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Unser Kind ist verträumt
— Unser Unterstufenkind ist verträumt und zeigt keinen schulischen Ehrgeiz. Uns ist es aber wichtig, dass es später das Gymnasium besucht – müssen wir uns Sorgen machen? —
Müssen wir uns Sorgen machen, wenn unser Kind in der Primarschule keinen schulischen Ehrgeiz zeigt? – Eine Frage, die noch vor zehn, zwanzig Jahren kaum gestellt worden wäre. Denn damals bangte man nicht wie heute in der Primarschule oder gar schon im Kindergarten darum, ob es das Kind ans Gymnasium schafft.
Die hohen Anforderungen der Arbeitswelt schlagen sich mittlerweile auch im Familienleben nieder. Und das nicht erst, wenn die Kinder in die Oberstufe kommen. Man spüre, so die Lernpsychologin Elena Arici, ganz klar einen Druck in den Familien, ein Druck, der auf Zukunftsängsten basiert.
Ein verträumtes oder chaotisches Kind hat vielleicht grössere Anpassungsschwierigkeiten im Gymnasium – ein Ausdruck von mangelnder Intelligenz ist das aber nicht. Im Gegenteil, unter den befragten Gymnasiasten beziehungsweise deren Eltern fanden sich sogar erstaunlich viele «Träumer».
«Ich war ein grosser Träumer und habe es nun trotzdem ans Gymnasium geschafft. Ich bin im letzten Jahr, stehe also kurz vor der Matura. Als Schüler darf und soll man träumen dürfen. Aber: Man muss lernen, zu welchem Zeitpunkt man sich fokussieren muss und wie man konzentriert arbeitet. Es reicht jedoch, wenn man das dann später lernt, in der Unterstufe ist es noch nicht so wichtig. Ich habe oft vergessen aufzuschreiben, welche Hausaufgaben bis wann zu erledigen sind – und zwar bis über die Primarschule hinaus. Man wird deswegen nicht gleich zum Schulversager …»
M. B., Kurzzeit-Gymnasium, letztes Schuljahr
Dies erzählt der 19-jährige M. B. Seine Matura-Arbeit, ein kurzer Film zu einem gesellschaftskritischen Thema, zeugt von grosser Kreativität und Schaffenskraft – und wurde mit der Bestnote bewertet. Ob sein Träumen in den ersten Jahren ihm dabei vielleicht sogar geholfen hat? Auch andere Eltern kennen das Phänomen des chaotischen Kindes – und wissen: Es geht trotzdem!
«Unser Sohn war ein grosser Träumer und ein Chaot. Es verging kein Tag, an dem er nicht irgendetwas in der Schule oder zu Hause vergass. Seien es Jacken, Hausaufgaben, Schulbücher, das Etui oder gar die ganze Schulmappe. Was ich am Anfang noch niedlich fand, ‹mein Kind, der Träumer›, wurde ab der fünften Klasse zur Belastung. Schafft er es so ans Gymnasium? Hat er schlechtere Vornoten, weil er ständig etwas vergisst und sich darum selbst am Lernen behindert? Sieht ihn deswegen der Lehrer für das Gymnasium wenig geeignet? Oft wünschte ich mir, er wäre wie die verantwortungsbewussten Mädchen in seiner Klasse, die einen sauber aufgeräumten Arbeitsplatz hatten und bestens organisiert waren.
Schliesslich kam die grosse Erlösung. Eine Gymnasiumsvorbereitungslehrerin sagte zu mir: ‹Ihr Kind gehört ans Gymnasium, das spürt man. Und manchmal ist es so, dass gerade die Kinder, die intellektuell das gefragte Niveau mitbringen, Träumer und Chaoten sind.› Man kann sich vorstellen, ich hätte die Lehrerin am liebsten umarmt. Ihre Aussage hat sowohl mich als auch den jungen Träumer darin bestärkt, dass er die Prüfung machen soll. Mit seinem Hang zur Träumerei musste er, um die Prüfung zu bestehen, extra viel arbeiten.»
M. S., Mutter
Das berichtet eine Mutter. Ihr Sohn ist mittlerweile im zweiten Gymnasiumjahr. Noch immer sei er eher ein Träumer, sagt sie. Die Mutter verrät, dass sie sich auch heute noch manchmal Sorgen mache, und sich wünsche, das Kind würde endlich mehr Ordnung halten und mehr Fleiss zeigen.
«Machen Sie sich auf keinen Fall Sorgen, wenn Ihr Kind in der Primarschule ein Träumer ist! Was man sich als Eltern immer in Erinnerung rufen darf: Lernen ist ein lebenslanger Prozess. Wenn jemand in der Schweiz die Matura machen will, kann er das noch sein ganzes Leben lang tun. Es ist nicht nur mit 19, sondern auch noch mit 50 Jahren möglich. Viele Wege führen dahin. Für einige Kinder ist es einfach noch zu früh, sich schon in der Primarschule dem Lerndruck zu ‹beugen›. Dann ist es vielleicht besser, das Kind noch ein wenig weiter träumen zu lassen. Der Ernst des Lebens beginnt früh genug!»
Bettina Marion Ulrich, Lerncoach, Primarlehrerin und Schulleiterin an privaten und öffentlichen Schulen
«Ein verträumtes Primarschulkind kann es später sehr wohl ans Gymnasium schaffen. Ich appelliere hier an die Eltern: Lasst eure Kinder noch Kinder sein! Selbstverständlich ist es wichtig, dass Eltern die Kinder in ihrer Entwicklung, also auch der schulischen, angemessen unterstützen und so zum Beispiel bei den Hausaufgaben Hilfestellung oder Zuspruch leisten und sich für die Schule interessieren. Aber das Kind soll seinen Ideen nachgehen können, kreativ sein und eigene Denk- und Lernwege entdecken. Das heisst, jedes Kind will sich entwickeln und dazu muss es ihm erlaubt sein, ständig eigene Erfahrungen zu machen. Es ist früh genug, wenn man Ende der vierten Klasse, oder auch später, schaut, wo das Kind in der Schule steht und ob es Defizite gibt, die man allenfalls aufarbeiten muss.
Wir stellen immer wieder fest, dass es kontraproduktiv ist, wenn Kinder schulisch zu früh gepusht werden, weil Eltern oder Lehrpersonen das Gefühl haben, das Kind schöpfe sein Potenzial nicht aus, und dann Druck ausüben. Hingegen ist es auch wissenschaftlich erwiesen, dass Neugierde, ein gesundes Selbstbild und ein gesundes Selbstvertrauen der Motor von Lernprozessen sind. So wie Kreativität und ein spielerischer Umgang mit verschiedenen Materien. Mit diesem Rüstzeug fällt dem Kind der Zugang zu systemischen Lernprozessen leichter – die es zum Beispiel in der Mathe braucht.
Das Kind muss wissen, dass es unabhängig von allem ein ‹gutes Kind› ist. Und dass es intelligent sein kann, auch wenn die Leistungen in der Schule nicht immer stimmen oder noch nicht stimmen.
Biografien berühmter Leute zeigen, dass man auch mit Dyskalkulie oder einer Lese-Rechtschreib-Schwäche etwas erreichen und die nächsthöhere Schulstufe meistern kann.»
Ursina Pajarola, Pädagogin, Unternehmensleitung Lernstudio Zürich
Für Lutz Jäncke, Neurowissenschaftler, ist klar: Das kindliche Hirn ist mit zwölf Jahren noch gar nicht reif, um selbstorganisiert zu arbeiten. Das Interview mit ihm dazu findet sich am Ende des ersten Teils. Und auch Psychologin und Lerncoach Elena Arici teilt diese Meinung, weiss aber, dass man chaotische Kinder dazu bringen kann, sich selbst besser zu organisieren. Sie ist überzeugt: Jedes Träumer-Kind kann mit Unterstützung strukturiertes Arbeiten erlernen. Ihre Tipps dazu später im Buch (Seite 136).
Tipps
— Lernen ist ein lebenslanger Prozess, Ihr Kind muss nicht schon in der Primarschule höchste Lerneffizienz zeigen.
— Lassen Sie Ihr Kind träumen, der «Ernst des Lebens» beginnt früh genug.
— Es gibt Kinder, die erst in der Oberstufe oder im Erwachsenenleben einen Zugang zum schulischen Lernen finden und Freude daran entwickeln.
— Kinder, die verträumt und chaotisch sind, sind nicht weniger intelligent, aber sie müssen sich eine Matura härter erarbeiten.
— Wichtige Pfeiler für den Schulerfolg sind Selbstorganisation und richtige Lerntechniken (siehe Seite 136).