den Ermächtigungsgesetzen für die intellektuellen Nachfolger zustimmen zu müssen.

Auch mit Kant kann man die Aufklärung und die Mündigkeit nicht nur gegen ihre Feinde, sondern auch gegen ihre falschen Freunde verteidigen.

Der mündige Mensch

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