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Bilder und Verse

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Wie immer ließ sie die Öffnungszeiten unbeachtet und fand das Museum verschlossen vor. So ging sie durch den Personaleingang über den verwinkelten Hof und traf dort auf eine ältere Frau mit hellblauem Kopftuch, die gerade einen Eimer voll Wischwasser ins vorjährige Gras goss. Betty wechselte die Mappe unter den anderen Arm und streckte der Putzfrau die Hand entgegen. Die schob sich erst Grausträhnen unters Kopftuch zurück und strich ihre Rechte an der Schürze ab.

„Tag, Betty! Der Doktor sagte heut früh, dass Sie kommen werden. Aber nu’ hab ich mich doch erschreckt.“

„Aber Frau Krug“, lachte Betty, „mit Ihrem Schrubber jagen Sie doch jeden Strolch in die Flucht!“

„Jawohl“, bekräftigte die Frau. „Der Doktor lässt ausrichten, dass Sie alles auf seinen Schreibtisch legen sollen. Er bittet Sie, die Kleine Galerie aufzusuchen.“

Nickend hörte Betty noch im Weitergehen die geheimnisvoll anmutende Bemerkung:

„Sonntag wird eine neue Ausstellung eröffnet. Sie werden staunen. ’Metamorphosen’. Ein ganz junger Künstler...“

Aus der Frühlingshelligkeit in den Hausflur getreten, umfing sie wie so oft jene eigenartige Atmosphäre. Die alten Holzwände, die hohen schweren Türen in den dämmrigen Gängen und die Stuckdecken betrachtete sie wie eine Fremde. Und doch überströmte sie eine Welle des Zuhauseseins.

Zielsicher drückte sie eine Messingklinke und betrat einen kleinen Raum. Die dunklen gedrechselten Holzstühle, den runden Tisch mit Mamorplatte, die Bücherregale ringsum, das schmale hohe Fenster, ja selbst den Topf mit blutroten Alpenveilchen kannte Betty gut.

Hier war einmal ihr Büro gewesen. Das angrenzende Zimmer gehörte Dr. Christoph, einem Philologen und Altertumsforscher, dem Direktor des Museums. Die Tür war offen, und sie ging hinein, warf einen einzigen Blick über Ordner und Bücher, die aufgeschlagen oder mit Zetteln markiert auf Tischen und Stühlen herumlagen. Das Telefon stand auf dem Erdboden, lose über einer Stuhllehne zerknautschte ein Jackett; ein voller Aschenbecher verpestete die Luft.

Wie früher, dachte Betty, schob ein paar Zeitungen und beschriebene Blätter beiseite und legte ihre Manuskripte dazu.

Seit fast einem Jahr brachte sie Dr. Christophs handgeschriebene Abhandlungen für Fachzeitschriften maschinenschriftlich ins Reine, gab sie zurück und holte sich neue Heimarbeit. Seit sie ihre beiden Kinder bekommen hatte und daheim aufzog, war diese Honorararbeit nicht nur Mittel zum Zweck für sie und den Doktor, sondern enges Kontakthalten, da sie sich aus vier Jahren gemeinsamer Museumstätigkeit achteten.

Als Betty die Galerie betrat, in der oftmals Glanzstücke namhafter oder auch unbekannter Maler, Grafiker oder Bildhauer die ständige heimatgeschichtliche Präsentation des Museums bereicherten, fand sie auch hier niemanden vor.

Sie sah aber, dass jemand nur kurzzeitig seine Arbeit unterbrochen haben konnte, denn mehrere Aquarelle waren schon aufgehängt worden, andere standen sortiert an den Wänden entlang; Scheren, leere Rahmen, Rollen mit Angelsehne und Passepartouts unterschiedlicher Größen lagen verstreut. So beschloss Betty, zu warten und vertiefte sich in den Anblick einiger Zeichnungen in ihrer Nähe. Zuerst nur interessiert, blickte sie bald überrascht, ja fasziniert in eine Welt voller Farben und Linien mit unerhörter Kraft. Und hatte sie beim ersten Bild jene winzige Farbnuance fast übersehen, so tauchte sie in anderen Arbeiten immer wieder auf. Sie war sparsam verwendet worden, zwang jedoch magisch die Augen auf sich und – Betty kannte diese Farbe irgendwie.

Sie grübelte. Hatte Frau Krug nicht von einem jungen Künstler gesprochen? Hatte sie nicht orakelt, sie, Betty, würde erstaunt sein? Was meinte sie nur?

Gerade Neunzehn war sie gewesen und hatte als Sekretärin im Museum zu arbeiten begonnen. Zu dieser Zeit wohnte ein Praktikant für ein halbes Jahr in einem Kämmerchen unterm Museumsdach, war Mieter, Wächter, Hausmeister, Führungspersonal und Künstler zugleich und fühlte sich offensichtlich wohl. Die Abende und Wochenenden hockte er vor seiner Staffelei und malte. Sie hatten ihn alle Simba genannt, wohl, weil sein Nachname Loewe lautete.

Betty entsann sich seiner Gestalt. Schlank war er und bewegte sich lässig, hatte dichtes wildes Haar. Ein Bart umgab seinen vollen Mund. Er lächelte oft. Die Stimme klang angenehm weich; auffallend die unruhigen Hände mit den sauberen rundgeschnittenen Nägeln. Betty kam gut mit ihm zurecht. Simba war ihr Interesse für Kunst und Literatur aufgefallen. Als Betty das seine dafür entdeckte, zeigte sie ihm vertrauensvoll und auch mit leisem Zaudern ihre Gedichte. Noch sagte er dazu nicht viel, aber ließ Betty als ebenso vertrauensvolle Antwort in seine Arbeit als Maler schauen.

Als Betty sich das erste Mal bewundernd den Bildern gegenübersah, fühlte sie sich klein und unscheinbar in ihren Versuchen, sich anderen Menschen mit Worten mitzuteilen. Welch eine Kraft aber steckte in den Farben und Formen! Simbas Ideen fesselten Betty; die fertigen Malereien beschäftigten sie eindringlich. Es lag etwas Phantastisches, Irreales, Verinnerlichtes in ihnen.

Aber bald wandelte sich ihre friedliche Bewunderung in heftigen Streit, denn nach und nach zeigte er ihr seine neuesten Arbeiten, und die erschreckten Betty, stießen sie ab. Meist nur in Grau, Braun oder Schwarzweiß gehalten, mit menschlichen Körpern, denen etwas fehlte, ein Bein, ein halber Arm, der Kopf oder ein Fuß; kastenförmige Bauten dahinter oder daneben. Der Gegensatz zu seinen Bildern vom Anfang ihrer Bekanntschaft war ungeheuerlich.

„Was soll das?“

„Das ist unsere Welt, Betty.“

„Wo sind denn die Farben, wo ist die Natur?“

„Hast du sie beim Leben in Betonblöcken? Siehst du da Wiesen und Wälder?“

„So liegt es an uns. Wir müssen sie mehr in unseren Lebenskreis holen.“

„Falsch! Wir sollten sie nicht vernichten. Wir grauen uns selbst ein.“

„Warum zerstückelte Menschen, Simba?“

„Die Erde ist so im Großen: Länder. Die in sich selbst: Parteien. Du kannst das fortführen bis zu einem einzelnen Individuum. Alles ist uneins, zerstört, wirkt auf anderes ebenso ein.“

„Das ist deprimierend. Ich seh’s anders. So hör doch!“

Sie deklamierte:

„Dunkles Atmen, friedlicher Schlaf,

haschende Nebelfiguren,

da ein schmaler Lichtstreif sie traf,

verschwanden sie ohne Spuren,

im frischen Wind ein Wispern lag,

es regten die Wipfel sich bald,

im Lärmen der Vögel nahte der Tag

und Sonnenfinger neckten den Wald.“

„Deine Verse... sie sind mir zu banal, zu lyrisch!“, entschied Simba energisch.

„Was hast du gegen Poesie?“

„Nichts gegen Schiller und Heine... aber heutzutage solche Worte zu verwenden, haut nicht hin. Siehst du nicht, wie gefährdet unser Leben ist? Autos überfahren Menschen und Tiere, Flugzeuge stürzen ab, Bäume werden zu Tausenden gefällt...“

„Ich bin ja nicht blind. Das geschieht. Schlimm genug. Wir Menschen sind schuld. Das ist erkannt; wir ändern es doch schon. Idylle zu lassen, ist uns nicht gegeben. Wir könnten nicht mehr existieren.“

„Warum schreibst du dann sowas ohne den Schrei, dass der Regenwald stirbt?“

„Es besteht ja aus reiner Beobachtung. Ich empfinde so und gebe ein romantisches Bild weiter an Freunde, die es nicht sehen konnten oder einfach nicht darauf geachtet haben. Manche Leute erleben gleiches. Das bestärkt doch. Was du hineinhaben möchtest, verdirbt diese Verse. Sie sind eine lyrische, zugegeben romantische, Impression.“

„Romantik... Kitsch ist das!“

„Halt, Simba. So red nicht mit mir! Sind dein ‚Schlangenmensch’ oder der ‚Kophta’ keine romantischen Bilder?“

„Ja, verflucht noch mal. Doch die Sachen verkauf ich. Hab schon lange das Gefühl, der Ramsch müsste verschwinden. Wie konnte ich das malen?“

Auf und ab wanderte Simba mit raumgreifenden Schritten in der engen Kammer, fuhr sich durch die Haarflut und funkelte Betty aufgebracht an. Die schwieg nun, war verletzt und verstimmt, verabschiedete sich auch bald und verließ seine Dachkammer zum ersten Mal ohne Bedauern.

Sie wusste schon, dass sie Simba gern hatte. Ihre gemeinsame Arbeit verband. Mit Witz und Lachen meisterten sie viele Schwierigkeiten. Sie fühlte oft, wenn er sie ansah, dass auch sie Simba etwas bedeuten mochte. Deshalb konnte sie ihre steten Reibereien über seine Grafiken und ihre Gedichte nicht verstehen. Es machte sie verrückt, dass sie sich in ihren Auffassungen so voneinander entfernt hatten und keiner dem anderen ein Recht einräumen wollte.

Sie hätte viel darum gegeben, zu sagen: „Also gut, jetzt hast du mich überzeugt.“

Dann wäre in seinem Gesicht etwas Frohes gewesen. Vielleicht auch hätte er sie dann an sich gezogen und geküsst, wie sie es sich wünschte in manchen Augenblicken. Aber... es ging nicht.

Ihre Verse mit den zarten Umschreibungen und kraftvollen Eindrücken zu tauschen gegen seine faden quälenden Zeichnungen... nein, so waren das Leben und die Welt nicht. Und, dass sie nie so sein werden, dafür wollte sie mit Worten eintreten, wollte bewahren, was sie sah und fühlte.

Betty wusste nicht, wie es Simba erging. Ob er wohl manchmal ebenso innig gewollt hatte, sie zu verstehen?

Die Praktikumszeit verging. Simba zog aus der Dachkammer und verließ die Stadt.

Eine fröhliche bunte Collage lag zum Abschied auf Bettys Schreibtisch.

Betty ertappte sich eben dabei, immer noch auf eines der Bilder in der Kleinen Galerie des Museums zu starren, genau in diese silberkühle glasblaue Stelle hinein. Warum war ihr nur all das wieder eingefallen? War dieses atemberaubende Blau daran schuld?

Sie vernahm ein Geräusch und wandte sich um. Dr. Christoph war hereingekommen. Kleinwüchsig, mit schütterem Haar und wie immer rauchend eilte er auf sie zu, fasste ihre Hand und strahlte:

„Gut, dass Sie hier sind, Betty ... über die Manuskripte lassen Sie uns nachher reden... Was sagen Sie zu den Malereien? Sie haben sich doch sicher schon umgesehen, nicht wahr? Der Mann zeigt Talent, finden Sie nicht ... und er wollte seine Bilder unbedingt in unserer Stadt, in unserer Galerie ausstellen...“

Ehe Betty darauf antworten konnte, erschien ein junger Mann in der Tür. Während er herankam, sagte er, und die Stimme kannte sie:

„Unser Streit von damals hat mir keine Ruhe gelassen.“

Als er sehr nah war, flüsterte er fast fassungslos, weil er es wohl selbst erst in diesem Moment erkannte:

„Es ist die Farbe deiner Augen, die mich verfolgt hat. Ich habe es immer wieder malen müssen, dieses silberkühle, glasreine Blau...“

Himmelgelb

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