Читать книгу Vater, Mutter und der Zauber der Kindheit - Gudbergur Bergsson - Страница 8
Der Hausbau geht weiter
ОглавлениеDie Arbeit mit dem Holz, der Innenausbau des Hauses, das uns noch vor Herbst oder Winter aufnehmen sollte, schritt langsam voran, nachdem die Verkleidung des Fachwerks fertiggestellt war und sich abzeichnete, was einmal die Zimmer werden sollten. Mein Vater schien es mehr zu genießen, in Ruhe und Frieden vor sich hin zu werkeln, als daß es ihm gefallen hätte, etwas zum Abschluß zu bringen, um das Werkzeug zur Seite zu legen und anderswo eine Arbeit annehmen zu müssen. Dann entschloß er sich, es in diesem Jahr überhaupt zu lassen.
– Wir kommen schon irgendwie über die Runden, sagte er.
– Wie ich dich kenne, kann ich mir auch kaum etwas anderes vorstellen, sagte der Reeder in Höfn beim Abendessen.
– Das sollte man wohl meinen, stimmte ihm seine Frau zu.
Damit war es beschlossene Sache, daß wir den ganzen Sommer und den Herbst über bleiben würden, bis der Bau vollendet war.
– Die Küche habe ich vor Weihnachten fertig, sagte mein Vater.
– Sie wird bestimmt sehr schön. Ihr werdet es gemütlich haben in dieser ganzen Pracht, schmeichelte die Frau auf Höfn.
– Schleich hier nicht herum und halte Maulaffen feil! sagte Mutter zu mir.
– Der Junge hängt aber auch immer am Rockzipfel seiner Mutter, sagte die Frau des Hauses und meinte, es wäre viel gesünder für mich, an der frischen Luft zu sein.
Ich hörte, daß die anderen Kinder draußen auf der Treppe unanständige Lieder sangen, und ging zu ihnen, um mitzumachen und selbst Unsinn zusammenzureimen. Ich erinnere mich noch ziemlich genau daran; es sollte von der Frau im Nachbarhaus handeln, die uns nie etwas getan hatte.
Die Fresse von Arnarhvóll,
die immer »Mund« sagt,
die stopft ihre Klamotten,
die stopft ihre Kinder.
Sie pinkelt und kackt auf sie
und stopft sie in ihren Pinkelpott.
Die Jungen von Höfn waren sprachlos über meine Dichtkunst, und ihre Schwester bewunderte mich nicht weniger. Obwohl sie den Inhalt verstanden, waren sie keine Literaturwissenschaftler und hatten daher keine Ahnung davon, daß mein Einfallsreichtum in Wahrheit aufgrund meiner insgeheim gärenden Komplexe von den Worten ihrer Mutter ausgelöst worden war. Ich wusch mir meine eigene Mutter mit diesen schmutzigen Versen auf eine anständige Frau ab, die ich sogar bewunderte, weil in ihrem Haus, das in meiner Vorstellung einem Palast glich, die Türdurchbrüche zur guten Stube bogenförmig gewölbt waren und vor ihnen an Stelle von Türen schwere, rote Vorhänge an Ringen hingen, die über eine hölzerne Stange glitten, so daß man sie mit einer raschen Bewegung auf- oder zuziehen konnte, wobei die Ringe eine himmlische Musik erzeugten, die andere einfach als Geschepper bezeichneten. So verschieden waren die Menschen. Es waren auch nicht alle von meinen Versen begeistert. Am wenigsten meine Mutter. Und Vater sagte:
– Das ist ungehobelter Mist. Du mußt dir mehr Mühe geben!
Auch er selbst mußte sich natürlich beim Hausbau Mühe geben, wollte er als tüchtiger – gleichwohl ungelernter – Zimmermann und nicht als Pfuscher oder Hobbytischler angesehen werden. Seine äußerste Sorgfalt führte dazu, daß ein Meister aus Reykjavík, der bemerkt hatte, wie geschickt sich mein Vater anstellte, als er ihm einmal bei der drohenden Überschreitung eines Termins bei Holzarbeiten zur Hand ging – mein Vater war eigentlich zum Zementgießen angestellt –, ihm schon vor Jahren eigens ein Zeugnis ausstellte und ihn ermunterte, einen gültigen Gesellenbrief zu beantragen. Nun tat er es und bekam binnen kurzem eine Urkunde aus gehändigt, die er in einen schwarzen Rahmen faßte. Doch wartete er damit, sie an die Wand zu hängen, bis er das Geld für eine geblümte Tapete zusammenhatte. Auf dem Bogen hinter Glas stand in schwarzen, schmalen und leicht geneigten Lettern Handwerksbrief. Dann folgte der Text.
Das Dokument erteilte ihm die Genehmigung, »zu privaten Zwecken in einer Werkstatt ein Handwerk auszuüben, gemäß Gesetz Nr. 18 vom 31. Mai 1927«.
Zuunterst aber stand der ebenso klare wie niederträchtige Satz: »Erteilt gemäß Ausnahmeregelung für außerhalb der Stadt Ansässige bis zum 1. Juli ’37.«
Dieser sogenannte Handwerksbrief war mit ansehnlichen obrigkeitlichen Schnörkeln vom amtierenden Sýslumann in Hafnarfjörđur am 28.Juni 1937 unterzeichnet. Dementsprechend hatte man meinem Vater nicht gerade besonders viel Zeit für sein Zimmermannsgewerbe eingeräumt. Lediglich drei Tage, sofern es sich nicht um einen Schreibfehler oder eine Achtlosigkeit von seiten des Beamten handelte, weil er an diesem Morgen schlecht gelaunt oder betrunken zum Dienst erschienen war und weder Ort noch Datum, geschweige denn die Jahreszahl korrekt einsetzen konnte.
In Island waren Vergehen der Obrigkeit gegen das einfache Volk immer etwas Selbstverständliches. Man hielt das für lustig oder für ein willkommenes Gesprächsthema, mit dem sich die Opfer in der ewig sich wiederholenden Ereignislosigkeit des Alltags die Zeit vertreiben konnten. Auf diese Weise wurde den Machthabern nachgesehen, in Ausübung ihrer Amtsgeschäfte jegliche Art von Verstößen mit der Begründung zu begehen, sie seien ihnen nicht aus Bosheit oder Dummheit, sondern lediglich im Zustand der Trunkenheit unterlaufen, der Machtmißbrauch sei nur aufgrund eines Versehens oder eines Schreibfehlers von Untergebenen erfolgt. Trunksucht entschuldigt alles in einer Gesellschaft, in der Kollektivschuld und die bequeme Ansicht herrschen, niemand sei besser als andere. Nichtsdestoweniger wird den Menschen in dieser Gesellschaft unterschiedlich viel Respekt entgegengebracht. Doch es reicht allemal, Klagen von sich zu weisen, indem man behauptet: Ich war voll. Ich kann mich an nichts erinnern. Meine Gedächtnislücken machen mich unschuldig.
Das Versehen in diesem Fall konnte also willentlich zustande gekommen, ein durchaus üblicher Scherz des Beamten oder eine Gemeinheit gegenüber einem »außerhalb der Stadt Ansässigen« gewesen sein oder sich auch nur der Interpretation des Satzes »Den Menschen freut der Mensch« verdanken, derzufolge eine Amtsperson einen Niedriggestellten in ihrem Büro zum Spielzeug der Langeweile machen darf.
Damals und eigentlich auch heute noch bereitet es der Kultur- und Machtelite große Freude, das Land außerhalb Reykjavíks als Steppe endloser Plackerei oder Weidegrund von hirnlosen Idioten anzusehen, die so dumm sind, daß sie nicht einmal Verstand genug besitzen, in die Hauptstadt zu ziehen.
Wie dem auch sei, habe ich den Verdacht, daß meinem Vater der »Irrtum« voll und ganz entgangen ist und der hinterhältige Scherz damit sein Ziel verfehlte. Das einfache Volk ist so gestrickt, daß es nicht einmal dann etwas richtigzustellen versucht, wenn es sich vermeiden läßt. Ein Arbeiter hat für so etwas keine Zeit. Mit Juristen hat das einfache Volk gemein, auf dem Feld der Gerechtigkeit faul und nachlässig zu sein.
Mit der Urkunde verwandelte sich mein Vater im Lauf der Zeit von einem Seemann in offenen Booten zu einem Zimmermann, und er genoß den Wandel, denn es war doch ein beträchtlicher Unterschied, mit Fisch im Meer zu tun zu haben oder an Land mit den Händen über trockenes, warmes Holz zu streichen. Gleichwohl dauerte es viele Jahre, ehe er sich von seinen Vbrgesetzten und dem Meer trennen konnte und an seine Berufung als Zimmermann zu glauben begann. Nach wie vor fuhr er im Winter zur See, zimmerte und reparierte im Frühjahr, verdingte sich im Sommer als Erntearbeiter bei den Bauern und machte im Herbst die Kartoffeln aus, so daß er dem Staatlichen Gemüsehandel regelmäßig drei Sack Kartoffeln und einen mit Rüben verkaufen konnte, um so das Familieneinkommen zu sichern.
Der Handwerksbrief sollte ihm eigentlich die Berechtigung verleihen, für seine Zimmermannsarbeit ebenso viel Geld verlangen zu können wie ein Meister, doch das wollte er nicht.
– Warum nicht? fragte ich ihn einmal.
– Dann hätte ich höhere Bezahlung nehmen müssen, als arme Leute aufbringen können, und deshalb wollte ich lieber Geselle als Meister sein und auf keinen Fall das Handwerk ordnungsgemäß lernen. Ausgelernt zu sein hätte mich dazu verpflichtet, ungerecht zu sein, antwortete er. Ich war ungelernt ein ebenso guter Zimmermann wie gelernt, doch ungelernt war ich gerechter.
– Damit hast du also die Gerechtigkeit vor dem Recht gewählt.
– Ich habe gar nichts gewählt, gab er zurück. Es kam mir nur natürlich vor, die Dinge so zu handhaben.
Das alles stimmte vollkommen mit jenem vernunftbestimmten Denken überein, das sich meine Eltern fast instinktiv angeeignet zu haben schienen und das so weit ging, daß mein Vater uns jedes Jahr zu Weihnachten am Heiligen Abend mit einem Geschenk, Geld in einem Umschlag, zu einem seiner ehemaligen Kapitäne schickte, obwohl der keine größere Familie zu versorgen und gewiß höhere Einkünfte hatte als er, doch mit Geld nicht umgehen konnte oder wollte und sich dauernd darüber beklagte.
Ich fand diese Besuche am Heiligen Abend kurz vor sechs, ehe das Fest begann, sehr eigenartig. Die Kinder des Kapitäns hatten schon ihre Geschenke eingesammelt und wollten nicht länger auf die »richtige Bescherung« warten, der Boden war überall mit Weihnachtstinnef bedeckt, und es wurde mehr Aufwand getrieben als bei uns zu Hause.
Ich hatte stets den Eindruck, es klagen immer nur die, die ohnehin schon vermögend genug und in einer Position sind, das Gejammer in ihren Vorteil ummünzen zu können. Sie klagen entweder aus psychologischen Gründen oder um daran zu verdienen. Die hingegen, die allen Grund haben zu klagen, beklagen sich gerade nicht, weil sie nichts dafür bekommen und nie bekommen haben, nicht einmal die Möglichkeit, zu klagen oder ihre Klage zu Gehör zu bringen und damit in klingende Münze zu verwandeln.
– Warum hast du eigentlich deinem Vorgesetzten alljährlich etwas zu Weihnachten geschenkt? fragte ich.
– Um sicherzugehen, ihn nicht schon im Februar mit seinem Gejammer am Hals zu haben. Es war eine solche Zeitvergeudung bei der Arbeit, ihm zuhören zu müssen. Und auch, damit ich nicht schon vor März Mitleid mit seinem Gewinsel haben mußte. Vor allem der Frau und den Kindern zuliebe habe ich immer reichlich gegeben, antwortete mein Vater.
– Elend hat man sich meist selbst zuzuschreiben, und es ist gewöhnlich eine selbstgebastelte Hölle, sagte meine Mutter.
Da ich diese Einstellung geerbt habe, konnte ich nie Menschen leiden, die mit Gejammer durchs Leben kommen, nicht einmal Künstler. Fast alle Gegenwartskunst verdankt sich nämlich nicht künstlerischen Fähigkeiten, sondern der mit Fleiß betriebenen unablässigen Bettelei, die für die meisten eine selbstverständliche Sache ist, dem Künstler aber nur kurzfristig auf Kosten derer weiterhilft, die für Kunst weder Interesse noch eine Ahnung von ihr haben. Früher einmal hat der Künstler wie ein einsamer Löwe gebrüllt, heutzutage stimmt er in das Geheul der Menge ein und bekommt dafür ein bemutterndes Lob und einen Tritt in den Hintern.
Das Haus wurde gewissermaßen zu einem Spielzeug, zu etwas, das man eine persönliche Schöpfung nennen könnte, zu einem Werk, das langsam und mit größter Sorgfalt um eine werdende Familie errichtet wurde. Nichts war deshalb wahrscheinlicher, als daß mein Vater die Arbeit daran niemals vollständig beenden würde, ebensowenig wie ein Künstler jemals die Arbeit an einem Kunstwerk abschließt. Er gibt es – in buchstäblicher wie übertragener Bedeutung – lediglich aus der Hand. Eines schönen Tages hat er genug davon und stellt jede sorgfältige Arbeit daran ein; er sagt sich von ihm los und hat zukünftig kein Interesse mehr an dem, was einmal sein Hauptanliegen war. Von dem Moment an wird es zu einer traurigen Erinnerung irgendwo in seinem Bewußtsein.
Auf die gleiche Weise beendete mein Vater die Arbeiten am Haus erst sechzig Jahre nachdem er sie begonnen hatte und als er sich von Reykjanes lossagte und nach Snæfellsnes heimkehrte. Die ganze Zeit über war er im Süden ein Fremder geblieben. In seinem Exil war er nirgends zu Hause, außer in seinem Pflichtgefühl und in seiner Arbeit.
Ich glaube, ich habe dieses Seelenleben nach und nach verstanden auf dem Weg, den die Umstände, ich selbst, mein Wille und mein Leben durch mich zurücklegten, während ich reflektierend versuchte, mich selbst kennenzulernen. Ich glaube, was andere von mir halten und sagen, ist mir herzlich gleichgültig, aber ich will mir nicht selbst sagen müssen: Du hast den gleichen üblichen Weg der Lebenslügen bis zu deinem Tod durchgehalten wie die meisten.
Auf der Suche stieß ich rasch auf meinen Vater; er befand sich an verschiedenen Punkten und in unterschiedlicher Gestalt in mir. In meinem inneren Gepäck fand ich auch Unzähliges, was ich früher an meiner Mutter wahrgenommen hatte. Ich fühlte meine Vorfahren in mir und hatte mehr als einen starken Verdacht, daß man in dem Erinnerungsvermögen, das nur das Fleisch besitzt, und in der Art seiner Leidenschaften das meiste anderen verdankt, jenen vielen, die im Lauf der Zeit kamen und gingen und doch weiterleben in meiner Arbeitsweise und in meiner Vorliebe, wie ich an das Denken und an die Dinge in Form und Inhalt herangehe, in ihrer Leere wie in ihrer Fülle, wie ich versuche, dem Umgang mit den Dingen einen höheren Sinn zu verleihen; denn sie haben an sich oder überhaupt keinen Sinn außer dem, daß man mit ihrer Hilfe irgendwie durchs Leben kommt – und dieses Irgendwie habe ich nach Kräften vermieden.
Während ich im Altersheim meinem Vater zuhörte, fragte ich mein Inneres: Ist man denn überhaupt ein Selbst, sosehr man sich auch bemüht, allein und ohne fremde Hilfe eines zu sein?
Da kam mir plötzlich eine kleine, vielleicht unwesentliche Episode ins Gedächtnis, die sich zugetragen hatte, als Vater noch damit beschäftigt war, den Rohbau des Hauses zu vollenden. Ich hatte sie vergessen, so daß sie höchstens indirekt Bedeutung hatte, bis sie mir wieder einfiel. Da verstand ich sie auf meine Weise, legte ihr einen Sinn bei und erinnerte mich an die damaligen Worte meines Vaters. Mir wurde irgendwie deutlich, welchen Einfallsreichtum und welche Fähigkeiten man braucht, um sich klarmachen zu können, welch große Möglichkeiten einem die einfachsten Dinge in die Hand legen können und wie wir aufgrund menschlicher Schwächen in unserem Denken Gelegenheiten auslassen. Wenn wir sie unser Tun bestimmen lassen, kann der Erfolg am Ende gegen null tendieren.
– Ist dann das Unmenschliche für den Erfolg am besten?
– In manchen Bereichen schon, antwortete mein Vater.
– In welchen?
– Zum Beispiel in Fragen der Macht.
Wenn man einmal eine Gelegenheit verpaßt hat, steht man wieder an der gleichen Stelle wie vorher, ehe die eigene Phantasie erwachte oder sich etwas, das sich vorher bei anderen befand, durch Zauberkraft bei einem selbst einstellte.
In dem betreffenden Fall war der Zauberstab ein Geschenk meines Vaters, das er uns mit Bedacht überreichte.