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ОглавлениеBrief an den Praktikanten …
der Berliner Zeitung
Diesen Brief habe ich in Bezug auf den Artikel „Freitage für die Zukunft“ in der „Berliner Zeitung“ vom 1. März 2019 geschrieben. Ein Schüler fragt sich, ob er lieber zum Unterricht gehen oder an den Freitagstreiks teilnehmen sollte.
Sehr geehrter Herr …,
ich bin zwölf Jahre Schüler gewesen und weiß, wie schön es ist, wenn der Unterricht mal ausfällt. Ich bin auch vierzig Jahre Lehrerin gewesen und kenne dieses Gefühl ebenso für diese Berufsgruppe. Das würde jeder arbeitende Mensch so empfinden, solange sich bei ihm keine finanziellen Verluste ergeben. Wenn der Ausfall jedoch durch das Fernbleiben der Schüler vom Unterricht wegen Streik erfolgt, frage ich mich schon, wem das nützen soll, zumal ich weiß, dass es Schüler gibt, die dem Unterricht fernbleiben, ohne zum Streik zu gehen. Aber das ist ein völlig anderes Problem.
Also bleibt die Frage, wem es nützt.
„Keinem“, sage ich klipp und klar. Dem Lehrer …? Der Schule …? Dem Schüler …? Der Umwelt …? Keinem!!! Es gab Zeiten, da wurde gegen den Unterrichtsausfall gestreikt. Das machte Sinn. Jetzt legitimieren sich Schüler mit einer löblichen Idee, den Unterrichtsausfall hinzunehmen. Und Sie stellen sich jetzt sogar noch vor, das klassenweise möglichst jeden Freitag zu tun. Dafür ist die Schule aber nicht da. Ganz im Gegenteil: Nutzen sie doch das Bildungsangebot so umfangreich wie möglich, werden Sie klug und finden Sie tolle Methoden, um der Umwelt zu helfen, um die Zerstörung der Natur aufzuhalten. Wenn Sie sich den Streiks anschließen wollen, überlegen Sie, wie sehr die Bequemlichkeit und der Wohlstand jedes Einzelnen mit dafür verantwortlich sind, dass es die heutigen Probleme mit der Umwelt gibt. Und wenn Streik, dann müsste es wohl gegen den Wohlstandsanspruch unserer Gesellschaft gehen. Ich sehe auch mich in der Pflicht und versuche mein Leben ökologisch freundlicher umzuorganisieren und meine Ansprüche zu reduzieren.
Eine andere Seite zum Nachdenken: Wie Sie sehr gut bemerkt haben, müssen die streikwilligen Schüler den Unterrichtsstoff selbst nachholen. Richtig! Es ist nicht die Aufgabe der Lehrer, den Lernwilligen zugunsten der Streikenden Bildung zu verweigern. Rechnen Sie sich mal aus, wie viele Stunden das wären, wenn die Stunden von jedem Freitag nachgeholt werden müssten. Wollen Sie zwanzig Jahre zur Schule gehen? Außerdem bleibt ja nur das Wochenende, um den Stoff mühsam aufzuarbeiten.
Also wenn sich die Schüler unbedingt für eine umweltfreundliche Politik einsetzen wollen, können sie das doch gerne tun. Jedes Wochenende, den ganzen Sonnabend und Sonntag und in den Ferien. Nur wenn jemand seine Freizeit dafür opfert, dann wird er für mich glaubwürdig. Alles andere ist Schulschwänzerei. Es gibt auch andere Wege, sich politisch zu engagieren, die die Lehrer ihren Schülern sicher gerne im Unterricht aufzeigen werden. Vielleicht sollten die „aktiven“ Schüler nicht mit Spruchbändern große Sprüche klopfen, sondern sich überlegen, wie und wo man großflächig zum Beispiel Laubbäume anpflanzen kann, vielleicht sogar persönlich.
Apropos persönlich: Wasserverbrauch? Stromverbrauch? Elektronische Geräte? Auto? Essen? Verpakkung? Heizung? Kleidung? (Flug- und Schiffs)reisen? Theater? Konzerte? Kino? …? Wie viel Umweltunfreundlichkeit steckt da drin? Wer würde auf was verzichten? Wir alle sind mitverantwortlich!
Mit freundlichem Gruß und dem Wunsch für verantwortungsvolles Handeln beende ich meine Zeilen.
….
(Die hervorgehobenen Passagen wurden fünf Tage später unter der Rubrik „Leserbriefe“ in der Berliner Zeitung veröffentlicht.)