Читать книгу Mister Miracle - Der fantastische Lebensberater - Gudrun Anders, Katja Driemel - Страница 6
Alfons, der Märchenerzähler
ОглавлениеEines Tages im Sommer war Mister Miracle an seinem geliebten See. Nachdem er eine Weile nur hinein geschaut und meditiert hatte, verspürte er den Wunsch nach einer kühlen Erfrischung. Und was eignete sich da besser als die glatte Weite seines Lieblingssees?
Normalerweise war Mister Miracle in diesem Teil der Welt allein. Nur sehr selten kamen andere Menschen vorbei. Und so beschloss er, einfach seine Kleidung am Ufer des Sees liegen zu lassen und eine Runde im Wasser zu schwimmen.
Mit weit ausholenden Armbewegungen schwamm er fast bis in die Mitte des Sees und freute sich über die Kühlung, die das Nass ihm brachte. Er tauchte unter, schwamm dann eine Weile auf dem Rücken oder ließ sich einfach von den seichten Wogen des Wassers hin und her schaukeln. Er genoss das Bad in vollen Zügen und vergaß förmlich die Welt um sich herum. An seine Kleidung hatte er keinen Gedanken mehr verschwendet.
Dann sah er sich plötzlich – einem inneren Impuls folgend – nach seinem Lieblingsplatz am Ufer um. Gut konnte er in weiter Ferne die Silhouette der Stadt ausmachen und so wusste er, in welcher Richtung sein persönliches Uferstück war.
Plötzlich nahm er Bewegungen am Ufer wahr und fragte sich, wer wohl der Besucher dort sein mochte. So schwamm er in Richtung Land und sah einen alten Mann mit einem langen, weißen Bart am Ufer stehen. Aber so ganz glauben, was er sah, konnte er nicht, denn der Mann bediente sich gerade seiner Sachen und warf dafür seine alten Klamotten an den Strand.
Ein kleines bisschen verstimmt schwamm Miracle an Land. „Guten Tag, der Herr“, sprach er den Alten an, der inzwischen im Sand Platz genommen hatte und eine Unschuldsmine aufsetzte.
„Tach“, murmelte der zahnlose Alte kaum hörbar und blickte zu Boden, so als wollte er die Sandkörnchen zählen.
„Darf ich fragen, warum ihr mein Gewand um die Schultern habt?“, meinte Miracle dann und streifte sich die Nässe vom Körper und schüttelte sein weises Haupt, damit das Wasser aus den Haaren entweichen konnte.
„Ich tauschte meine Klamotten mit euch, Herr“, sagte der Alte und setzte hinzu „wenn‘s recht ist“.
„Nein, ist es nicht“, antwortete Miracle noch immer freundlich, während er den schillernden Mantel des Mannes vom Boden aufhob und näher betrachtete. Das Kleidungsstück sah aus wie ein richtiger Zaubermantel und er konnte sich sehr gut vorstellen, dass der Alte mit diesem Mantel um die Schultern aussah wie ein alter Märchenerzähler. So fügte er hinzu: „Dein Mantel ist doch toll. Warum willst du ihn denn nicht mehr tragen? Ist etwas daran?“
„Ich bin es so leid, so sehr leid! Tagaus – tagein trage ich diesen Mantel nun schon, weil die Leute mich darin sehen wollen. Dann soll ich Ihnen Märchen und Weisheiten aus alten Zeiten erzählen. Und dann fragen die Menschen und fragen und fragen. Und seit so, so vielen Jahren erzähle ich von den Weisheiten, die von Mensch zu Mensch weitergegeben werden und erzähle die Geschichten von den tapferen Kriegern und den Prinzessinnen, die mit ihrer Liebe ganze Dörfer und Städte vor dem Untergang retteten.“ Er seufzte tief und ließ in einem sehr, sehr langen Atemzug all den Stress aus sich heraus fließen.
„Ich bin müde, Herr. Ich mag nicht mehr erzählen. Ich kenne meine Geschichten auswendig und will sie nicht mehr erzählen.“
„Ich kann dich gut verstehen, Erzähler. Wie ist dein Name?“
„Ich bin Alfons, der Märchenerzähler aus Steinebach.“ Er überlegte einen Moment während er zu Boden blickte. „Der ehemalige Märchenerzähler aus Steinebach.“ Das Wort „ehemalige“ schrie er dabei fast heraus.
„Was genau willst du denn jetzt tun?“, fragte Miracle nach einer stillen Minute, in der beide Männer einfach ihren Gedanken nachhingen und die warme Sommersonne den Körper des Einsiedlers trocknete.
Alfons aus Steinbach kräuselte seine Lippen und sah Miracle unverwandt aber sehr, sehr traurig an. „Wir tauschen einfach. Ich nehme dein Gewand und du meines – und jeder probiert einfach einmal etwas vollkommen Neues.“ Kaum sprach er das aus, leuchteten seine Augen. Die Idee schien ihm wirklich Spaß zu machen.
Mister Miracle sah einen Augenblick auf den noch immer ruhigen See hinaus. Am anderen Ufer machte sich gerade die Sonne auf und davon, zumindest sah es so aus, als wenn sie tiefer sank und von der Silhouette des Waldes langsam verschluckt wurde.
„Kann eine Schlange in die Haut der anderen schlüpfen?“, fragte Miracle statt eine Antwort zu geben.
„Nein, natürlich nicht! Wo denkst du hin!“ Alfons, der Märchenerzähler, lachte. „Eine Schlange ist doch froh, wenn Sie ihre Haut losgeworden ist. Da zieht die doch keine neue Haut an!“
„Und genau so wenig können wir einfach unsere Mäntel tauschen“, meinte Miracle sanft. „Ich wüsste doch auch gar nicht, wie man Märchen erzählt. Und wahrscheinlich kannst du auch noch zaubern – das kann ich auch nicht! Es wäre sichtlich besser, wenn alles so bleibt, wie es ist.“ Er nickte bedächtig und mit Nachdruck mit dem Kopf in Richtung Alfons.
„Ach, das bisschen Zauberei kann ich dir ganz schnell beibringen“, meinte Alfons, seine eigene Leistung stark herabsetzend. „Ist doch ganz einfach. Einfach den Zauberstab in die Hand nehmen, ‚ruppeldiepunz‘ ausrufen und schon kommt ein Osterhase aus dem goldenen Märchenbuch.“
„So einfach ist zaubern?“ Mister Miracle konnte das nun wirklich nicht glauben.
„Klar! Ich zeig‘s dir“, meinte Alfons, stand auf, nahm seinen Märchenerzählermantel wieder auf, ließ Miracles Mantel in den Staub fallen und hängte sich seinen eigenen wieder über. Aus der rechten Tasche holte er einen Zauberstab und aus der linken ein kleines, in Leder eingebundenes Büchlein mit sehr alten, bereits vergilbten Papierseiten.
„Schau her!“, rief er in Miracles Richtung. Er hielt das Zauberbuch vor sich in die Luft, schwang den Zauberstab im großen Bogen, rief laut „ruppeldiepunz!“ und tippte mit dem Stab auf das alte, vergilbte Buch. Zischend kam eine Qualmwolke aus dem Buch hervor gequollen und verströmte einen sehr unangenehmen Geruch, so dass Miracle ein wenig husten musste.
Als sich der übelriechende Qualm etwas verzog, hockte ein Osterhase auf dem Buch und rümpfte ebenso das kleine, schwarze Näschen.
„Siehste – ganz einfach!“, lachte Alfons schelmisch und setzte den Hasen zu Boden und sich daneben. „Also – tauschst du?“
„Nein.“ Miracle sah Alfons direkt in die Augen und irgendwie auch hindurch – direkt in sein Herz. Er hielt den Blick einige Augenblicke ohne einen einzigen Wimpernschlag aufrecht.
Dann meinte er: „Siehst du denn nicht, dass nur du du bist? Siehst du denn nicht, dass nur du die Menschen so berühren kannst mit deiner Kunst wie genau du es tust? Welche Werte stellst du über dich, dass du dein wahres Selbst, dein ganzes Wesen verleugnen willst um dich wie eine Schlange zu häuten und nicht mehr du selbst zu sein? Tu’s nicht!“
Miracle sah dem Märchenerzähler noch immer unverwandt in die braunen Augen und konnte sich selbst in der Spiegelung der Augäpfel erkennen.
Der alte Alfons senkte den Blick und schaute dann auf den See hinaus, wo er das erste Mal an diesem Spätnachmittag den glühendroten Sonnenuntergang auch wirklich wahrnehmen konnte. Tränen lösten sich langsam in den Augenwinkeln und bahnten sich einen nassen Weg bis hin zu seinem Kinn, wobei ein paar Kullertränen von seinen Barthaaren herunter in den Sand tropften. „Aber ich hab doch keine Lust mehr …“
„Wer soll es für dich tun?“, fragte Miracle während er sich wieder seine Sachen anzog. „Wenn ich den Mantel anziehe, dann kannst du mir vielleicht – nach sehr, sehr langer Übungszeit – einen Osterhasen entlocken. Aber trotzdem werde ich niemals ein guter Zauberer und auch kein guter Märchenerzähler sein oder werden, denn mein Weg ist nicht dein Weg. Ich muss die Menschen auf meine Weise berühren. Und du auf deine. Besser ist, wir machen beide unseren Job so gut wie möglich. Und vielleicht schickst du mir jemanden, der meine Weisheit braucht. Und vielleicht schicke ich jemanden zu dir, der deine Künste braucht.“ Miracle nickte fast unmerklich. „So sind wir schon zwei, die ihre Berufung angenommen haben!“
„Berufung?“, fragte Alfons, hellhörig geworden. „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“
Er verfolgte mit den Augen einen kleinen, grau-braun gefiederten Vogel, der gerade vom Ufer zurück auf einen Baum flog. „Du meinst allen Ernstes, wir müssen uns um unsere Berufung kümmern?“
„Ja“, meinte Miracle schlicht ohne den Blick vom See, der ins Abendrot getaucht war, abzuwenden.
Es war wieder einen Augenblick still am Seeufer. Alfons nahm sein altes Märchenbuch zur Hand und schaute sich den wunderschön gestalteten Ledereinband an. Sein rechter Zeigefinger fuhr die seichten Kurven des noch warmen Materials nach.
„Märchen erzählen und zaubern … - meine Berufung?“ Alfons sagte es mehr zu sich selbst und zu Miracle gewandt: „Wirklich??“
„Ja“, meinte Miracle wiederum schlicht und dann schauten beide wieder auf den stillen See. Miracle konnte die Zweifel des Mannes fast körperlich spüren. „Sag, Märchenerzähler“, hob er daher an, „könntest du denn gänzlich ohne Märchen und ohne die Zauberei leben? Ich meine … - bis ans Ende deines Lebens nicht mehr zaubern, keine Geschichten mehr erzählen und vor allem nicht in die leuchtenden Augen deiner Zuhörer blicken …“
Der Märchenerzähler beobachtete zwei Enten, die langsam durch das Wasser zu einer anderen Stelle schwammen und kleine Wasserringe in das Seewasser zeichneten. Dann blickte er sich ruhig zu Miracle um. „Nein“, meinte er schlicht.
Miracle stand auf. Ihm fröstelte ein wenig. „So lass uns unserer Wege ziehen und uns die Talente nutzen, die der liebe Gott – oder wer auch immer dafür zuständig war –, uns mit auf die Erde gegeben hat. Damit ist allen am allerbesten geholfen!“
Auch Alfons stand auf und plötzlich und heftig umarmte er Mister Miracle, um ihn dann genau so schnell wieder loszulassen. „Du hast Recht, mein Freund. Du hast recht!“ Alfons sammelte seine Sachen auf und sagte dann in Miracles Richtung: „Vielen Dank! Gott segne dich!“
Und dann gingen sie ohne sich noch einmal nach dem anderen umzudrehen in die entgegengesetzte Richtung, ein jeder mit einem kleinen, sanften Lächeln auf den Lippen.