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Himmelgelb
ОглавлениеUnvergesslicher April. Die Sonne wärmt schon. Das fühlt sie auf ihrer Lederjacke. Im Gesicht den Fahrtwind drückt sie sich enger in den Rücken des Motorradfahrers, umschließt seine Taille mit den Armen.
Ein Tag wie gelbe Chrysanthemen. Hell und fedrig. Und begonnen hatte er auf dem Bahnhof.
Die Reisetasche vor sich her balancierend war sie im altmärkischen Stendal ausgestiegen und ließ die Eiligen an sich vorbei.
„Darf ich helfen, schöne Frau?“
Ein ovales Gesicht. Fröhliche Augen. Über den vollen Lippen bog sich ein Bärtchen. Sprachlos nickte sie.
„Müsste ich... Sie kennen?“, fragte sie ironisch.
Gestattete, dass er die Tasche nahm. Er wiegte den Kopf und schmunzelte.
„Wir sind uns sicher schon öfter begegnet.“
Sein Blick senkte sich kurz in ihre Augen, verstärkte eine Vertrautheit, die vom ersten Moment in ihr war. „Katzenaugen“, stellte er fest.
„Kaffee?“, fragte sie spontan. „Da drüben im Bahnhofshotel?“
„Zeit hätte ich ja... und Lust auch.“ Wie er das sagte, erzeugte Kribbeln in ihrem Bauch.
„Ich bin gebürtige Berlinerin“, plauderte sie, als sie sich im Restaurant gegenüber saßen. „Mit 19 bin ich daheim weg. In die große weite Welt. Das war die Altmark damals für mich. Ein fremder Landstrich. Ein Abenteuer.“
„Dann sind Sie mit dem ICE vorhin aus Berlin gekommen.“
„Ja, meine Eltern leben noch dort. Seltsam, dass man sich bei ihnen wieder wie ein Kind fühlt...“
„... und noch die Schrammen an den Möbeln findet, die man selbst verursacht hat“, vollendete er schmunzelnd ihren Gedanken.
„Oder den Geruch in den Zimmern...“, sinnierte sie.
„Wie meinen Sie das?“
„Ach, da gibt’s so 'ne Kohlrouladen-Geschichte. Und ich spiel' die Hauptrolle... Ist schon ziemlich her... Damals war ich vielleicht 15. Aber an den Schreck erinner' ich mich noch heut.“
Sie goss Sahne in ihren Kaffee und rührte um.
„Wir wohnten damals gemeinsam mit einem Wellensittich parterre in einem großen Häuserblock.
An einem Sonnabend um die Mittagszeit erhielt mein Vater, als Taxifahrer in Bereitschaft, einen Einsatzruf. Während ich Geschirr spülte und sich meine beiden Geschwister das Abtrocknen teilten, bereitete meine Mutter noch schnell Kohlrouladen für den Sonntag vor und schob sie im Brattiegel in den Ofen.
Und weil wir zur Kaffeezeit mit unserer Oma verabredet waren, zogen wir uns danach noch rasch um.
Meine Mutter, beim Haare toupieren, bestimmte noch, dass wir die Rosen aus der Vase nehmen und ins Seidenpapier wickeln und das Päckchen neben dem Telefon nicht vergessen sollten.
Weil ich mir grad' die Hände eincremte, griff meine Schwester nach den Blumen. Mir entging die Neckerei unseres Bruders, der wohl immer wieder am Seidenpapier zupfte, aber ich sah, wie meine Schwester nach ihm schlug. Sie traf dabei die Vase. Die kippte, ehe ich dazugesprungen kam, und das Wasser schwappte aus, lief die Tischplatte entlang und auf den danebenstehenden Polsterstuhl und dann auf den Teppich.
'Auweia, jetzt gibt’s Ärger', raunte unser Bruder scheinheilig und vorwurfsvoll zugleich.
Aufgebracht lief ich nach einem Tuch zum Trocknen und schimpfte dabei: 'Mensch, passt doch auf!'
Und meine Mutti fragte: 'Was ist denn wieder?' Na, wie das eben so in einer großen Familie zugeht. Sie sagte dann noch: 'Gudy, stellst du bitte mal den Gasherd auf kleine Flamme?'
Ich war grad' dabei, das Malheur zu beseitigen und ging kurz, den Herd auf Sparflamme zu schalten. In der Stube schubsten und zankten sich halblaut meine Geschwister. Mir ging das auf die Nerven. Zumindest die Schwester mit ihren 11 Jahren hätte ja zugreifen können, doch sie hielt Abstand zu dem kleinen Wasserfall; es konnten ja Spritzer ihr weißen Faltenröckchen treffen.
'Hier! Bring mal weg!' Damit hielt ich ihr den nassen Lappen entgegen, als ich fertig war.
'Ph! Kann er doch machen!'
Ich fand, das ihr kesser Haarschopf den hochmütigen Gesichtsausdruck noch verstärkte.
'Oller Besen!', zischte ich wütend im Weggehen, meinte sie, die kleine Intrigantin, die sich jedes Mal so gut herauswinden konnte. Diesmal war sie zwar nicht schuld, aber das wusste ich ja nicht so genau. Mein Bruder schnallte sich ziemlich unbeteiligt die Riemchen seiner Sandalen zu. Und Mutter rief gerade aus dem Schlafzimmer, dass ich den Ofen ganz ausschalten solle, damit die Kohlrouladen nicht verbrannten.
Das Faltenröckchen stand an der Küchentür; ich wollte hindurch. Meine Bemerkung von vorhin war noch nicht erwidert. 'Wenn ich der Besen bin, dann bist du die Schaufel!'
Das saß wie eine Ohrfeige. Wir funkelten uns an. Es hätte nicht viel gefehlt, und wir Mädchen hätten uns geprügelt.
'Kinder, nun lasst doch mal die ewige Streiterei.' Mutter trat uns in ihrem neuen Sommerkostüm entgegen.
'Ich trage die Tasche', erbot sich unser Bruder artig, und ich hatte das Gefühl, dass er damit irgend etwas wiedergutmachen wollte. Also durchquerten wir bald besser gelaunt in Vorfreude auf Omas Kuchen den angenehm schattigen Stadtwald.“
Sie hielt einen Moment inne, nahm zwei, drei Schluck Kaffee.
„Ich finde ja so eine große Familie echt toll. Hab' leider keine Geschwister“, meinte er. „Zu meiner Mutter hatte ich auch ein super Verhältnis... obwohl... sie hat mir mal auf offener Straße eine runtergehauen, aber das war unterm Regenschirm, da hat's keiner so genau gesehen... Und schuld war ich ja auch.“
Sie schaute amüsiert, da fuhr er erklärend fort:
„Muss ich auch so 15 gewesen sein. Arm in Arm mit Frau Mama auf Einkaufstour. Weil es ziemlich regnete, unter einem Schirm, da hatte sie drauf bestanden, ehe ich ganz klitschnass geworden wäre. Ich fand aber ihre kurzen Trippelschritte zu peinlich und blieb bei meinen langen. So kamen wir aus dem Gleichklang, und eine Spitze der Regenschirmbespannung piekte in ihre Hochfrisur. Damals waren Haarteile der letzte Schrei. Kunstvoll in Locken gelegt.. Jedenfalls kam alles in Rutschen, ihre Hand auch... Und aus war's mit dem Bummel... Aber wie ging es denn bei Ihnen weiter?“
„Tja, erst einmal recht fröhlich. Wir trafen unsere Verwandten in Omas Garten, hatten Zeit und Partner für so manchen Spaß im Spiel zwischen den Wiesen und Büschen... Leider fiel inmitten des schönsten Trubels an der Kaffeetafel die Frage meiner Mutter: 'Hast du auch den Herd ausgeschaltet, Gudy?'
Da war er, dieser eiskalte Schreck, der mich durchfuhr bis ins Mark, der meine Gedanken zu lähmen drohte. Hatte ich den Gasherd abgeschaltet? Der Streit vom Mittag verwischte meine Erinnerung daran, was ich getan hatte und in welcher Reihenfolge. Entsetzt konnte ich weder nicken, noch den Kopf schütteln, hob nur ratlos die Schultern. Keinen Bissen der Erdbeertorte mit Schlag brachte ich mehr hinunter, saß einfach wie versteinert. Still war's auch in der großen Runde geworden. Jeder überlegte wohl für Bruchteile von Sekunden, welche Gefahr von so einem unbeaufsichtigten eingeschalteten Gasherd und seinem Inhalt ausgehen könne.
'Da passiert nix', beschwichtigte als erste Tante Chrille. 'Nur eure Wohnung wird verräuchern.'
'Trotzdem, wir müssen heim. Entweder Gudy allein oder wir alle', überlegte meine Mutter noch.
'Zu dumm, wir haben alle Alkohol getrunken, sonst wäre ein Rumbringen mit dem Auto kein Problem', bedauerte Onkel Hans und blickte auf seine Armbanduhr. 'Die Straßenbahn fährt aber in 20 Minuten.'
'Kommt euer Vater denn nicht auch bald her?', fragte meine Oma mit neuer Hoffnung.
'Ungewiss. Vielleicht kann er uns gerade man nach dem Abendbrot abholen. Darauf können wir nicht warten.' Mutter war nun entschlossen. 'Wir gehen.'“
„Meine Güte, wie einfach sind solche Dinge heutzutage durch Handys!“, entfuhr es ihrem Zuhörer, und sie nickte.
„Nun, unser Abschied fiel etwas überstürzt aus. Eilig legten wir den einstündigen Weg zurück. Der Stadtwald nahm uns wieder auf, doch diesmal fror ich im Schatten der Bäume. Meine Mutter sagte kein einziges Wort zu mir, erwiderte auch kaum auf die Fragen meiner Geschwister, die doch mal herumalberten und den Ernst der Situation nicht zu erfassen schienen. Mir wäre lieber gewesen, wenn sie mich ausgeschimpft, mir Vorwürfe gemacht hätte. Ihr Schweigen traf mich wirklich viel tiefer. Am Waldrand, als wir die Straße überquerten, fasste ich mit einem langen Blick den Wohnblock ins Auge...
Ich hatte in meiner Angst Flammen erwartet oder doch zumindest dicken Qualm aus unseren Fenstern und eine Traube aufgeregter Leute vorm Haus... Tatsächlich war es aber nur von der Julisonne und spätnachmittäglicher Ruhe umgeben. Einige Kinder spielten auf dem Rasen davor. Von irgendeinem Balkon klang eine Radiostimme herunter...
Hatte ich den Gasherd womöglich doch abgedreht und alle Sorge war umsonst gewesen?
Ähnliches hatte wohl auch meine Mutter gedacht. Ich konnte die Erleichterung in ihrem verschwitzten Gesicht erkennen... Sie schloss auf – wir stürmten in die Wohnung.
Unser Sittich begann zu zwitschern – und es roch verbrannt. Die Küche qualmte leicht.
Herd ausschalten, Fenster öffnen, den geschwärzten Brattiegel mit dem Topflappen herausziehen...
Ich sah Mutters hastige Hantierungen von der Küchentür aus, aber sie kamen mir vor wie im Zeitlupentempo ausgeführt. Ich musste mich mitten im Flur setzen. Meine Geschwister hatten mich scheu beobachtet. 'Mutti... Gudy ist übel...' Ja, da hat sie sich über mich gebeugt, mir den Ponny liebevoll aus der Stirn geschoben und mich ermuntert: 'Ruf mal bei Oma an und gib durch, dass alles in Ordnung ist.'“
„Nette Familienschnurre... Gudy... ist das ein Spitzname? Darf ich Sie auch so nennen?“
„Mhm. Wie wurden Sie gerufen?“
„Nicht lachen... Zipfel.“
„Volltreffer!“ Sie lachte doch. „Warum?“
„Ich war immer der Kleinste. In der Kindergartengruppe. In der Schulklasse. Und zwischen Vater und Mutter auch. Aber erfunden hat ihn meine Lieblingstante, übrigens auch aus Berlin. Die hatte für jede Gelegenheit Sprüche drauf. Wenn ich was ausgefressen hatte, sah sie mir's schon von Weitem an und orakelte: 'Nachtijall, ick hör dir trapsen'. Und wurde ich zur Rechenschaft gezogen für meine Missetaten, tröstete sie dann: 'Nu weene ma nich, nu weene ma nich, inne Röhre steh'n Klöße, die siehste bloß nich'.“
„Wobei wir wieder bei besagtem Herd wären... Aber diese Altberliner Sprüche kenne ich auch. Tante Chrille, rotwangig und vollbusig, ließ sich mal zu einer entscheidenden Bemerkung hinreißen, weil ich mir beim Tragen neuer Schuhe immer, aber auch wirklich immer, blutige Hacken hole: 'Berliner Schuhe und pommersche Beene, det passt einfach nich'... Ich nehm's ihr heut noch übel.“
Jetzt lachte er.
Ehe sie vom Restaurant aufbrachen, rückte sie sich noch schnell am Foyer-Spiegel ihr kupferfarbenes Haar zurecht. Er beobachtete es aus den Augenwinkeln, fand es aufregend. Eindringlich fragte er:
„Sie werden doch jetzt nicht gehen wollen? Wie wäre eine Motorradtour durch die Gegend? Ich kenne mich aus und das Wetter ist schön dafür heute.“
Überrascht blickte sie in den sonnigen Himmel, auch in bernsteinbraune Augen. War einverstanden. Gut, dass sie Jeans und nicht den schmalen Rock trug, den sie heut' früh noch überlegend in der Hand gehalten hatte.
„Was wird aus meinem Gepäck?“
Sie gaben es am Bahnhof in ein Schließfach.
„So, und woher nehmen wir das Motorrad?“, blitzte sie ihn unternehmungslustig an.
„Darf ich bitten...“
Er wies in Richtung Parkplatz. „Meine MZ steht bereit.“
„Sie scheinen ja schon alles geplant zu haben. Sprechen Sie jeden Tag Frauen am Bahnhof an?“
„Was Sie denken... Es ist nicht so, wie es scheint. Lassen Sie Ihr Herz sprechen. Es wird interessant werden..., na?“
Sie hatte ihn wieder angeschaut; unmöglich, seine gutmütige Erwartung zu enttäuschen.
„Berliner Pflanzen sind keine Mauerblümchen... Los!“
Die alte, gut gepflegte 250er MZ war schwer und schwarz, ein richtiges Liebhaberstück. Unter der Sitzbank – zwei Helme. Als sie aufsaßen, dröhnte der Motor. Die Maschine vibrierte wie ein Raubtier vor dem Sprung. Kaum war Zeit, sich festzuhalten.
Sie sah während der Fahrt vielfach noch österlich geschmückte Ortschaften, grün werdende Wiesen, frisch umgepflügte Äcker, knospende Büsche, windschiefe Straßenbäume.
Kurz darauf spazierten sie schon auf wildbewachsenen Uferwegen am Arendsee entlang. Ihr Begleiter atmete tief.
„Mein letztes Seeabenteuer bestritt ich im vergangenen Sommer. An einem Kiefernwaldsee war ich der Große Unbekannte.“
„Na, das klingt ja mal aufregend.“
„Sie ließen damals einen roten Luftballon zerplatzen, beugten sich übers herausflatternde Papier und lasen laut vor: 'Die einzelne Birke im Umkreis von fünfzig Schritt enthält Neues. Der Große Unbekannte.“
„Wer... sie?“, fragte Gudy neugierig.
„Meine Kinder.“
„Söhne? Töchter?“ Die Frage nach einer Mutter und Ehefrau konnte sie sich gerade noch verkneifen.
„Die Tochter ist vierzehn, die Jungs elf und zwölf... Aber zurück in den Wald... Da sie drei Richtungen bei ihrer Suche einschlugen, wurde es nämlich brenzlig, wollte ich nicht vorzeitig entdeckt werden. Ich war bis dahin wacker mit dem Fahrrad durchs Wäldchen gejagt, hatte Luftballons mit diversen Hinweisen und Rätseln gefüllt und an Büsche gebunden, hatte Holzspäne händevoll verstreut, Kreuze und Pfeile in den Boden geritzt.“
„Eine Schnipsel-Jagd! So was hab ich auch gern gemacht!“
„Wie gestern weiß ich noch: In einem weiten Bogen hatte ich mich zurückgeschlichen und mich in den Hinterhalt gelegt. In der Stille summte eine Hummel neben mir. Die Hitze rieselte zwischen den Blättern hindurch auf meine Haut.
Dann hab ich die bunten T-Shirts gesehen und mir schlug irgendwie das Herz im Hals.
Die Fahrräder ließen meine Verfolger am Rande einer Baumgruppe. Dorthin wollte ich, also schob ich mich langsam vorwärts, behielt die drei wachsam im Auge. Ein Spinnennetz fuhr mir klebrig über die Wangen; ich achtete nicht weiter drauf. Waldameisen krabbelten auf meinen Arm; ich schüttelte sie vorsichtig ab. Beim Aufrichten aber knackte dann ein morscher Ast unter mir, doch ich hatte Glück. Im gleichen Moment hatten sie nämlich die Birke entdeckt und ich konnte unbemerkt mein Ziel erreichen.
Man überflog meine letzte Botschaft, klang sie doch geheimnisvoller als alle anderen: 'Ihr findet mich westwärts bei Wasser und Brot...' Mit dem Kompass bestimmten sie die Richtung, holten sich dann ihre Räder und ich hörte dabei, wie sie mich als 'ganz schön raffiniert' bezeichneten, als 'ne 'Wucht als großer Unbekannter' und sich wunderten, woher ich bloß die Einfälle genommen hatte.“
„Bestimmt haben Sie ganze Nächte mit Vorbereitungen zugebracht.“
„Und ob. Jedenfalls zogen die Kinder los, und ich radelte geradewegs zum Ziel, saß bald als Großer Unbekannter auf einem Baumstumpf am Waldsee, stipste den großen Zeh' ins Wasser und bewachte so einen riesigen Picknickkorb, bis zwischen den Kiefern die bunten T-Shirts aufleuchteten.“
„Sie müssen einen wunderbaren Vater abgeben...“
„Ich hatte auch einen wunderbaren Vater...
Der hat früher geschreinert, dem war Holz in allen Variationen der liebste Werkstoff. Modern waren ja eine Zeit lang graue löchrige Elementewände aus Beton. Eine solche wollte ich vor unser Einfamilienhaus setzen. Doch die Harmonie des alten Bauernhauses mit seinem Hausbaum und den prächtigen Pfingstrosen hätten wir dadurch gestört. Nein, ein Holzzaun im Nusston schwebte meinem Vater vor. Er begeisterte mich mit seiner Idee, so dass wir ihn zu bauen begannen.
Es wurde langsam Herbst, wir ahnten einen nahen Winter und wollten zumindest die einzelnen Steinpfeiler mit den Holzlatten quer verbinden. Im Frühjahr dann wollte ich alle Holzstreben längs nebeneinander nageln und somit die offenen Abschnitte verzäunen. Doch mein Vater war dafür, dass jedes Ding in der Welt seine Ordnung haben muss. Er entschied den Fertigbau noch vor dem Ausbruch des Frostes.
So kam es, dass eine windige kalte Woche mit heftigem Regen genau jene Zeit wurde, in der wir nun alles vollendeten. Ich behaupte mal, dass wir uns nicht nur klamme Finger, sondern auch Erkältungssymptome holten. Aber all dies wurde weggeblasen durch den Stolz, den ich selbst fühlte, als ein Vorübergehender uns neugierig und anerkennend zugleich befragte, welche 'Firma' denn hier die Bauarbeiten übernommen habe... Keine Firma, nein, nur ein einfach Mann und sein Sohn...“
„Er lebt nicht mehr, nicht wahr?“
Gudy legte ihm sacht die Hand auf den Arm, schloss, als er nickte, kurz die Augen. „Wie sagt man immer? Es sind meist die Besten, die zu früh gehen müssen.“
Sie liefen ein Weilchen schweigend. Er betrachtete seine Bekannte dabei immer wieder einmal unauffällig von der Seite. Konnte seine Bewunderung nicht verbergen. Griff auch wie selbstverständlich nach ihren kräftigen kleinen Händen.
Sie genoss seine Berührungen und strahlte.
Ein Straßencafé. Ein einzelner Tisch in der Nachmittagssonne.
„Die haben Vanille-Eis mit heißen Himbeeren“, schwärmte sie. „Meine Tochter müsste das sehen. Keinen Weg gäb's für sie dran vorbei... und für mich auch nicht.“
Als sie die langen Löffel mit den Köstlichkeiten zum Munde führten, fragte er wie nebenbei:
„Auch 'ne Tochter?“
Sie nickte lebhaft. „Und auch zwei Jungs.“
„Verheiratet?“
Jetzt schmollte sie.
„Das ist gemein. Ich habe extra nicht gefragt. Es schien mir gegen die Spielregeln zu gehen.“
„Überredet... Erzählen Sie mir von Ihren Kindern.“
„Einmal, da kam mir auf dem Heimweg von der Arbeit mein mittlerer Sohn entgegen... Ich stockte unwillkürlich und fragte besorgt: 'Wie siehst du denn aus? Was ist passiert?' Ich nahm seine Schultern, machte sekundenschnell Bestandsaufnahme von meinem schmutzigen verweinten Kind. Seine Brille fehlte. Die Wange war geschwollen. Ein Knie blutete. 'Ich bin ja da... Wo tut's noch weh?' Die langsamen Schritte bis ins Haus reichten, um seinen Sturz mit dem BMX-Rad im Einzelnen zu schildern.
Vorsichtig wusch ich ihn und begriff instinktiv, dass das Knie genäht werden musste. 'Wir müssen ins Krankenhaus.... Kümmerst du dich in der Zwischenzeit um's Abendbrot?'
Meine zehnjährige Tochter gab mir ein großes Pflaster, nickte und meinte fürsorglich: 'Ich achte drauf, dass der Kleine sich wäscht und ins Bett geht, falls es länger dauert.'
Gut zwei Stunden vergingen damals, als ich mit meinem blassen Sohn im Wartezimmer der Notaufnahme saß. Den Arztwagen hatte ich wegfahren sehen, als wir gerade ankamen. Also warten. Dann hielt draußen ein Auto. Eine Tür klappte. Schritte näherten sich. Der Arzt, dachte ich, endlich. Die Treppe herauf kam mein Mann. Er beugte sich mit einem dunklen 'Na, du machst ja Sachen' über den blonden Strubbelkopf und nahm meine Hand und berichtete mir später: 'Die beiden zu Haus haben Abendbrot gegessen. Der Kleine liegt jetzt mit einem Bilderbuch im Bett. Ich habe eure Jacken mitgebracht... Ach ja, die Große hat mir für euch Äpfel mitgegeben...'“
„Ist ja niedlich“, bemerkte der Bernsteinäugige.
„Ja, und war wichtig, denn es verstrich noch eine Stunde. Wir hatten Licht im Warteraum eingeschaltet. Die leeren Stühle und kahlen Tische wirkten fremd und unbehaglich. Durch die angekippten Fenster drang kühle Luft. Mit uns warteten schließlich noch zwei junge Männer mit Schnittverletzungen an den Armen und ein älterer Herr mit einem Kopfverband...
In olivgrüner Kluft kam dann eine Ärztin, die ihr schwarzes halblanges Haar in einem dicken Zopf trug. Die Angespanntheit in ihrem noch jungen Gesicht blieb, als sie geschickt und ruhig das Knie meines Sohnes untersuchte und einer aufmerksamen Schwester Anweisungen gab.
'Wir müssen eine kleine Operation durchführen, wahrscheinlich ist der Schleimbeutel beschädigt.' Leise sprach sie mit uns Eltern, dann mit dem Jungen. Ein weißer Vorhang trennte uns bald vom OP-Platz. Mein Kind stöhnte, dann klirrten nur noch die Operationsinstrumente...
Und dann, als mein erschöpfter Sohn mit dick bandagiertem Bein und Kühlakkus am Knie endlich daheim in seinem Bett lag, als ich ihn küsste und tröstete, fühlte ich selbst mich kraftlos und müde, unfähig, Erleichterung zu spüren. Ich löschte das Licht, hörte aber im Hinausgehen das neugierige Flüstern des Kleinen, der vor Aufregung noch wachgelegen hatte: 'Hast du auch eine Spritze gekriegt? Hast du da geweint?' Und die Antwort des Bruders: 'Nö, Mutti und Vati waren ja da.' Da konnte ich leise die Tür schließen und wieder lächeln.“
„Kinder“, sagte ihr Gegenüber mit weitgeöffneten Armen und einen halb liebevollen, halb besorgten Ausdruck im Gesicht. Er schob dann die leeren Eisbecher in die Mitte des Tischchens.
„Kommen Sie. Gehen wir zur Maschine zurück.“
„Nicht nur Kinder... 'Pünktchen' gibt’s ja auch noch.“
„Ein Haustier?“
„Eine Katze. Ihr eindringliches Mauzen an der Schlafzimmertür oder an der Fensterscheibe wird geliebt und verflucht, weil es uns auch sonntags beim Morgengrauen aus den Betten zwingt. Allerdings geht es sogleich in ein inniges Schnurren über. Meine Kinder tragen die Spuren ihrer Krallen dennoch stolz wie eine Kriegsbemalung auf Händen und Gesichtern. Ich lieb sie aber auch und mag besonders, wenn sie sich die Pfötchen reinigt und sie dabei anmutig einkrümmt. Als das Tierchen in unser Haus kam, da war es nicht größer als eine Männerhand. Im ruppigen Fellchen Ungeziefer. Kreisrunde bläuliche Augen starrten ängstlich und ein Stimmchen schien es da noch nicht zu haben. Unsere Familie war auf die Katzenankunft vorbereitet: wir holten das Körbchen mit der Schlafdecke hervor, die Kiste mit dem Sand und öffneten das erste 'Schleckertöpfchen'. Diesen allerersten Abend verbrachte unser Kätzchen auf meinem Schoß, ließ sich schon zutraulicher streicheln und die Haarlinge entfernen und guckte erstaunt Fernsehen. Meine wilden Rangen schlichen auf Zehenspitzen heran, um es hin und wieder behutsam zu kraulen. Da liebten wir es schon.“
„Wie kam es zu dem ungewöhnlichen Namen? Warum nicht Mieze oder Morle?“
„Das lag einfach nahe, weil große und kleine schwarze Flecken auf dem Rücken und am Kopf ihr weißes Fell durchbrachen. Deshalb Pünktchen. Eine Bekannte fand einmal, dass unsere Katze einer verkleinerten Kuh gleicht. Daran denken wir nicht gerade gern, vielmehr erinnern wir uns gegenseitig daran, wie ich an einem der ersten Tage mit einem weichen Tuch vergeblich versucht hatte, einen vermeintlichen Schmutzfleck aus dem weißen Fell rechts neben dem Katzennäschen zu entfernen, bis ich schließlich erkannte, dass es sich dabei um den winzigsten schwarzen Punkt der Fellzeichnung handelte... Seither wohnt Pünktchen zusammen mit uns in unserem zweistöckigen Haus mit Hof und Garten am Rande der Stadt. Jeden unserer Wege kennt sie, begleitete uns oft zum Kindergarten, zur Schule, zum Bäcker, ließ sich nicht zurückschicken, wartete ausdauernd und eigensinnig an Wegbiegungen, Einzäunungen oder auf Fensterbänken, bis wir wiederkamen, um mit uns heimzugehen. Die Anwohner unserer Straße sind dies Bild längst gewohnt; man kennt uns und schmunzelt darüber.“
„Sie führen ein überaus interessantes und abwechslungsreiches Leben. Ich bin beeindruckt“, sagte er, als er sich den Motorradhelm aufsetzte und unterm Kinn befestigte. Ihr war beim Klang seiner Stimme nicht ganz klar, ob er das ganz ehrlich oder ein wenig ironisch gemeint hatte.
„Sie sind mir genauso sympathisch“, erwiderte sie nur mit einem vielsagenden Augenaufschlag und drückte sich rasch ihren Helm aufs Haar.
Dann der Heimweg. Zurück nach Stendal. Zwischen den Buchen- und Eichenwäldchen greift die schräg schimmernde Sonne nach ihrem Gefährt. Noch immer lehnt sie zufrieden am Rücken des Fahrers. Gefühle und Gedanken, weit unvergänglicher als himmelgelb blühende Chrysanthemen, die diese Stunden für sie zu haben schienen. Erst am Bahnhof kommt sie zu sich.
Er holt ihr Gepäck und meint: „Ich bringe Sie nach Hause, einverstanden?“
Wohlbekannte Straßenzüge und Häuserfronten, ein vertrauter Gartenweg. Als sie klingeln will, hält der Mann ihre Hand auf. Sie dreht sich um, sagt leise „Danke“. Endlich küssen sie sich. Doch da fliegt die Haustür auf. Zuerst sichtbar ein dicker Strauß gelber Federchrysanthemen. Dahinter ein pfiffiges Jungengesicht.
„Mutti! Vati! Da seid ihr ja! Wir warten schon... Alles Gute zum zwanzigsten Hochzeitstag!“