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Im Schein der Wintersonne

22. Februar 1944

Die Piloten und Besatzungen der die kleine Stadt am Nordrand des Harzgebirges anfliegenden B17-Bomber der 8. US-Air Force hatten an jenem 22. Februar des Jahres 1944 – einem sonnigen, wolkenlosen Wintertag – eine herrliche Sicht auf die schwarzen Harzwälder, den leuchtenden Gipfel des Brockens und auf die vor ihnen auftauchenden Umrisse einer menschlichen Siedlung – ihr „target of opportunity“.

Zu diesem Augenblick stand er auf dem Balkon des großväterlichen Hauses in Wernigerode am Harz – über sich den von Kondensstreifen zerfurchten Himmel – sein Blick von oben in die Weite der nördlichen Tiefebene und auf die Altstadt unten im Tal – Straßen und Dächer mit einer leichten Schneedecke im Schein der Wintersonne – für viele Stadt-Bewohner werden das die letzten Augenblicke und Minuten ihres Lebens sein.

Seit die Stadt Wernigerode zur Lazarettstadt deklariert und einige Dächer mit dem „Roten Kreuz“ gekennzeichnet worden waren, wähnte man sich in trügerischer Sicherheit. Auch die letzte der Sirenen hatte zu dieser Mittagsstunde gegen 14 Uhr im Konzert aller Sirenen schon längst ihr Entwarnungsgeheul absinken und langsam verklingen lassen.

Aufgeschreckt durch das plötzlich in diese Stille einbrechende Dröhnen von Flugzeugmotoren nahm er ein metallisches Aufblitzen am Himmel wahr, in Sekundenbruchteilen gefolgt von einem pfeifenden, dann fauchenden Geräusch, dem Donnerschlag einer Detonation und dem augenblicklich über der Altstadt aufsteigenden Rauchpilz. Das Haus des Großvaters erbebte in seinen Grundfesten. In Panik war er die Treppen hinuntergestürzt in den Keller. Er verharrte dort regungslos wie betäubt im Stillstand. Der Zehnjährige wusste nicht, wie ihm geschehen war. Der äußersten Beschleunigung, in der die Schockmomente des anschwellenden Dröhnens, des blendenden Blitzes, des grellen Pfeifens, des sich dem ganzen Körper mitteilenden Bebens der Detonation, der augenblicklich atmosphärischen Verdüsterung durch den sich aufblähenden Rauchpilz aufeinander folgten, war sein Wahrnehmungsvermögen nicht gewachsen: Sein Hirn wiederholte ihm das Sekundengeschehen in der quälenden Dehnung eines Zeitlupenfilms – und legte eine tiefe Gedächtnisspur. Erst nach und nach, als die Betäubung wich und die Wiederholung ausblieb, gelang es ihm, die einzelnen Schockmomente in die Momente eines zusammenhängenden Geschehens zu übersetzen: Offenbar waren gegen alle Erwartung in der Entwarnungszeit aus heiterem Himmel Flugzeuge über der Stadt erschienen, deren metallische Körper es waren, die im Lichte der Wintersonne kurz aufblitzten, während gleichzeitig die metallische Bombenlast pfeifend und fauchend niederging und die Explosionen jenen Rauchpilz aufsteigen ließen, der einen schon nicht mehr heiteren Himmel, der seine Unschuld längst verloren hatte, vollends verdüsterte.

Durch die geöffnete Kellertür starrte er auf die dichte Rauchdecke, die jetzt über der Stadt lag. In seiner Vorstellung musste alles Leben unter dieser Decke erstickt sein, die Stadt in Schutt und Asche versunken sein. Er empfand keine Angst. Die Plötzlichkeit und die rasende Geschwindigkeit der Gewalteinwirkung ließen irgendwelchen Angst-Gefühlen keine Zeit. Nur ein kurzfristiges Zittern, das seinen Körper wie einen Fieberschauer erfasste, vermittelte dem Zehnjährigen ein noch undeutliches Gefühl hautnahen Bedrohtseins, der Schutzlosigkeit gegenüber einer übermächtigen Gewalt. Er erfuhr – ohne sich dessen bewusst zu sein – eine tiefer gehende Erschütterung seines Urvertrauens in eine immerwährende Geborgenheit. Gerade die Kellerräume des großväterlichen Hauses hatten für ihn, die Mutter und seine Brüder, in den vorangehenden Jahren der nächtlichen Fliegeralarme und der bedrohlichen Überflüge die Bedeutung von Flucht- und Schutzhöhlen angenommen; so versteckten und verkrochen sie sich unten in der Kellerhöhle, während oben tausend Lancaster-Bomber über Haus und Stadt hinwegflogen. Das Stunden andauernde, an- und abschwellende, mal dumpfe, mal heulende Dröhnen einer Masse von Flugzeugmotoren setzte alles in Vibration und löste in ihm quälende Angstgefühle aus, die er bis zu diesen Nächten nicht gekannt hatte.

Jetzt, während dieser Minuten von 14:02 bis 14:04 des 22. Februar 1944, schien es, als habe der Schock alle Angstgefühle in einem Punkt der Exaltation gerafft und konzentriert – und als habe diese Exaltation die Angst in ihm ausgebrannt wie ein Geschwür. Er fühlte sich auf irgendeine Weise ins Freie geworfen. Rechenschaft darüber, was in ihm vorging, konnte sich der Zehnjährige nicht geben. Erst Jahrzehnte später sollte sich offenbaren, dass die Ausbrennung Wunden hinterlassen hatte. In Alpträumen erschien das Geschehen des 22. Februar in einer fremden Landschaft.

Man rief nach ihm, und er erwachte aus seinem Stillstand, verließ den Keller und ging noch einmal mit dem Großvater auf den Balkon; sie blickten auf die unter Qualm und Rauch verschwundene Stadt hinunter. Zu diesem Zeitpunkt hatte das kleine US-Geschwader von 19 B17-Bombern die nördlichen Harzränder längst in Richtung auf die nordwestlich gelegenen Flugbasen in Südengland überflogen. Die Piloten konnten Anfang 1944 schon davon ausgehen, unbehelligt von deutschen Abwehrjägern ihre Flughäfen zu erreichen. Ihren offiziellen Auftrag im Rahmen der sog. „Big Week“ – eines Großangriffs auf Zentren der deutschen Luftrüstungsindustrie – hatten sie mit der Bombardierung der Wernigeröder Altstadt verfehlt; die Rautal-Zulieferwerke und ein kleinerer Junkers-Zweitbetrieb an der Peripherie wurden nicht getroffen. Dem präzisen Ausklinken der Bomben über dem Altstadt-Zentrum fallen 191 Zivilpersonen zum Opfer: in diesem Fall eher zufällig als „target of opportunity“. Die Wahrnehmung der jugendlichen US-Piloten und Bombenschützen war wesentlich gerichtet auf das, was ihnen die Ziel-Koordinaten und die Navigations-Instrumente vorgaben; jetzt wollen sie vor allem nur noch zurück zu ihrem Ausgangs-Flughafen. Der von ihnen verursachte Tod von 191 Menschen ereignete sich für sie wahrnehmungslos, bewusstlos als technischer Vollzug aus großer Ferne.

An einem der nächsten Tage nach dem Angriff kommt er auf seinem Schulweg an der Turnhalle des Lyzeums vorbei, wo die 191 Toten des 22. Februar aufgebahrt liegen: für den Schüler eine bedrückend hohe Zahl, gemessen an den Hekatomben in Lagern und an Fronten eine verschwindend geringe.

Die Stadt geriet in der Zeit nach dem Angriff in Panik. Schon während des einsetzenden Geheuls der Alarmsirenen flüchteten Massen von Frauen, Alten und Kindern durch die Straßen, um die fürstlichen Felsenkeller an den Berghängen zu erreichen. Nur einmal hatte er mit seiner Mutter, den jüngeren Brüdern und der Großmutter in einem dieser nasskalten Felsenkeller die Zeit des Alarms abgesessen.

Die Tagesalarme nahmen 1944 ständig zu. Bomberströme zogen geschützt von eigenen P51-Mustang-Jägern ungehindert ihre Bahn am Himmel. Während der Alarme blieb er jetzt mit seinem Großvater im Haus; mit dem Fernglas beobachteten sie im Garten das verzweifelte Drama des letzten Gefechts, wenn sich vereinzelte deutsche Kamikaze-Jäger wie Raubvögel auf ihre Beute stürzten.

Er fühlte sich von jeder Angst befreit; er fühlte sich dem Großvater ebenbürtig; er war stolz, nicht mehr mit den Frauen und den Brüdern in den Felsenkeller ziehen zu müssen. Er hatte eine Grenze überschritten. Später wurde ihm bewusst, dass er nicht mehr zurückkonnte. Es war der Weg zurück in das Reich der Kindheit, der ihm ein für alle Mal verlegt war. In dem Augenblick, zu dem die Stadt in Schutt und Asche versank, versank auch das Land seiner Kindheit.

Stillstände

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