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Die Mobilisierung der Volkswirtschaften für den Krieg
ОглавлениеAls ich die Aufgabe übernahm, über die wirtschaftliche Mobilmachung der großen kriegführenden Mächte im Ersten Weltkrieg zu schreiben, fiel mir ein, daß dies das Thema des ersten Proseminars gewesen war, das ich 1963 in Berkeley mit Studenten im ersten Semester durchgeführt hatte. Ich hatte gerade meine Dissertation beendet, die drei Jahre später mit dem Titel »Army, Industry and Labor in Germany, 1914–1918« veröffentlicht werden sollte.1 Nach Fertigstellung dieser Arbeit war ich ein echter Fachidiot, der das meiste, das er im Studium gelernt hatte, vergessen hatte und unsicher in dem wissenschaftlichen Schützengraben kauerte, in dem er sich in den letzten Jahren verschanzt hatte. Mit dem Proseminar bot sich mir eine Gelegenheit, die Kenntnisse anzubringen, die ich im Übermaß besaß, und mich freier auf dem Terrain zu bewegen, das mir vertraut war. Sein Thema war die komparative nationale Geschichte des Ersten Weltkrieges unter dem Aspekt der Innenpolitik der beteiligten Länder. Ich habe nun freilich nicht vor, für meine Mitarbeit an dem vorliegenden Buch erneut eine nostalgische Reise anzutreten. Vielmehr möchte ich eine Bestandsaufnahme von drei Jahrzehnten historischer Forschung machen und mir über neue Perspektiven klarwerden, wobei diese Forschung und diese Perspektiven zwangsläufig durch wichtige Ereignisse der jüngeren Vergangenheit beeinflußt sind.
Ich möchte dies anhand eines der Bücher deutlich machen, das ich meinen Studenten (und mir) 1963 zur Lektüre empfahl, nämlich Michael T. Florinskis Buch »End of the Russian Empire«.2 Das 1931 erschienene Buch war die Zusammenfassung der zwölf Bände füllenden russischen Beiträge zu der »Social and Economic History of the World War«, das vom Carnegie Endowment for International Peace veröffentlicht wurde. Dieses große Projekt, das Arbeiten über die verschiedenen kriegführenden Nationen enthielt, bleibt eine der wichtigsten und zuwenig genutzten Quellen über den Ersten Weltkrieg. Florinskis Band, der »zu erklären suchte, warum und wie die Monarchie scheiterte und durch eine kommunistische Diktatur ersetzt wurde«, wurde 1961 in einer Paperback-Ausgabe neu herausgegeben, denn, wie Florinski in seinem Vorwort sagte, »angesichts der Stellung der Sowjetunion in der Weltpolitik ist dieses Buch heute vielleicht noch aktueller als in der Zeit, in der es geschrieben wurde«.3 Liest man Florinskis Beschreibung der russischen Kriegsanstrengungen und seine Schlußfolgerung, gewinnt man den Eindruck, eine weitere Neuausgabe könnte abermals aktuell sein:
»Die Ursache der Katastrophe, die über das Zarenreich hereinbrach, läßt sich bis weit in die Geschichte des russischen Volkes zurückverfolgen. Solange von diesem Land nicht verlangt wurde, die ihm durch den Krieg auferlegten heroischen Anstrengungen zu machen, konnte es mit Abstand, aber nicht ohne einen gewissen Erfolg, den anderen europäischen Ländern auf dem Weg der wirtschaftlichen Entwicklung und des Fortschritts folgen. Durch den Ersten Weltkrieg wurde die gesamte Ordnung des Reiches auf eine harte Probe gestellt. Die Überholtheit und Unzulänglichkeit seiner politischen, sozialen und wirtschaftlichen Struktur konnte nicht länger übersehen und vertuscht werden. Nach dem Beispiel Englands, Frankreichs und Deutschlands, die auf die Schläge, die sie erhielten, mit geradezu übermenschlichen Anstrengungen zur Bewältigung dieser Ausnahmesituation reagierten, versuchte auch Rußland, beziehungsweise seine gebildeten Schichten, das Land für den Krieg zu organisieren; doch diese Bemühungen waren unsystematisch, unkoordiniert und in ihrer Hilflosigkeit schon fast mitleiderregend.«4
Die Mobilisierung der russischen Ressourcen für den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg unter dem kommunistischen Regime war zweifellos eine eindrucksvolle Leistung, aber das Ende der Sowjetunion und die derzeitigen Lebensbedingungen in ihren Nachfolgestaaten deuten darauf hin, daß Rußlands sozioökonomische Schwächen und politische Strukturen nach wie vor nicht seinen internationalen Bestrebungen entsprechen und daß es starke Kontinuitätslinien vom zaristischen Rußland bis zur Gegenwart gibt.
Wie aus Florinskis Schlußfolgerung hervorgeht, unternahm auch das Russische Reich Anstrengungen zur Mobilisierung der gesellschaftlichen Ressourcen, eine Aufgabe, die die europäischen Großmächte und schließlich die Vereinigten Staaten ebenfalls auf eine harte Probe stellte. Welche Unterschiede es auch zwischen den kriegführenden Nationen gab – darauf werde ich später eingehen –, sie reagierten alle in gleicher Weise auf die Kriegserfordernisse. Das Ergebnis waren tiefgreifende Veränderungen in allen bedeutenden wirtschaftlichen und sozialen Bereichen, und zwar auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Während es schwierig ist, eine so umfassende kontrafaktische Frage zu beantworten wie die, was geschehen wäre, wenn es den Ersten Weltkrieg nicht gegeben hätte, kann man mit Bestimmtheit sagen, daß das wirtschaftliche und finanzielle Wachstum der Vereinigten Staaten, die Globalisierung der internationalen Wirtschaft, die Verschiebungen im relativen Gewicht der verschiedenen Industriezweige, der Ausbau des Sozialstaats und die Einführung von Tarifverträgen in jedem Fall stattgefunden hätten. Der Krieg veränderte lediglich die Art und Weise, wie diese Prozesse stattfanden, und schuf die Bedingungen, unter denen sie zustande kamen.
Wie ich an anderer Stelle unter spezieller Bezugnahme auf Deutschland dargelegt habe – was sich aber durchaus verallgemeinern läßt –, brachte der Erste Weltkrieg große Umgestaltungen mit sich, die dazu führten, daß die Geschichte durch neue Kräfteverhältnisse bestimmt und in andere Bahnen gelenkt wurde.5 Damit meine ich jedoch nicht, daß die Ergebnisse in irgendeiner Weise besser waren als das von Frankenstein geschaffene Geschöpf. Nach dem Krieg gab es bei Kritikern, Historikern und anderen Beobachtern lange die starke Tendenz, in der Organisation der Kriegswirtschaft und ihren gesellschaftspolitischen Tendenzen das vielversprechende Modell einer zukünftigen Wirtschaftsordnung zu sehen, die auf Planung, rationeller Organisation sowie auf der Zusammenarbeit zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und dem Staat basieren sollte, und die Fehler und Schwächen der Zwischenkriegszeit als soziale und wirtschaftliche Konsequenzen des Friedens und der Bemühungen um die Wiederherstellung der Vorkriegsordnung zu verstehen. Eine solche Kritik spiegelte die enttäuschten Hoffnungen und Erwartungen von Männern wie Walther Rathenau, Albert Thomas und Etienne Clemental, die die Kriegswirtschaft geplant und organisiert hatten, sowie die Phantasien sozialistischer Theoretiker wie Rudolf Hilferding.
Meiner Ansicht nach ist die Zeit gekommen, um derartige Illusionen aufzugeben und anzuerkennen, daß die Folgen des Friedens die Folgen des Krieges waren. Die gleichen Bedingungen, die eine Rückkehr zur Vorkriegszeit unmöglich machten, machten es auch unmöglich, die Wirtschaft so effektiv wiederaufzubauen, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Basis der kapitalistischen Marktwirtschaft und der internationalen Zusammenarbeit geschah, und wie es auch heute in Mittel- und Osteuropa möglich sein könnte, nachdem die »real existierenden« sozialistischen Systeme zusammengebrochen sind und der Kalte Krieg beendet ist. Das heißt, die wirtschaftliche Mobilmachung im Ersten Weltkrieg war nicht das potentielle Vorspiel zu einer neuen Wirtschaftsordnung, sondern stellte eine massive Störung und Verzerrung der hoffnungsvollen Ansätze dar, die das internationale kapitalistische System vor 1914 enthalten hatte.
Erinnern wir zunächst daran, daß die wirtschaftliche Mobilmachung – von einigen wenigen Fanatikern abgesehen – der Alptraum der Militärs und Staatsmänner der Vorkriegszeit war. Sie waren sich der großen Gefahren eines langen Krieges sehr bewußt, und dies war einer der Gründe für die Illusion von einem kurzen Krieg sowie für die Überzeugung mancher Leute – wie Norman Angell –, daß moderner Industriekapitalismus und große Kriege unvereinbar seien.6 Interessanterweise war es Graf von Schlieffen, der Urheber des berühmten Schlieffen-Plans, der am nachdrücklichsten die Möglichkeit langer Kriege unter modernen Bedingungen verneinte. Er sagte 1909: »Solche Kriege sind aber zu einer Zeit unmöglich, wo die Existenz der Nation auf einen ununterbrochenen Fortgang des Handels und der Industrie begründet ist. […] Eine Ermattungsstrategie läßt sich nicht treiben, wenn der Unterhalt von Millionen den Aufwand von Milliarden erfordert.«7 In letzter Zeit wurde die Auffassung vertreten, Schlieffens Nachfolger, Helmuth von Moltke, hätte einen langen Krieg vorausgesehen und darauf gedrängt, die Wirtschaft besser darauf vorzubereiten. In weiser Voraussicht nahm Moltke die Niederlande von den neutralen Ländern aus, in die die Deutschen einmarschieren sollten, um sicherzustellen, daß Deutschland von holländischen Häfen aus versorgt werden konnte.8 Nichts deutet jedoch darauf hin, daß er oder irgendein anderer Entscheidungsträger in einem der künftigen kriegführenden Staaten die Einbeziehung der zivilen Wirtschaft in die Kriegsanstrengungen gefordert hätte.
Sicherlich gab es wohldurchdachte Bemühungen, einen großen internationalen Konflikt zu vermeiden, und es kommt nicht von ungefähr, daß der Bereich, in dem wichtige Vorbereitungen getroffen wurden – der Währungs- und Finanzbereich –, am wenigsten transparent war; hier konnte die Regierung die Öffentlichkeit am überzeugendsten täuschen, weil sie sich zuerst selbst täuschen mußte. Wie Barry Eichengreen in seinem hervorragenden Buch »Golden Fetters«9 gezeigt hat, hatte die Goldwährung vor 1914 nicht so reibungslos funktioniert und war nicht in dem Maße von London gesteuert worden, wie einige ihrer Bewunderer angenommen hatten, und es ist schwer vorstellbar, daß sich ihre Funktionen im Laufe der Zeit nicht geändert hätten. Gleichwohl sorgte die internationale währungspolitische Zusammenarbeit für ihren Fortbestand, solange diejenigen, die zusammenarbeiteten, nicht beschlossen, sich gegenseitig umzubringen. Zudem war das internationale Währungssystem vor dem Krieg die Klammer, die den internationalen Handel und das inländische Finanzsystem zusammenhielt, wodurch der Handel gefördert und die Regierungen gezwungen wurden, im großen und ganzen nicht über ihre Verhältnisse zu leben. Kurzum, die Goldwährung förderte eine Welt von »handeltreibenden Staaten«, die im Gegensatz zu einer politisch und militärisch rivalisierenden Welt stand.10
Leider waren die atavistischen Tendenzen in der internationalen Ordnung stärker als die fortschrittlichen. Schon vor dem Krieg gerieten die nationalen Finanzsysteme durch das Wettrüsten aus dem Gleichgewicht, was zur Einschränkung ihrer wirtschafts- und handelspolitischen Entwicklungsmöglichkeiten führte. Gold wurde gehortet und Vorkehrungen wurden getroffen, um im Fall eines Krieges die Konvertibilität aufzuheben, die Wechselkurse künstlich aufrechtzuerhalten, Verträge zu brechen und finanzielle Verpflichtungen nicht einzuhalten.11 Merkwürdigerweise ging die Mobilisierung der finanziellen Ressourcen für den Krieg fast zwangsläufig mit Maßnahmen einher, die man als Demobilisierung bezeichnen könnte. Für diese Demobilisierung lieferten die Russen ein besonders verblüffendes Beispiel, indem sie die Prohibition einführten, obwohl das Branntweinmonopol die wichtigste Einkommensquelle des Staates war. Das einzige, was dadurch verringert wurde, waren die Einnahmen des Staates, der gezwungen war, massenhaft Geld zu drucken, das jedoch – genau wie der in Millionen von Haushalten illegal gebrannte Schnaps – um so weniger Befriedigung verschaffte, je mehr verbraucht wurde.12 Abgesehen von der Abhängigkeit des russischen Staates von der Branntweinsteuer, unterschied sich Rußlands Finanzgebaren jedoch nicht allzusehr von dem der Kontinentalmächte, die mehr auf Kriegsanleihen als auf Steuern zurückgriffen, um die wachsenden Kriegskosten zu finanzieren. Rußland hatte, wie Frankreich, Zugang zu Krediten von seinen reicheren Verbündeten, zuerst Großbritannien und dann die Vereinigten Staaten, doch der größte Teil der Kosten wurde durch Kriegsanleihen und durch die Notenpresse gedeckt. Österreich-Ungarn konnte bis zu einem gewissen Grad Geld von Deutschland leihen, aber Deutschland konnte bei niemandem Geld leihen und wurde das berühmteste Beispiel für ein großes Land, das beschloß, den Krieg mit inländischen Kriegsanleihen und nicht mit Steuern zu finanzieren.13
Die Kampagnen für die Zeichnung von Kriegsanleihen in Deutschland und anderen Ländern stellen – vor allem unter dem Gesichtspunkt der Propaganda – einen wichtigen und bislang nicht ausreichend untersuchten Aspekt der Mobilisierung der inneren Kräfte für den Krieg dar. Ich möchte allerdings noch einmal auf die Grenzen der finanziellen Mobilmachung und auf die tiefgreifenden Folgen der Kriegskosten hinweisen. Sowohl den Deutschen als auch den Franzosen widerstrebte es, ihre Bürger zu besteuern, und sie versprachen, die Kriegskosten nach dem Sieg dem Feind aufzubürden, ohne zu erklären, wie die Entschädigungen beziehungsweise Reparationen bezahlt werden sollten, wenn man, was sowohl die Alliierten als auch die Mittelmächte 1917 vorhatten, nach dem Krieg einen Wirtschaftskrieg gegen seine ehemaligen Feinde führen wollte. Die Briten waren wohl am erfolgreichsten bei der Finanzierung ihres Krieges durch Steuern. Sie hatten, wie Theodore Balderston zutreffend dargelegt hat, Banken, die daran gewöhnt und bereit waren, dem Staat Geld zu leihen.14 Das bedeutete freilich nicht, daß die besitzenden Schichten in Großbritannien oder in anderen Ländern bereit gewesen wären, diese kriegsbedingte Besteuerung von Einkommen und Gewinnen auch nach dem Krieg weiter hinzunehmen. Die Mobilisierung der finanziellen Ressourcen fand in einer nationalen Notstandssituation statt, die allgemeiner Erwartung zufolge nach dem Krieg enden würde. Sie fand andererseits aber auch in einer Situation statt, in der die Unternehmer die abzusehenden hohen Kosten der Rückkehr zur Friedensproduktion und der Wiederherstellung ihrer Marktposition vorwegnahmen – ein Umstand, der von sozial gesonnenen Historikern zu wenig ernst genommen wird – und in der die unteren Schichten Erwartungen entwickelt hatten, die wenig Rücksicht auf die Notwendigkeit nahmen, den Wert der Währungen wiederherzustellen und die nationalen und internationalen Wirtschaftsstrukturen wiederaufzubauen. Dazu Barry Eichengreen:
»Durch den Krieg veränderte sich das Verständnis von steuerlicher Belastung und Einkommensverteilung. Nach dem Waffenstillstand forderten die Wohlhabenden die Abschaffung der neuen Einkommenssteuern und die Zurückführung der alten auf das Vorkriegsniveau. Dagegen verlangten die Vertreter der Arbeiterschaft, unerwartete Gewinne und Kapitalzuwächse der Betreiber und Besitzer von kriegswichtigen Industriezweigen durch Abgaben abzuschöpfen. Jeder Versuch, das Steuersystem der Vorkriegszeit wiederherzustellen, wurde durch neue Ansprüche an die staatlichen Finanzen erschwert. Ein Land, das Helden hervorgebracht hatte, brauchte großzügige Pensionen für Kriegsveteranen, ein gutes Gesundheitssystem, Arbeitslosenunterstützung und Wohnungsbeihilfen. Es mußten zusätzliche Einnahmequellen gefunden werden. Die Frage war, ob man sich dabei an den Vorkriegspraktiken oder an während des Krieges entwickelten Instrumenten orientieren sollte. Dies war die strittigste Frage, vor der die Regierungen in der Nachkriegszeit standen.«15
Eine Antwort darauf hätte jedoch vor dem Hintergrund einer grundlegenden Veränderung der internationalen Finanzbeziehungen gefunden werden müssen, die mehrere Ursachen hatte: die Kriegsschulden der Alliierten, Reparationen, Währungsabwertungen und Inflation und schließlich der Aufstieg der Vereinigten Staaten, die noch nie die Rolle eines internationalen Gläubigers und finanziellen Rettungsankers gespielt und kaum eine Ahnung von internationaler Wirtschaftskooperation hatten, zu einem Gläubigerland. Schlieffen und Norman Angell mögen sich geirrt haben, als sie annahmen, entwickelte Industriegesellschaften könnten keine langen Kriege führen, doch sie hatten recht mit der Annahme, daß sie sich solche Kriege eigentlich nicht leisten konnten. – Nach diesen Ausführungen über die Mobilisierung der finanziellen Ressourcen, die mit einem Abbau der für das Vorkriegsregime der Goldwährung kennzeichnenden Finanz- und Steuerdisziplin einherging, möchte ich auf die Mobilisierung der sogenannten Realwirtschaft eingehen.
Die Mobilisierung der Realwirtschaft hat zwei Aspekte, die zwar miteinander verbunden sind, jedoch getrennt untersucht werden sollten. Der eine ist der Einsatz der Industrie für die Kriegsproduktion. Der andere ist das Problem der Versorgung der Menschen in Kriegszeiten, also das Problem, die lebensnotwendigen Güter bereitzustellen und den Lebensstandard der Zivilbevölkerung aufrechtzuerhalten. Aus verschiedenen Gründen – unter anderem deswegen, weil ich mich am gründlichsten mit Deutschland beschäftigt habe – halte ich es für hilfreich, Deutschland in beiden Bereichen als idealtypisch zu betrachten. Deutschland, gegen das eine Blockade verhängt war und das der am höchsten entwickelte Industriestaat Europas war, hatte schon in der Anfangsphase des Krieges beträchtliche Versorgungsschwierigkeiten. Es mußte eine Rohstoffbewirtschaftung einführen, und es entwickelte Organisationsstrukturen, die für andere kriegführende Länder zum Vorbild wurden. Gleichzeitig gab es in Deutschland Konflikte wegen der Bewirtschaftungsmaßnahmen, die auch in anderen Ländern Parallelen hatten. Die mit dem relativ langsamen Übergang Deutschlands zur »totalen Mobilmachung« verbundenen Probleme wurden hier deutlicher angesprochen als anderswo. Dies lag zum Teil daran, daß Deutschland eine hochorganisierte Gesellschaft mit einer starken zivilen und militärischen Bürokratie, mächtigen Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden, großen Gewerkschaften und bedeutsamen korporatistischen Traditionen war. Gleichzeitig war das kaiserliche Deutschland eine seltsame Mischung aus Liberalismus und Autoritarismus, ein konstitutioneller Staat mit wachsenden Tendenzen zum Parlamentarismus und einer starken Opposition, die sich jeder politischen und gesellschaftlichen Liberalisierung entgegenstemmte. Es hatte eine Tradition der Selbstverwaltung durch wirtschaftliche Interessengruppen, die auf einer Kombination von liberalen Wirtschaftsprinzipien und staatlicher Unterstützung der Schlüsselsektoren basierte. Es verfügte über ein Sozialsystem, in dem sich staatliche Eingriffe mit organisierter Mitbestimmung von unten verbanden. Deutschland war ein Land, das mehr als irgendein Land in Europa das Beste aus dem internationalen Wirtschaftssystem der Vorkriegszeit gemacht hatte und dessen Wohlstand aufs höchste gefährdet war, wenn dieses System durcheinandergeriet. Zugleich war es jedoch das Land, dessen Militär- und Außenpolitik am meisten zur Destabilisierung der internationalen Beziehungen beigetragen hatte. Die wirtschaftliche Mobilmachung bedrohte die fragilen Gleichgewichte, auf denen das Kaiserreich und seine Errungenschaften beruhten, so daß es nicht überrascht, daß über viele mit der wirtschaftlichen Mobilisierung verbundene Fragen in Deutschland widersprüchlich diskutiert wurde.
Der Widerstand der zivilen und militärischen Bürokratie gegen die Mobilisierung der wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen für den Krieg ist folglich nicht als ein Zeichen von Zurückgebliebenheit, sondern als eine instinktive systemerhaltende Reaktion auf die Gefahren einer solchen Mobilisierung zu verstehen. Die notwendigen Initiativen mußten daher von Kräften außerhalb der Bürokratie kommen. Die bekannteste war der Vorschlag von Walther Rathenau und Wichard von Moellendorff, beim preußischen Kriegsministerium eine Rohstoffabteilung einzurichten, in der die Industrie in eigener Verantwortung für die Beschaffung und Verteilung der knappen Rohstoffe entsprechend den von den Militärbehörden gesetzten Prioritäten sorgen sollte.16 Dieses Organisationsmodell wurde von anderen kriegführenden Nationen, einschließlich der Vereinigten Staaten, weitgehend übernommen, und Rathenau und Moellendorff sahen in ihm einen Prototyp für die Neuordnung der Wirtschaft nach dem Krieg. Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, daß die meisten deutschen Unternehmen von diesen Ideen gar nicht begeistert waren. Sie nahmen sie hin, weil der Krieg sie notwendig machte, wehrten sich im Laufe des Krieges aber immer vehementer gegen ihre Weiterführung. Die Befürworter eines Kriegssozialismus à la Rathenau und Moellendorff waren selten in Wirtschaftskreisen, sondern eher unter jungen Technokraten, Wissenschaftlern und Sozialisten anzutreffen, die die Gelegenheit ergriffen, um ihre abstrakten Ideale zu konkretisieren.
Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis ein weiterer Versuch zur Organisation der Kriegswirtschaft unternommen wurde. Das deutsche Kriegsministerium, das für die wirtschaftliche Mobilmachung verantwortlich war, verfolgte einen äußerst konservativen Kurs, obwohl die Anforderungen an die Kriegsproduktion wuchsen und die Notwendigkeit bestand, Facharbeiter vom Militärdienst freizustellen und Arbeiter von der Front anzufordern. Ausgerechnet das liberale Großbritannien spielte durch die Schaffung des Kriegsministeriums im Jahre 1915 eine Vorreiterrolle bei der Organisation der Kriegswirtschaft. Der Schein kann allerdings trügen. Die deutsche Armee war eine Armee von Wehrpflichtigen, und obwohl das Kriegsministerium, weil es mit einem kurzen Krieg rechnete, zu viele Arbeiter einberief, die an der Heimatfront gebraucht wurden, war dies ein Fehler, den das Ministerium korrigieren konnte. In Großbritannien gingen die Arbeiter freiwillig zum Militär, und erst als 1916 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde, konnte man zu einem koordinierten Einsatz der Arbeitskräfte übergehen. Was das deutsche Kriegsministerium anstrebte und was sich letztlich als unmöglich erwies, war die möglichst lange Kontrolle über die finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des unerwartet langen Krieges. Anstelle einer militärisch-industriellen Kooperation gab es folglich ein Spannungsverhältnis zwischen Militär und Industrie: Das Kriegsministerium wollte verhindern, daß zu viele Arbeiter vom Militärdienst freigestellt oder von der Front zurückgeschickt wurden; durch eine Dämpfung der Nachfrage und eine Begrenzung der Gewinne wollte es die Belastungen für die Wirtschaft verringern und die Kosten eindämmen; die Moral der Arbeiter sollte dadurch hochgehalten werden, daß die Arbeitgeber daran gehindert wurden, ihre Arbeiter auszubeuten, und daß gemeinsame Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Ausschüsse und Vertreter der Gewerkschaften in Konfliktfällen vermittelten, um eine größere Verschiebung des Machtgleichgewichts zu verhindern. Diese gemäßigte Politik hatte die Unterstützung der Politiker, die sich der sozialpolitischen Gefahren eines Krieges, der zu einem totalen werden sollte, bewußt waren.17
Mit den großen Materialschlachten an der Somme im Sommer 1916 und der Berufung des Militaristen Erich Ludendorff und seines fanatischen Beraters Major (später Oberstleutnant) Max Bauer in die Oberste Heeresleitung fand diese Mäßigung ein Ende. Jetzt kam es zu einer umfassenden Mobilisierung der Volkswirtschaft, die von den Industriellen beeinflußt und organisiert wurde, welche ihre Betriebskapazitäten voll ausnutzen wollten und einen großen Bedarf an Arbeitskräften hatten. Im Militär kamen Leute zum Zuge, die hart durchgriffen, um mit dem aufzuräumen, was sie bürokratische Schlamperei nannten, und technokratische Träumer wie Moellendorff kaltstellten, die glaubten, die Krise könnte genutzt werden, um ihre Pläne für eine Rationalisierung der Wirtschaft zu verwirklichen und eine Wirtschaftsordnung zu schaffen, die auf der Selbstverwaltung der Wirtschaft bei gleichzeitigen Staatseingriffen basieren sollte. Das Ergebnis der neuen Politik waren erstens das Hindenburg-Programm, das eine gewaltige Steigerung der Rüstungsproduktion vorsah und die Wirtschaft ins Chaos stürzte, weil es Kohleknappheit, Transportprobleme und zunehmende Inflation hervorrief; zweitens die Lenkung der Kriegswirtschaft durch das neugeschaffene Kriegsamt, das von wohlmeinenden und fähigen Leuten geführt wurde, letztlich jedoch die bürokratischen Probleme verschärfte; und drittens das Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst, das die Bevölkerung für die Kriegsanstrengungen mobilisieren und die Fluktuation der Arbeitskräfte kontrollieren sollte, das aber von bestimmten Interessengruppen benutzt wurde, um Kriegsgewinne und Lohnerhöhungen zu erzielen, wodurch die Fluktuation mehr gefördert als eingeschränkt wurde. Das Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst wurde häufig als die Magna Charta der organisierten Arbeitnehmerschaft in Deutschland betrachtet, was gewiß nicht im Sinne der Obersten Heeresleitung oder der Industriellen war. Interessanterweise waren Frauen entgegen den Wünschen der Obersten Heeresleitung von diesem Gesetz ausgeschlossen, weil die zivilen Behörden zu Recht argumentierten, daß diejenigen Frauen, die arbeitsfähig waren, bereits arbeiteten und in die Rüstungsindustrie gegangen waren.
Daß sich die Oberste Heeresleitung und die Industriellen nicht auf der ganzen Linie durchsetzen konnten und die Arbeiterschaft Erfolge erzielte, hat naheliegende Gründe. Gibt es in einem Land keine totalitäre Diktatur, ist es unmöglich, die Zivilbevölkerung zu mobilisieren, ohne ihr eine Entschädigung in Form von Privilegien, mehr Rechten und Versprechungen für die Zukunft zu gewähren. Dies war besonders in Deutschland während des Ersten Weltkrieges der Fall, als die Unterstützung der Sozialisten für den Krieg anerkannt werden mußte und als die Blockade eine Kleidungs- und Lebensmittelknappheit schuf, die die Unzufriedenheit der Bevölkerung verstärkte und bei den Arbeitern zu höheren Ansprüchen und Forderungen führte. Die Bewältigung beziehungsweise Nichtbewältigung dieser Versorgungsprobleme hatte tiefgreifende soziale Folgen. Sämtliche Regulierungen in bezug auf Produktion, Preisgestaltung und Verteilung, die in den ersten beiden Kriegsjahren eingeführt wurden und die sogenannte Zwangswirtschaft bildeten, waren darauf ausgerichtet, die städtischen Arbeiter gegenüber den Bauern und Einzelhändlern zu bevorzugen. Die letzteren trugen die Hauptlast des »Konsumentensozialismus«, eines Systems von endlosen Vorschriften, deren Nichteinhaltung Konfiszierungen, Gerichtsverfahren, Bußgelder und sogar Gefängnisstrafen nach sich ziehen konnte. Da die Regierung immer behauptet hatte, den sogenannten Mittelstand, also die Bauern, Einzelhändler und Handwerker, zu fördern, waren diese über ihren plötzlichen Niedergang um so verbitterter.
Letztlich aber funktionierte das System nicht: erstens wegen des absoluten Lebensmittelmangels und zweitens, weil eine übermäßige Regulierung und unzureichende Preisanreize das förderten, was sie, wie man weiß, stets fördern: Schwarzmarkt und Inflation. Das Ergebnis war eine regelrechte Kriminalisierung der deutschen Gesellschaft sowie das Entstehen einer tiefen Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Arbeitern und Bauern, zwischen Mittelstand und Arbeitern sowie zwischen Mittelstand und Oberschicht. Bis Ende 1917 hatten die Regulierung und die Mobilisierung der Wirtschaft einen gewaltigen Umschwung in großen Segmenten der deutschen Gesellschaft herbeigeführt. Industrielle, Kaufleute, Handwerker und Bauern lehnten die wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen vehement ab und führten öffentliche Veranstaltungen und Demonstrationen gegen deren geplante Fortsetzung in Friedenszeiten durch. Gleichzeitig führte der Zusammenbruch der Versorgung bei den Arbeitern zu Desillusionierung und schwindendem Vertrauen in die Bürokratie. Diese Probleme und die allgemeine Kriegsmüdigkeit riefen die Streikwellen von 1917 und 1918 hervor. Wenn das deutsche Volk überhaupt so lange durchhielt, dann nur deswegen, weil es über die militärische Lage nicht informiert war und weiterhin an die Möglichkeit eines militärischen Sieges glaubte. Andererseits aber ebneten am Ende des Krieges die Unzufriedenheit mit der Bürokratie und das abnehmende Vertrauen in die Regierung den Weg für ein durch die Inflation gefördertes Bündnis zwischen der regulierten Industrie und der Arbeitnehmerschaft.
Soviel zum deutschen »Modell«. Wie sah es bei den anderen kriegführenden Nationen aus? Die Versorgungsfrage läßt sich am leichtesten abhandeln, und sie ist wohl am ausschlaggebendsten für das relative Gelingen oder Mißlingen der wirtschaftlichen Mobilmachung. Das österreichische System der Nahrungsmittelbeschaffung ähnelte dem deutschen sowohl in seiner Organisation als auch in seinen Ergebnissen. Die österreichisch-ungarische Monarchie hätte theoretisch besser versorgt sein sollen als ihr Verbündeter, doch die Ungarn weigerten sich, ihren Partner zu versorgen, und durch die feindliche Besetzung anderer Getreidegebiete, durch Einberufungen und die Requirierung von Pferden und Futtermitteln verschlechterte sich die Versorgungslage erheblich. Österreichs zunehmende Nutzlosigkeit als Verbündeter und das Interesse der Regierung an einem Separatfrieden hatten zweifellos etwas mit dieser Situation zu tun.18 Organisationsfehler und zunehmende Spannungen zwischen Stadt und Land wirkten sich auch auf die Versorgungslage in Rußland aus, wenngleich die Gesamtsituation dort eine andere war. Wie die Deutschen und die Österreicher wollten die Russen ihre wirtschaftlichen Kriegsanstrengungen durch die Einrichtung spezieller Beiräte für nationale Verteidigung, Transportwesen, Brennstoffe und Lebensmittelversorgung im Sommer 1915 bündeln. Anscheinend wurden genügend Nahrungsmittel produziert, und viele Bauern profitierten zunächst insofern von dem Krieg, als die massive Einberufung im landwirtschaftlichen Bereich ihnen das Überleben ermöglichte. Im Gegensatz zu den Armeen der Mittelmächte hatte jedoch die russische Armee unter Entbehrungen zu leiden. In den russischen Versorgungsschwierigkeiten kamen mehrere Dinge zum Ausdruck: die industrielle Rückständigkeit Rußlands, ein mangelhaftes Transportsystem sowie das Fehlen ausreichender Industriegüter zur Versorgung der ländlichen Bevölkerung; hinzu kam, daß die Bauern immer weniger bereit waren, Papiergeld für ihre Produkte zu akzeptieren, daß sie zunehmend in eine dumpfe Selbstversorgungsmentalität verfielen und sich feindselig von anderen sozialen Schichten abgrenzten.19
Dieser kurze Überblick über die Versorgungsprobleme in Mittel- und Osteuropa beleuchtet schlaglichtartig die großen Vorteile der Alliierten. Das extremste Beispiel ist, wie Jay Winter aufgezeigt hat, Großbritannien, das Zugang zu Lebensmitteln aus dem Ausland hatte und die heimische Produktion mit Hilfe von Preis- und Lohnanreizen steigerte. Bemerkenswerterweise wurde aber eine Rationierung von Lebensmitteln erst 1918 eingeführt. Als sich die Versorgung mit Lebensmitteln schließlich doch verschlechterte und die Mahlzeiten aufgrund anderer Zutaten weniger schmackhaft wurden – was beim englischen Essen schwer vorstellbar ist –, war die Ursache dafür der enge Zusammenhang zwischen der Mobilisierung von Arbeitskräften und der Versorgungslage. Die Anwerbung von zuvor schlechter bezahlten Arbeitern für die Rüstungsindustrie, um die an die Front gegangenen Facharbeiter zu ersetzen, sowie die Bereitschaft der Regierung, die Löhne mit der Inflation steigen zu lassen, führte zu einer allgemeinen Erhöhung des Lebensstandards. In Deutschland führte die Inflation zwar zu einer Erhöhung der Einkommen der unteren Lohngruppen, senkte aber den allgemeinen Lebensstandard, was in Großbritannien nicht der Fall war. Die Versorgung war, im Gegensatz zur britischen Wirtschaft, der große Schwachpunkt der deutschen Kriegswirtschaft. Wenn ich auch nicht so weit gehen würde wie Winter, der meint, »der Krieg hätte durchaus anders ausgehen können«, wenn die Deutschen auf diesem Gebiet Erfolg gehabt hätten, würde ich mich der Feststellung anschließen, daß es in der deutschen Bevölkerung »wesentlich mehr Entbehrungen, Belastungen, Verzweiflung und eine stärkere Verschlechterung des Gesundheitszustands [gab]. Sie bezahlte einen Preis, den die britische Zivilbevölkerung für die Kriegsanstrengungen ihres Landes nie zu bezahlen hatte.«20 Auch Frankreich stand im Vergleich zu Deutschland wesentlich besser da, weil es eine starke Landwirtschaft und Zugang zu Importen hatte. Dort begann die Rationierung von Nahrungsmitteln ebenfalls nicht vor 1917, und sie wurde erst 1918 allgemein durchgesetzt, als den Bauern, die insgesamt vom Krieg profitierten, Preisanreize gegeben wurden. Die Bauern waren zwar sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien als »Kriegsgewinnler« verschrien, und zwar vor allem, wenn es Engpässe gab oder die Menschen Schlange stehen mußten, doch die Feindschaft zwischen Stadt und Land, die es in Mittel- und Osteuropa gab, war eine Erfahrung, die den westlichen Alliierten erspart blieb.21
Aus alledem geht hervor, daß ausreichende Nahrungsmittel ein großer Vorteil der westlichen Alliierten waren und daß ein einigermaßen liberales Versorgungssystem effizienter war als die dirigistische wirtschaftliche Mobilmachung. Allerdings war die Produktion von Waffen und Munition keineswegs unwichtig, und es stellt sich die Frage, in welchem Maße das deutsche Modell von anderen kriegführenden Staaten nachgeahmt wurde.
Eine erfolgreiche Fortsetzung der Kriegsanstrengungen hing zum Teil von der freiwilligen oder erzwungenen Zusammenarbeit zwischen Industrie und Arbeiterschaft ab. Es war ein Zeichen für Rußlands Rückständigkeit, aber auch für das in der Vorkriegszeit aufgekommene Streben nach wirtschaftlicher Modernisierung, daß liberal eingestellte Industrielle im Sommer 1915 die Initiative zur Gründung von Ausschüssen in der Rüstungsindustrie ergriffen und sich um eine Zusammenarbeit mit den Arbeitern bemühten. Im Mai 1916 wurden trotz des heftigen Widerstands der Bolschewisten Arbeitervertreter in 20 regionale und 98 Bezirksausschüsse gewählt. Leider waren die Obstruktionspolitik der Bolschewisten und das reaktionäre Regime, das 1916 an die Macht kam, stärker als die entstehende Zusammenarbeit zwischen Industrie und Arbeiterschaft. Die Arbeitervertreter wurden Anfang 1917 festgenommen, und wenn es nach der Zarin gegangen wäre, wären die Wirtschaftsvertreter in den Ausschüssen der Rüstungsindustrie ebenfalls verhaftet worden.22
Italien ist ein besonders interessantes Beispiel dafür, daß es trotz der großen Entwicklungsunterschiede bei den kriegführenden Ländern Parallelen gab. Unter den entwickelten Ländern war Italien ein »Nachzügler«; nach seinem Kriegseintritt nahm es rasch die Mobilisierung seiner wirtschaftlichen Ressourcen in Angriff, wobei es sich stark an ausländischen Vorbildern, besonders am britischen Kriegsministerium, orientierte. In der Praxis ähnelte das italienische Modell jedoch am meisten dem außerordentlich repressiven der Österreicher. Einerseits waren die italienischen Sozialisten gegen die Kriegsanstrengungen, so daß man in Italien keineswegs von einem echten Burgfrieden sprechen konnte. Andererseits waren die Arbeitgeber sehr darauf bedacht, die Arbeitnehmerschaft fest an der Kandare zu halten. Infolgedessen setzte das MI, die für die Mobilisierung der Industrie verantwortliche Behörde, auf die Militarisierung der Wirtschaft. Die italienischen Arbeiter wurden wie Zwangsarbeiter behandelt, hatten kein Streikrecht und waren einer militärischen Disziplin unterworfen. Wie in Deutschland und Osterreich lag die industrielle Mobilmachung in den Händen von Militärs, in diesem Fall von General Alfredo Dallolio. Im Gegensatz zum deutschen Kriegsministerium und zum späteren Kriegsamt war das MI, genau wie die entsprechenden Stellen in Osterreich, jedoch ausgesprochen arbeitnehmerfeindlich eingestellt. In den ihm unterstellten Schlichtungsausschüssen saßen keine Vertreter der Arbeiterschaft. Ende 1916 kam Dallolio wie seine Kollegen in Deutschland (einschließlich General Wilhelm Groener) allerdings zu dem Schluß, daß der Arbeitsfrieden nicht durch Repression aufrechtzuerhalten war. Sehr zum Leidwesen der Industriellen und des Generalstabs setzte er sich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und für Lohnerhöhungen zum Ausgleich für die Inflation ein, wobei er die Unternehmer aufforderte, »aus freien Stücken Konzessionen zu machen, bevor Sie dazu gezwungen werden«.23 Vertreter der Gewerkschaften wurden zunehmend herangezogen, um die Inflation in den Griff zu bekommen und die Unzufriedenheit zu dämpfen, die sich besonders nach der Katastrophe von Caporetto ausbreitete. Das Militär wollte eine strikte Unterscheidung von »wirtschaftlichen« und »politischen« Streiks, doch dies war eine künstliche Unterscheidung, da das Hauptziel der Streiks darin bestand, die Regierung zu zwingen, den Unternehmern Konzessionen abzuringen. Letztlich erwarteten sowohl die Arbeiter als auch die Industrie vom Staat Unterstützung für ihre Interessen und Forderungen und wollten nicht durch Zusammenarbeit aus der staatlichen Bevormundung ausbrechen. Was der italienische Historiker Giovanni Procacci »korporative soziale Fragmentierung«24 genannt hat, war das Ergebnis der Kriegswirtschaft. Sie unterschied sich sehr von der korporatistischen Zusammenarbeit, die in Deutschland aus der Kriegswirtschaft entstand und die für die englische Kriegswirtschaft in höherem Maße charakteristisch war als für die französische.
Anders als in Deutschland, Osterreich, Italien und Rußland lag die Mobilisierung der wirtschaftlichen Ressourcen in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten in den Händen von zivilen Behörden, und allen drei Ländern kamen in der entscheidenden Phase des Krieges politische Führungen zugute, die im Auftrag des Volkes regierten und ausgewiesene Demokraten waren. Als die Zeiten rauher wurden, waren harte Maßnahmen, insbesondere gegenüber der Arbeiterschaft, demokratisch legitimiert und wurden stets durch Lohnzugeständnisse an die Arbeiter und die Einbeziehung der Gewerkschaften in die Kriegsanstrengungen gemildert. Besonders große Zugeständnisse an die Arbeiter wurden in England gemacht, wo die Gewerkschaftsrechte fest verankert waren und Verstöße gegen die Arbeitsbestimmungen durch eine Ausdünnung der Personaldecke mehr Entschädigungen und Versprechungen erforderten als in Frankreich, wo die Gewerkschaften schwächer waren. Die wirtschaftliche Mobilmachung unter demokratischen Vorzeichen brachte allerdings mehr Illusionen in bezug auf die Gestaltung der Zukunft als reale gesellschaftliche Veränderungen hervor. Wie Gerd Hardach für Frankreich überzeugend dargelegt hat, blieben durch die Politik von Kriegsminister Albert Thomas die Unternehmergewinne unangetastet, während seine Rhetorik von der Zukunft des Kriegssozialismus und seine Pläne für zukünftige Kontrollen über die Wirtschaft bei der Industrie lediglich den Wunsch weckten, zu den Vorkriegsverhältnissen zurückzukehren. In Großbritannien war die Lage ambivalenter, da Lloyd George seine Reformvorstellungen nie aufgab und einige Unternehmer, wie etwa Sir Alfred Mond, an einer Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften interessiert waren. Gleichwohl wollten die britischen Unternehmer unbedingt zu den Vorkriegsverhältnissen zurückkehren. Auf der gesamten Unternehmerschaft lastete der Zustand des Pfundes sowie die Macht der City. Hier wie anderswo machte man sich 1917/18 zunehmend Gedanken über die Demobilisierung und wünschte den Abbau der Kontrollen und nicht die dauerhafte Einrichtung eines staatlich gelenkten oder eines auf der freiwilligen Zusammenarbeit von Interessengruppen basierenden Korporatismus. So gesehen, stellt die amerikanische »Ausnahmesituation« in bezug auf die wirtschaftliche Mobilmachung – das heißt der Rückgriff auf informelle, temporäre und begrenzte Einrichtungen und Instrumente – weniger eine Ausnahme dar, als es auf den ersten Blick erscheint. In ihr drückten sich die Vorteile großer Entfernung, reicher Ressourcen und eines begrenzten Engagements aus. Dieses Land konnte sich den Luxus erlauben, spät in den Krieg einzutreten und früh deutlich zu machen, daß es keine Verantwortung für seine Folgen zu übernehmen gedachte.25
Am interessantesten an den zwischen 1914 und 1918 unternommenen Kriegsanstrengungen ist folglich nicht, wie sie durchgeführt wurden, sondern welche Folgen und Weichenstellungen sich aus ihnen ergaben.26 Daher ist eine nüchterne Betrachtungsweise angebracht. Die Mobilisierung der finanziellen Ressourcen zerstörte das Vorkriegssystem und führte zu Inflation und Destabilisierung, die den Weg für die Weltwirtschaftskrise bereiteten, deren Bewältigung nicht gelang. Die Zwangswirtschaft in Mittel- und Osteuropa vertiefte die Spannungen zwischen Stadt und Land, verbitterte die Bauern und den unteren Mittelstand, diskreditierte den Staat, förderte den Schwarzmarkt, wurde mit Sozialismus gleichgesetzt, setzte sich in verschiedenen Formen sozialistischer Kommandowirtschaften fort und lebt heute in der Umweltverschmutzung und der Kriminalität weiter, die diese hinterlassen haben. Zwangswirtschaft sollte für verschiedene europäische Länder in diesem Jahrhundert Mangelwirtschaft bedeuten. Die Art und Weise, wie im Ersten Weltkrieg die gesellschaftlichen Ressourcen mobilisiert wurden, hat die wirtschaftliche Mobilmachung für den Zweiten Weltkrieg stark beeinflußt, was aber den Befürwortern des Kriegssozialismus bestimmt nicht vorgeschwebt hatte. Rathenaus und Moellendorffs Ideen haben Lenin beeinflußt, als Sowjetrußland die Neue Ökonomische Politik einführte, doch dies ist ebenso wenig eine Empfehlung wie die Tatsache, daß auch Albert Speer von ihnen beeinflußt war. Mussolini holte 1923 Dallolio zurück, als er sein Amt für die zivile Mobilmachung gründete, und in der faschistischen Arbeitsordnung von 1926 spiegelten sich die während des Krieges praktizierten Zwangsschlichtungen und die Zustimmung Mussolinis zu dieser Praxis wider. Die freiwilligen korporatistischen Regelungen, die nach dem Ersten Weltkrieg häufig deswegen eingeführt wurden, weil man die Erfahrungen der Kriegswirtschaft ablehnte, scheiterten allesamt. Kurz gesagt, ich kann nur wenig Kontinuität oder positive Einflüsse der Kriegswirtschaft erkennen, und ich bezweifele sogar, daß sie positive Möglichkeiten in sich barg. Daher komme ich zu dem Schluß, daß es nicht die Erfahrung der wirtschaftlichen Mobilmachung im Ersten Weltkrieg, sondern die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise war, die nach 1945 den Anstoß zu sozialen und wirtschaftlichen Reformen und zur internationalen Zusammenarbeit gab.
Anmerkungen
1 Gerald D. Feldman, Army, Industry and Labor in Germany, 1914–1918, Princeton 1966, Neuausgabe, New York 1992.
2 Michael T. Florinski, The End of the Russian Empire, New York 1961.
3 Ebenda, vi.
4 Ebenda, S. 246–247.
5 Gerald D. Feldman, The Great Disorder: Economics, Politics, and Society in the German Inflation, 1914–1924, Oxford 1983, S. 25.
6 Norman Angell, The Great Illusion, London 1910.
7 Reichsarchiv [Hg.], Der Weltkrieg 1914–1918, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Berlin 1930, S. 328.
8 Stig Förster hat behauptet, wichtigen Mitgliedern des deutschen Generalstabs sei bewußt gewesen, daß der Krieg lange dauern würde. Siehe den Zeitungsartikel Mit Hurra und vollem Bewußtsein in die Katastrophe: Der Erste Weltkrieg und das Kriegsbild des deutschen Generalstabs, in: Frankfurter Rundschau, 8. September 1994. Ich bin nicht der Meinung, daß die vorgebrachten Argumente die »Illusion vom kurzen Krieg« widerlegen.
9 Barry Eichengreen, Golden Fetters: The Gold Standard and the Great Depression, 1919–1939, Oxford 1991.
10 Richard Rosecrance, Der neue Handelsstaat, Frankfurt am Main 1987.
11 Eichengreen, Golden Fetters, S. 67–74.
12 Florinski, End of the Russian Empire, S. 41–47.
13 Für eine kurze Einführung in die Kriegsfinanzierung in den verschiedenen Ländern siehe Gerd Hardach, Der Erste Weltkrieg, 1914–1918, München 1973, Kap. 6. Eine ausführliche Darstellung des deutschen Systems findet sich bei Feldman, Great Disorder, Kap. 1.
14 Theo Balderston, War Finance and Inflation in Britain and Germany, 1914–1918, in: Economic Review 41, 1989, S. 222–244.
15 Eichengreen, Golden Fetters, S. 77–78.
16 Feldman, Army, S. 46–57.
17 Ebenda, Kap. 2–4, und ders., Great Disorder, Kap. 2.
18 Hardach, Der Erste Weltkrieg, S. 112–123. Zur österreichisch-ungarischen Kriegswirtschaft siehe Robert J. Wegs, Die österreichische Kriegswirtschaft 1914–1918, Wien 1979.
19 Florinski, End of the Russian Empire, S. 35–37, 117–118.
20 Jay M. Winter, The Great War and the British People, London 1985, S. 245.
21 Jean-Jacques Becker, The Great War and the French People, New York 1985, insbes. S. 217–231.
22 Florinski, End of the Russian Empire, S. 127–133.
23 Giovanni Procacci, State Coercion and Worker Solidarity in Italy 1915–1918: The Moral and Political Content of Social Unrest, und Luigi Tomassini, Industrial Mobilization and State Intervention in Italy in the First World War: Effects on Labor Unrest, in: Leopold Haimson und Giulio Sapelli (Hg.), Strikes, Social Conflict and the First World War: An International Perspective, Mailand 1992, S. 145–177, 179–211, Zitat auf S. 157.
24 Ebenda, S. 177.
25 Zu Großbritannien siehe Keith Middlemas, Politics in Industrial Society: The Experience of the British System Since 1911, London 1979, Kap. 3–5, und Noel Whiteside, Concession, Coercion or Cooperation? State Policy and Industrial Unrest in Britain, 1916–1920, in: Haimson und Sapelli, Strikes, Social Conflict and the First World War, S. 107–121. Zu Frankreich siehe insbes. Gerd Hardach, Industrial Mobilization in 1914–1918: Production, Flanning and Ideology, und Alain Hennebicque, Albert Thomas and the War Industries, in: Patrick Friedenson (Hg.), The French Home Front, 1914–1918, Providence 1992, S. 57–132. Zu den Vereinigten Staaten siehe David M. Kennedy, American Political Culture in a Time of Crisis: Mobilization in World War I, in: Hans Jürgen Schröder (Hg.), Confrontation and Cooperation: Germany and the United States in the Era of World War I, 1900–1924 [Historisches Symposium in Krefeld zum Thema Deutschland und die Vereinigten Staaten, Bd. 2], Providence 1993, S. 213–228.
26 Diese Argumente sind in bezug auf Deutschland ausführlicher dargestellt in: Gerald D. Feldman, Der deutsche organisierte Kapitalismus während der Kriegs- und Inflationsjahre 1914–1923, in: Vom Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise. Studien zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1914–1932 [Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 60], Göttingen 1984, S. 36–54, sowie in: War Economy and Controlled Economy: The Discrediting of >Socialism< in Germany during the First World War, in: Schröder, Confrontation and Cooperation, S. 229–252. Für eine komparative Erörterung siehe Gerald D. Feldman, Die Demobilmachung und die Sozialordnung der Zwischenkriegszeit in Europa, in: Geschichte und Gesellschaft 9, Nr. 2, 1983, S. 156–177.