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Endspiele

11. und 12. April 1945

Wenn man diesen Nachmittag im April des Jahren 1945 – zumindest für jene kurze Zeitspanne zwischen 12 und halb 3 Uhr mittags am elften Tag des Monats – als einen strahlenden und leuchtenden Frühlingstag wie jeden anderen Tag im April beschreiben wollte, verfehlte man seine Einzigartigkeit: die besondere atmosphärische Aufladung, die in der Luft lag und sich augenblicklich auf jene Menschen, die sich gerade vor ihrem Haus zur Kaffeestunde niedergelassen hatten, übertrug wie auf Elemente eines elektrischen Feldes. Was sie jetzt wahrnahmen aber war eine ungewohnte Stille, die in ihnen kurzfristig Erinnerungen an längst vergangene Friedenszeiten wachriefen, in denen „der Frühling sein blaues Band durch die lauen Lüfte flattern ließ.“

Diese Stille aber, die plötzlich herrschte, verhängte einen Ausnahmezustand völligen Stillstandes. Kein Lüftchen wehte am Himmel, um blaue Bänder flattern zu lassen, nur die Spuren der weißen Kondensstreifen, die die Bomberflotten der Vortage hinterlassen hatten, hingen wie gefroren am Himmel. Verstummt war das Heulen der Alarmsirenen; gewöhnt an ihr tägliches Geheul und an das Gedröhn der Liberator- und Boeing-Fortress-Bomber musste den jetzt vor dem Haus in der Sonne Sitzenden die trügerische Ruhe als nicht geheuer vorkommen; sie barg neue Schrecken, noch unbekanntes Unheil. Die da auf den Korbstühlen saßen, waren sich der außergewöhnlichen Schwebe-Situation nicht bewusst; sie befanden sich in einer leeren Gegenwart, ohne ihr Wissen schon in einer Art Niemandsland. In der Unheimlichkeit der Stille schlug sich nieder, was sich, von ihnen unbemerkt, gleichzeitig außerhalb ihres Gesichtskreises ereignete. Gerade jetzt, in diesem Augenblick während sie Kaffee tranken, stand ihre Existenz auf dem Spiel: dem zum Kampf-Kommandanten ernannten Wehrmachtsoberst wurde befohlen, die Stadt bis zum Äußersten gegen die anrückenden Amerikaner zu verteidigen. Wenig später entschließt sich der mutige Oberst, den Befehl zu verweigern, während der für sie unsichtbare Vormarsch der 9. US-Armee am nördlichen Rand der „Harzfestung“ längst die Vororte der Stadt erreicht hatte.

Weder der Großvater noch die Großmutter oder seine Mutter, die sich mit ihm zufällig zu diesem Zeitpunkt auf einem Nebenschauplatz des Kriegstheaters befanden, hatten eine Vorstellung davon, dass sie schon längst Komparsen dieses kollektiven Theaters waren; sie wussten nicht, dass sie gerettet waren; sie wussten nicht, dass sie zukünftig aufzutreten hatten als Zeugen einer Katastrophe, von der sie wiederum nicht wussten oder wissen wollten, in welche Tiefe eines moralischen Abgrunds sie hineingerissen werden sollten.

Plötzlich, gegen 2 Uhr mittags, zerriss ein pfeifend-fauchendes Geräusch die verwunschene Stille dieses Apriltages. Die aufgeschreckten Augen des Enkels suchten den stahlblauen Himmel ab; Flugzeuge aber waren nicht zu erblicken. Nach dem unmittelbar folgenden Explosionsknall befahl der Großvater, den Platz vor dem Haus augenblicklich zu verlassen, es sei eindeutig Artillerie-Beschuss. Als Veteran des 1. Weltkrieges musste er es wissen.

„Geht in den Keller!“ Von der geöffneten Tür der Waschküche aus konnten sie eine Reihe von Einschlägen auf dem in einiger Entfernung gegenüberliegenden Schlossberg und am Schloss selbst beobachten. Der Großvater schien nicht allzu beunruhigt; er war der einzige Mann in diesem Haus voller Frauen und Kinder; zwei seiner Töchter waren mit ihren Kindern aus ihren Städten wegen der Bombenangriffe geflohen; eine der Töchter galt als „ausgebombt“ wie man damals sagte – ihr Wohnhaus im sächsischen Merseburg war durch einen Bombenvolltreffer zerstört. Drei Flüchtlingsfrauen kamen mit einem Kind aus dem von den Russen eingeschlossenen Breslau. Es war dieser, 1945 schon 80-jährige Großvater, der den Hitler immer einen Anstreicher nannte – der mit ihm den BBC-Feindsender hörte am leise gestellten Volksempfänger im sog. Musikzimmer. Auf das Abhören dieses Senders stand die Todesstrafe. Es war dieser Großvater, der seinem 11-jährigen Enkel schon einmal verbat, sein Haus mit dem Braunhemd der Jungvolk-Pimpfe zu betreten. Es war dieser kaisertreue Großvater, an dem er vollkommen diffus und unverstanden wahrnahm, dass das, was dieser sagte und tat, auf keine Weise mit dem übereinstimmen konnte, was er in der Schule und bei den Jungvolk-Pimpfen zu hören bekam. Der Großvater wurde irgendwann gegen Ende des Krieges von der politischen Polizei vorgeladen; als er bis zum späten Nachmittag nicht zurückgekommen war, gerieten die Frauen im Haus in helle Aufregung. Es ging um Briefe von ihm, die bei einer offenbar schon verhafteten alten Studienfreundin gefunden worden waren.

Auf dem Gymnasium erteilte ihm ein Studienrat in Schaftstiefeln und SA-Uniform Unterricht in Geschichte. Der 11- bald 12-Jährige konnte die unterschiedlichen Botschaften, die Schule und Großelternhaus aussandten, nicht versöhnen. Seinen gutbürgerlichen Klavierunterricht hatte er bei einem adligen Fräulein, musste ihn aber aufgeben wegen der ständigen Luft-Tagesalarme; bei den Pimpfen grölten sie: „Und heute

gehört uns Deutschland – und morgen die ganze Welt.“ Das Unversöhnliche dieser disparaten Welten tritt noch nicht ins Bewusstsein des Jungen, aber die unbewusst erfahrenen Verstörungen legen eine traumatische Spur.

Jetzt, in diesem Augenblick, zu dem am 11. April 1945 der Artillerie-Beschuss der unheimlichen Stille ein Ende setzt, leitet sich für den Enkel dieses Großvaters der Untergang genau dieser Welt ein, in die er mit seiner Geburt im Jahre 1933 hineingeboren wurde.

Nachdem irgendwo am Stadtrand ein letztes verirrtes Geschoss niedergegangen war, hörten sie das Rasseln von Panzerketten. Auf der Lindenbergstraße, die unterhalb des Hausgartens verlief, konnten sie vom Balkon aus die Panzer-Kolosse sehen, die auf den Deckplatten einen weißen Stern trugen, der die Großmutter zu dem Aufschrei: „Die Russen kommen!“ veranlasste. Der Großvater belehrte sie, dass es die Amerikaner sein müssten. An jenem 11.4. um 14.30 Uhr mitteleuropäischer Zeit war somit für die „bunte Stadt am Harz“ der Untergang des „Tausendjährigen Reiches“ besiegelt. Tatsächlich ereignete sich der Untergang in einer Vielzahl von Untergängen auf ganz unterschiedliche Weise. Anderenorts zur gleichen Zeit schlossen die sowjetischen Armeen gerade ihren Ring um Berlin; der Diktator diktiert im Bunkerverließ sein Testament. Die amerikanischen Panzer rollten friedlich und kampflos durch die Lindenbergstraße in Wernigerode am Harz, als möglicherweise gleichzeitig, wenige Brockenbahnstationen bergaufwärts bei „Drei Annen Hohne“ der Oberst Gustav Petri, der Retter Wernigerodes, wegen Befehlsverweigerung standrechtlich erschossen wurde.

Im Mühlental überrollten die amerikanischen Panzer die vom Volkssturm und von Pimpfen des Deutschen Jungvolks nicht ganz fertiggestellten Panzersperren. Als Pimpf hatte er mitgeschaufelt beim Ausheben von T-Gräben für die Kämpfer mit der Panzerfaust. Der Großvater versuchte am späten Nachmittag dem Volksempfänger einige Laute zu entlocken: vergeblich, der Apparat blieb stumm, und der Brocken erschien in südlicher Richtung in deutlichen Umrissen am Abendhimmel. Das Harzgebirge strahlte jene Ruhe aus, die einem Gebirge aus der erdgeschichtlichen Frühzeit gemäß ist.

Am nächsten Tag, dem 12. April 1945 – ein herrlicher Frühlingstag wie der Vortag –, steht der Enkel an der Schützenwiese, wo die amerikanischen Soldaten ein Zeltlager errichten, und nimmt fremdartige Gerüche wahr, die in Schwaden die Wiese überziehen; es riecht nach Benzin, den Ausdünstungen laufender Motoren, nach Zigarettenrauch; er hört exotische Musikfetzen, die aus den Zelten dringen, und er sieht zum ersten Mal in seinem Leben Jeeps und schwarze Soldaten, von denen einer ihm einen Kaugummi zuwirft, das er – unter den missbilligenden Blicken einer vorüberkommenden Dame der alten untergehenden Welt – neugierig aus dem Silberpapier entfaltet, während zur selben Stunde ein hysterischer Diktator in seinem Berliner Bunker den eben jetzt bekannt gewordenen Tod Roosevelts als Rettungswink des Schicksals sehen will – wie dereinst der Große Friedrich den Tod der russischen Elisabeth im siebenjährigen Endkampf um Schlesien: als das berühmte, rettende „miracle de maison de Brandenbourg“.

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