Читать книгу Sommer am Pont du Gard - Gudrun Lochte - Страница 5

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Kapitel 1

Montag morgen, sieben Uhr. Der Radiowecker spielte ein Lied zum Gute-Laune-Bekommen. Die Sonne schien durch die nicht ganz geschlossenen Gardinen und ihre Strahlen malten Muster auf die Tapete. Christina konnte sich nicht entschließen aufzustehen, und drehte die Musik leiser. Gute Laune hatte sie überhaupt nicht so kurz nach dem Aufwachen. Am liebsten würde sie sich die Decke über den Kopf ziehen und im Bett bleiben. Blinzelnd schaute sie zum Fenster. Die Sonne blendete und sie schloss schnell wieder die Augen. „Lasst mich doch alle in Ruhe“, murmelte sie, drehte sich auf die andere Seite und zog die Decke bis zur Nasenspitze. Um neun Uhr musste sie im Büro sein.

„Bitte, nur noch fünf Minuten“, flüsterte sie.

Der Radiomoderator gab ein paar Scherze zum Besten, spielte das nächste Lied und die Zeit, die sie sich eingeräumt hatte, war ruckzuck um. Christina kam langsam unter ihrer Decke hervor. Schwerfällig erhob sie sich. Sie hatte das Gefühl, Zentnerlasten hingen an ihrem Körper. Barfuß und etwas wackelig auf den Beinen ging sie ins Bad. Aus dem Spiegel schaute ihr ein graues müdes Gesicht mit trüben Augen und stumpfen kraftlosen Haaren entgegen. Die lustige Micky Mouse auf ihrem T-Shirt entlockte ihr kein Lächeln. Sie stützte sich auf das Waschbecken, streckte ihrem Spiegelbild die Zunge raus und senkte den Kopf. Nach einem kurzen Augenblick drehte sie sich um, ließ ihr Shirt mitten im Badezimmer fallen und ging unter die Dusche. Sie stand mit geschlossenen Augen und das warme Wasser lief über ihr Gesicht den Körper hinunter. Wie lange sie da stand, sie hätte es im Nachhinein nicht sagen können. Zum Schluss drehte sie den Kaltwasserhahn auf in der Hoffnung, dass die Lebensgeister wiederkamen. Viel brachte es nicht, das flaue Gefühl in der Magengegend blieb.

Christina beendete ihre Morgentoilette, föhnte die Haare, ein wenig Make-up ins Gesicht und zog sich an. Wahllos hatte sie in den Schrank gegriffen und sich eine weiße Hose und ein buntes Oberteil herausgeholt. Zum Frühstück bekam sie nicht viel herunter. Sie biss nur zweimal vom Toast ab und der Kaffee schmeckte nach irgendetwas, aber nicht nach Kaffee. Den Rest kippte sie in die Spüle.

Es ging ihr seit einigen Wochen nicht gut. Zuerst scheute sie sich vor der Wahrheit. Christina wollte es nicht glauben, Herzrasen, Schwindel, Übelkeit und Kopfschmerzen wechselten sich in schöner Regelmäßigkeit ab. Solange jedes für sich kam, hatte sie versucht es zu ignorieren oder mit Hausmitteln dagegen anzugehen. Als alles nichts half, ging sie dann doch zu einer Ärztin. Aber die fand nichts. In letzter Zeit wurde es immer schlimmer. Vor ein paar Tagen hatte sie sie wieder aufgesucht. Nach einer gründlichen Untersuchung und einer Blutabnahme wurde sie eine Woche später von ihr ins Gebet genommen.

„Frau Bauer, so geht das nicht weiter! Organisch sind sie vollkommen gesund. Ich glaube, Sie müssen mal ausspannen. Haben Sie Stress bei der Arbeit? Gibt es Probleme?“

Christina überlegte. Stress? Probleme? Eigentlich nicht. Nur das Übliche. Wann hatte sie das letzte Mal Urlaub? Es war eine gefühlte Ewigkeit her.

Auf dem Flur schlüpfte sie in ihre Schuhe, griff nach ihrer Handtasche und schaute, ob sie alles hatte. Sie nahm den Schlüsselbund von dem kleinen Regal neben dem Spiegel und verließ die Wohnung.

An diesem Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, nahm sie sich vor, endlich mit Tom, ihrem Chef, zu sprechen. Sie musste unbedingt Urlaub nehmen. Raus aus der Stadt. Abschalten, nichts hören und Sehen vom Verlag.

Nach der Trennung von Marcus und dem Umzug nach Frankfurt vor drei Jahren, hatte sie nur gearbeitet. Sie wollte die unschönen Dinge vergessen. Mit Marcus war sie zwei Jahre zusammen. Sie hatten sich auf einer Party kennengelernt. Er war charmant, gutaussehend und nahm das Leben so leicht. Mit seinem jungenhaften Lächeln kam er überall durch. Alle mochten ihn. Für ihn war das Leben wie ein Spiel.

Christina ließ sich von seiner Art mitreißen. Sie gingen viel aus und trafen sich mit Freunden. Meistens mit seinen. Sie hatte von jeher nie viele Freunde gehabt. Ihre Eltern fanden ihn ganz nett, aber sie wusste genau, dass sie sich ihren zukünftigen Schwiegersohn anders vorgestellt hatten. Gesagt hatten sie aber nie etwas.

Sein Studium hatte Marcus schon mit zwei Semestern überzogen und ein Ende war immer noch nicht in Sicht. Das kümmerte ihn wenig. Von seinen Eltern bekam er jede finanzielle Unterstützung. Die Wohnung, das Auto, es kam ihnen nicht drauf an. Geld spielte keine Rolle. Zuerst fühlte sich Christina von ihm mitgezogen, aber das Leben war nun mal nicht nur Party und gute Laune. Sie konnte nicht jeden Abend unterwegs sein und erst nach Mitternacht ins Bett kommen. Wie sollte sie da am nächsten Tag arbeiten? Das mochte er nicht hören. Immer öfter gerieten beide in Streit, wenn sie mal nicht ausgehen wollte. Das endete dann damit, dass er sie stehen ließ und ging. Plötzlich reagierte er auf ihre Anrufe nicht, er erfand Ausreden.

Eines vormittags saß Christina mit einer Kollegin in einem Café. Sie hatten ihr Meeting dorthin verlegt. Da sah sie Marcus. Er ging auf der anderen Straßenseite mit einer blonden jungen Frau Arm in Arm vorüber. Sie unterhielten sich angeregt und lachten. Christina konnte sich nicht irren, auch wenn der Regen, der am Fenster herunterlief, die Sicht nicht perfekt machte. Sie schluckte und schaute schnell weg. Um sicherzugehen, drehte sie sich noch einmal um. Die junge Frau himmelte ihn regelrecht an. Es war Marcus, gar keine Frage und es war mehr zwischen den beiden. Das war unverkennbar. Als sie ihn bei nächster Gelegenheit darauf ansprach, reagierte er sofort laut und verteidigte sich. Es hatte gar keinen Zweck mit ihm ruhig zu reden. Seiner Meinung nach hatte nur Christina Schuld. Sie war die Spaßbremse, die nicht wusste, wie man lebt und wenn das mit ihnen beiden auf Dauer was werden sollte, dann müsste sie aufhören, ihm hinterher zu spionieren. So dachte er. Sie hatte das Gespräch an diesem Punkt beendet und wollte später noch einmal in Ruhe mit ihm reden.

Marcus ließ ein paar Tage nichts von sich hören. Wie immer, wenn ihm etwas nicht nach seiner Nase ging. Wie ein kleiner bockiger Junge. Die ganze Situation belastete sie. Zwei Wochen nach der letzten Auseinandersetzung hatte Christina endgültig genug und sie sagte ihm, dass es keinen Zweck mehr hatte. Sie beendete die Beziehung. Das kratzte an seinem Ego. Aber das war nicht ihr Problem. Leicht fiel es ihr nicht und doch atmete sie danach auf. Beleidigt, aber ohne viel Aufhebens ging er. Seine Sachen holte er die nächsten Tage aus der Wohnung, immer dann, wenn Christina bei der Arbeit war, um ihr ja nicht zu begegnen. Eines Abends, als sie nach Hause kam, lag sein Wohnungsschlüssel auf der kleinen Anrichte im Flur. Das war es dann also.

Zufällig sah sie die Anzeige von dem Frankfurter Verlag in der Zeitung. War das ein Zeichen? Sollte sie es wirklich versuchen? Vielleicht könnte ihr eine Veränderung guttun. Sie bewarb sich auf die Stelle einer Lektorin, wurde zum Vorstellungsgespräch eingeladen und ein paar Tage später bekam sie die Zusage.

Wie jeden Morgen war der Verkehr in der Innenstadt gruselig. Die Straßen waren voll, es wurde ständig gehupt und ein paar Fahrer meinten, dass die Fahrbahn ihnen gehören würde. Fahrradfahrer schlängelten sich durch die Autos. Sie hatte das Gefühl, dass sie jede Rotphase an den Ampeln erwischte.

Christina merkte, wie ihre Kopfschmerzen anfingen und ihre Schultern sich langsam verkrampften. Sie öffnete das Seitenfenster, um frische Luft hereinzulassen. Wenn sie das Auto stehen gelassen hätte, wäre sie mit dem Bus schneller und stressfreier zu Arbeit gefahren. Endlich hatte sie ihren Parkplatz in der Tiefgarage des großen Bürogebäudes erreicht. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl in die zehnte Etage. Die Tür öffnete sich und schon hörte sie die Telefone klingeln. Monika am Empfang schaute von ihrem Schreibtisch nur kurz hoch und nickte ihr lächelnd zu. Im gleichen Moment öffnete sich am Ende des Ganges eine Tür und Tom kam ihr mit großen Schritten entgegen. Bevor er ihr entwischen konnte, sprach Christina ihn an:

„Tom, hast du ein paar Minuten für mich?“ Er drehte sich um, ohne stehenzubleiben.

„Chris, eben ist es ganz schlecht.“ Er tippte auf seine Armbanduhr.

„Ich habe einen Termin.“ Sein Zeigefinger zeigte nach oben, eine Etage höher. Dort war die Chefetage.

„Sagen wir so in zwei Stunden. Bei mir im Büro?“

Ehe sie antworten konnte, war er schon um die Ecke. So kannten ihn hier alle. Tom war immer in Eile. Langsam ging bei ihm nicht. Alles musste schnell gehen und am besten zwei oder drei Sachen auf einmal.

Dabei wehte sein offenes, zerknittertes Leinenjackett hinter ihm her und seine Haare standen vom Kopf ab, als wenn er in eine Steckdose gefasst hätte.

Christina betrat ihr Büro und machte die Tür zu. Sie ging zum Fenster und schaute eine Weile hinaus über das Häusermeer. Es sah nach Regen aus. Die letzten Tage waren sehr heiß für Juni und eine Abkühlung würde guttun. Zu den Kopfschmerzen kam jetzt wieder die Übelkeit hinzu. Sie schloss die Augen und atmete konzentriert durch die Nase ein und durch den Mund aus. Eine Entspannungsübung, die ihr ihre Ärztin gezeigt hatte. Es war ruhig in ihrem Büro. Auf dem Flur herrschte ein geschäftiges Treiben. Die Telefone standen nicht still, irgendjemand hastete immer von einem Zimmer ins andere. Hier waren die Geräusche nur leise zu hören. Sie setzte sich in den Schreibtischsessel und blätterte in ihrem Terminkalender. Für heute stand nur ein Termin drin. Um zwölf Uhr hatte sie ein Gespräch mit Tom und einigen Kollegen. Ihr blieb genug Zeit zu überlegen, wie sich ihre Arbeit aufteilen ließ, wenn sie einige Wochen nicht da war. Christina wollte Tom eine vernünftige Lösung präsentieren, dann wäre er vielleicht schneller mit ihrem Urlaub einverstanden. Sie hoffte es.

Eigentlich hatte sie gedacht, dass in Frankfurt alles besser werden würde. Nach der Trennung von Marcus wollte sie hier neu anfangen. Ihrer Mutter war es schwergefallen, sie ziehen zu lassen. Sie hatte versucht, sie zum Bleiben zu überreden. Aber Christina brauchte Abstand. Sie hatte sich hier gleich so in ihre neue Arbeit gestürzt und alles andere um sich herum vergessen. Private Kontakte hatte sie immer noch nicht geknüpft. Selten, dass sie mal mit Kollegen in die Mittagspause oder nach der Arbeit was trinken ging. Bei den Telefonaten mit ihrer Mutter merkte sie, dass sie sich Sorgen machte, aber Christina beschwichtigte sie immer. „Es ist alles in Ordnung, es ist alles gut.“ Von wegen alles in Ordnung und alles gut. Sie musste sich endlich eingestehen, dass es ihr nicht gut ging. Vor einigen Wochen in der Mittagspause, als sie sich schnell vom Chinesen etwas holen wollte, hatte sie auf einmal das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Der Schweiß brach ihr aus und sie meinte umzukippen. Ihr Kopf war wie in einem Wattebausch eingepackt und sie konnte nicht mehr richtig hören. Alles war so weit weg. Sie setzte sich mit gesenktem Kopf auf die Mauereinfassung eines Blumenbeetes in der Fußgängerzone und atmete gleichmäßig ein und aus. Die Leute hasteten an ihr vorüber. Niemand sah sie. Nur eine junge Frau blieb stehen, beugte sich besorgt zu Christina herunter und fragte, ob sie ihr helfen könne.

„Das ist sehr freundlich von ihnen, aber es geht gleich wieder“, sagte sie und rang sich ein winziges Lächeln ab.

Die Frau nickte, schaute sie einen Moment unschlüssig an und ging dann aber weiter. Langsam wurde es besser. Christina erhob sich, der Hunger war ihr vergangen. Sie machte sich auf den Rückweg zum Büro. Blass setzte sie sich hinter ihren Schreibtisch. An Arbeit war nicht mehr zu denken. Diese Situation hatte den Ausschlag gegeben, sie wollte ihre Beschwerden nicht mehr auf die leichte Schulter nehmen.

Es klopfte an der Tür, Christina schreckte aus ihren Gedanken hoch. Nach kurzem Zögern trat Monika ein. Sie schaute sie besorgt an.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie leise. Christina nickte nur.

„Dein Telefon ist noch nicht umgestellt. Tom rief an. Du bist mit ihm verabredet. Er fragt, ob es auch viertel vor zwölf geht. Er schafft es nicht eher.“

„Ist gut, danke Monika“, sagte sie leise.

„Ist wirklich alles in Ordnung?“, vergewisserte sich die Kollegin noch einmal. Christina stand auf und ging zum Fenster. Sie schaute sekundenlang gedankenverloren hinaus und sagte mit müder Stimme: „Ich muss einfach mal raus.“

„Kann ich verstehen. Seitdem du hier bist, hattest du nicht einen Tag Urlaub.“

„Fragt sich nur, ob Tom das auch so sieht.“ Christina drehte sich um und schaute Monika etwas verloren an. Diese war schon fast an der Tür.

„Das wird er bestimmt. Sei nicht böse, ich muss wieder nach vorne. Vergiss nicht, dein Telefon umzustellen.“ Sie zeigte auf den Apparat, winkte noch einmal kurz und war schon draußen.

Monika war die Einzige, mit der sie mal privat ein paar Worte wechselte, befreundet wäre zu viel gesagt und eigentlich wusste sie nichts von ihr. Sie hatten beide fast zur gleichen Zeit angefangen und verstanden sich gut. Mit den anderen Kolleginnen und Kollegen sprach sie nur beruflich. Christina schaute auf die Uhr. Sie musste unbedingt noch einige Sachen erledigen.

Tom saß an seinem Schreibtisch und hatte die Unterschriftenmappe vor sich. Hastig unterschrieb er die Papiere. Den ganzen Morgen hatte er in der Vorstandsetage zugebracht. Es wurden die Verkaufszahlen des letzten Quartals besprochen. Der Druck war enorm. Die Zahlen mussten immer besser werden. Es war ein hart umkämpftes Geschäft. Tom schaute auf die Uhr. Gleich kam Christina. Was sie so dringendes von ihm wollte? Sie gefiel ihm gar nicht in letzter Zeit. Sie war so blass und ernst. Als sie vor drei Jahren hier anfing, war sie so energiegeladen und ging immer mit einem lachenden Gesicht über den Flur. Nach dem Vorstellungsgespräch damals wusste er sofort, dass sie die Richtige war und in das Team passte. Ihre Art hatte es ihr leicht gemacht, schnell Fuß zu fassen. Davon war nichts geblieben. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Gabi, seine Frau, würde jetzt sagen, dass er ein Einfühlungsvermögen wie eine Dampfwalze hätte.

Es klopfte. Nach seinem „Herein“ trat Christina ein. Tom sprang auf und ging ihr entgegen.

„Chris, entschuldige, aber es ging nicht anders. Komm, setz dich.“

Sie setzte sich in einen Sessel der Ledergarnitur in die Besucherecke. Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Tom gab ihr ein Zeichen, dass er das Gespräch noch schnell entgegennehmen wollte. Christina nickte. Er fasste sich kurz und danach nahm er ihr gegenüber Platz.

„Möchtest du einen Kaffee oder ein Glas Wasser?“, er zeigte auf das Tablett auf dem Tisch, wo alles bereit stand. Christina schüttelte den Kopf. „Was wolltest du mit mir besprechen?“

Er setzte sich in seinem Sessel zurück, schlug ein Bein über das andere und schaute sie abwartend an.

„Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.“ Sein Ton war locker.

„Wie man es nimmt, Tom.“ Christina machte eine Pause.

Ihr Blick ging zu dem Bild mit den Mohnblumen an der Wand gegenüber. Bevor sie es sich anders überlegen konnte schaute sie ihn wieder an und sprach sie schnell weiter:

„Ich brauche Urlaub, Tom. Ich war letzte Woche bei meiner Ärztin und sie hat mir dringend geraten, mal auszuspannen.“

„Christina, das kann ich gut verstehen, aber eben ist es schlecht. Das verstehst du doch, oder?“ Tom beugte sich nach vorn, die Arme auf den Oberschenkeln. Mit beschwörender Stimme sprach er weiter: „Du weißt, um was es nachher in der Besprechung geht. Ich brauche dich! Sagen wir“, er überlegte, „in sechs Wochen. Da sieht die Sache schon wieder etwas anders aus.“ Er schaute sie besorgt an.

„Das muss diesmal ohne mich gehen, Tom. Wer weiß, was in sechs Wochen wieder ist. Ich habe eine Weile gebraucht, aber jetzt ist mir klar, dass ich so nicht weitermachen kann. Seitdem ich hier bin und das sind über drei Jahre, habe ich noch keinen Urlaub genommen. Ich arbeite von morgens bis spät abends. Meine Wohnung sehe ich nur zum Schlafen.“

Tom stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. Er stand mit dem Rücken zu ihr, die Hände verschränkt. Er musste sich eingestehen, dass Christina wirklich nicht gut aussah. Sie war sonst immer zur Stelle, wenn man sie brauchte. Sie bestand so darauf, dann hatte das seinen Grund. Es dauerte eine Weile, bis er sich durchringen konnte und antwortet.

„Also gut, vierzehn Tage“, sagte er mit ruhiger Stimme.

„Nein, wenigstens vier Wochen!“

Ruckartig drehte er sich um. Er wollte gerade zum Sprechen ansetzen, aber sie kam ihm zuvor.

„Es nützt dir doch nichts, wenn ich schlechte Arbeit abliefere. Soweit will ich es erst gar nicht kommen lassen“, sagte Christina schnell und eindringlich.

Sie schaute ihm in die Augen und zog ein Blatt Papier aus der Mappe, die sie mitgebracht hatte.

„Ich habe hier aufgeschrieben, wie es in den nächsten Wochen laufen könnte.“

Tom nahm ihr das Blatt aus der Hand und überflog es. „Gute Arbeit. Du hast an alles gedacht.“

„Dann bist du damit einverstanden?“

Er schaute sie ernst an. „Ok. Wann willst du gehen?“, fragte er ruhig.

„Sofort!“

„Was“, kam es wie aus der Pistole geschossen, dann nach kurzem Überlegen machte er eine kleine Kopfbewegung: „Verschwinde“, sagte er mit einem Lächeln. Sie stand auf, ging zu ihm und umarmte ihn.

„Danke.“

Als Christina aus dem Zimmer war, stand Tom immer noch mitten im Zimmer. Er schaute auf die geschlossene Tür, durch die Christina gerade raus war. Mit allem hatte er gerechnet, mit mehr Gehalt, einem größeren Büro. Sie hätte es sogar bekommen. Aber damit nicht. Er hatte nicht bemerkt, dass es ihr so schlecht ging. Sie hatte ja Recht, sie hatte tatsächlich wahnsinnig viel gearbeitet. Das hier war quasi ihr zweites zu Hause geworden und sie ging immer als eine der Letzten. Seine Frau wird ihm den Kopf abreißen, dass er Christina nicht schon früher ausgebremst hatte. Die beiden hatten sich auf der Gartenparty zu seinem fünfzigsten Geburtstag kennengelernt und gleich verstanden. Jetzt fiel ihm ein, dass er Christina damals richtig überreden musste zu kommen.

Draußen hatte es angefangen zu regnen. Die Sonne, die am Morgen noch schien, hatte sich hinter graue Wolken verkrochen. Tom schaute auf die Uhr und stellte fest, dass er schon fünf Minuten über der Zeit war. Rasch nahm er seine Unterlagen vom Schreibtisch und hastete aus dem Zimmer zur nächsten Besprechung.

In ihrem Büro angekommen, ließ sich Christina in ihren Schreibtischsessel fallen. Geschafft! Es war dann doch nicht so schwierig gewesen, wie sie vorher gedacht hatte. Auf Tom konnte sie sich verlassen. Bei all ihren bisherigen Entscheidungen stand er immer hinter ihr. Sie griff zum Telefon und stellte es wieder um. Hier würde die nächsten vier Wochen kein Gespräch ankommen. Bevor sie zu Tom gegangen war, hatte sie noch wichtige Mails geschrieben und ihren Tisch aufgeräumt. Sie nahm ihre Sachen und einige Papiere und ging aus dem Zimmer Richtung Ausgang. Monika am Empfang legte gerade den Telefonhörer auf.

„Na, wie ist es gelaufen?“ Sie schob ihre Brille hoch auf den Kopf und schaute Christina erwartungsvoll mit großen Augen an.

„Ich mache jetzt erst mal vier Wochen Urlaub. Es ist alles geregelt. Kann ich das bei dir lassen?“ Sie reichte ihr die Unterlagen über den Tresen.

„Derjenige, der meine Vertretung übernimmt, wird sie brauchen.“

„Aber klar, ich lege sie solange in den Schrank. Ich freue mich so für dich. Komm her.“

Monika kam um den Tresen herum und nahm Christina in den Arm. Eine ungewöhnliche Situation. Für beide. So nah standen sie sich nicht.

„Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann ruf mich an. Warte, ich schreibe dir meine Handynummer auf.“

Sie griff zu einem Zettel und Stift, kritzelte ein paar Zahlen darauf und drückte ihn Christina in die Hand.

„Jederzeit hörst du!“

„Danke.“

Christina steckte den Zettel etwas achtlos in die Hosentasche.

„Weißt du schon, wo du hin willst?“ Monika schaute sie fragend an.

„Ich weiß es nicht. Mal schauen.“

Christina ging zur Tür, drehte sich noch einmal um und winkte ihr zu. Als die Tür sich hinter ihr schloss und sie langsam zum Fahrstuhl ging, kam es ihr ganz unwirklich vor. Noch nie war sie um diese Uhrzeit aus dem Büro gegangen, um nach Hause zu fahren.

Dreimal fuhr Christina um den Block, bis sie einen Parkplatz gefunden hatte. In dem alten Frankfurter Stadtteil war es immer schwierig. Vor drei Jahren war sie froh, dass sie so eine bezahlbare Wohnung gefunden hatte. Sie schloss die Tür auf und es empfing sie eine bedrückende Stille. Ihre Tasche ließ sie im Flur am Garderobenhaken und ging ins Wohnzimmer. Sie machte die Balkontür auf. Nach dem Regen die frische Luft reinzulassen, tat gut. Tagelang stand die Hitze in den Straßen und dabei war es doch erst Juni. Was nun? Sollte sie ins Reisebüro gehen oder im Internet nach einem Reiseziel schauen. Aber auf diese Touristenangebote hatte sie überhaupt keine Lust. Nur nichts überstürzen. Am besten, sie rief erst einmal ihre Mutter an.

Ihr würde ein Stein vom Herzen fallen, wenn sie hörte, dass sie sich eine Auszeit genommen hatte. Christina griff zum Telefon. Ihre Mutter war bestimmt in der Galerie. Es klingelte ein paar Mal, bis sie dran ging.

„Hallo Mama.“

„Christina, du um diese Uhrzeit? Ist alles in Ordnung?“, fragte sie verwundert.

„Mach dir keine Sorgen. Ich habe mir jetzt vier Wochen Urlaub genommen.“

Als ihre Mutter das hörte, atmete sie erleichtert auf. Christine hörte es durch das Telefon. „Na, Gott sei Dank. Es wird aber auch Zeit!“

„Ja, du hast ja Recht. Ich habe es selbst gemerkt in letzter Zeit.“ Christina verzog etwas das Gesicht. Mütter!

„Weißt du denn schon, was du machen willst? Hast du ein Ziel?“

„Nein, ich habe noch keine Ahnung. Irgendetwas wird sich finden. Ich wollte dir nur erst einmal Bescheid geben.“

„Du kannst doch zu uns kommen. Im Garten faulenzen, schön an der Elbe spazieren gehen.“

Christina lächelte. Ihre Mutter hätte sie gerne mal wieder ein paar

Tage oder gar Wochen zu Hause, um sie zu bemuttern.

„Das ist lieb, Mama. Wenn ich mich entschieden habe, melde ich mich wieder. Grüß Papa von mir. Bis bald.“

Christina trat auf den Balkon und atmete tief die frische Luft ein. Der Regen hatte aufgehört und die Sonne kam langsam wieder vor. Sie schaute hinunter auf die Straße. Vorne an der Kreuzung war ein kleines Bistro. Warum sollte sie um diese Uhrzeit nicht einen Kaffee trinken gehen. Immerhin hatte sie Urlaub.

Eine junge Frau wischte gerade Tische und Stühle trocken. Christina suchte sich einen Platz mit Blick auf die Straße. Es war ein schönes altes Viertel, in dem sie wohnte mit viel Grün. Die Häuser wurden in den letzten Jahren aufwändig restauriert und dementsprechend waren die Mieten gestiegen. Freie Wohnungen, die bezahlbar waren, gab es nicht wie Sand am Meer. Christina schaute in die Karte. Die Bedienung kam an ihren Tisch.

„Was kann ich Ihnen bringen?“

Die junge Frau hatte ihre langen braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengenommen und sie trug zerschlissene Jeans und ein weißes Shirt.

„Ich hätte gerne einen großen Cappuccino und ein Schinkensandwich.“

"Gerne."

Wieder alleine, legte sie ihren Kopf zurück und schaute zum Himmel. Die Sonne wärmte ihr Gesicht. Einfach mal nichts tun und an nichts denken. In letzter Zeit fuhren ihre Gedanken oft genug Karussell und es kam wenig dabei heraus. Immer die gleiche Gedankenschleife. Die Bedienung kam und brachte den Cappuccino und das Sandwich.

„Guten Appetit“, sagte sie freundlich lächelnd und drehte sich zum Gehen um.

„Entschuldigen Sie, darf ich Sie etwas fragen?“ Die junge Frau blieb stehen und sah Christina fragend an.

„Wenn Sie von jetzt auf gleich Urlaub machen könnten, wo würden sie ganz spontan hinreisen?“

„Oh, das wäre zu schön, um wahr zu sein. Da brauche ich gar nicht lange überlegen. Ich liebe Südfrankreich und war schon einige Male dort. Wenn Sie Land und Leute kennenlernen möchten, dann nehmen Sie sich eine Wohnung oder ein kleines Häuschen. Kein Hotel, das ist zu unpersönlich.“

„Das hört sich gut an.“

„Es würde Ihnen bestimmt gefallen.“

„Danke.“ Christina war wieder allein und genoss ihren Cappuccino und das Sandwich. Südfrankreich, das hörte sich gut an.

Wieder zurück in der Wohnung nahm sie sich ihren Laptop. Sie wollte schauen, ob sie ein schönes Ziel im Süden Frankreichs fand. Was konnte der Ausgangspunkt der Suche sein. Welchen Suchbegriff sollte sie eingeben, um auf entsprechende Seiten zu kommen. Sie hatte keine Lust, das ganze Internet zu durchforsten. Es fiel ihr der Pont du Gard ein. Weil sie die letzten Jahre überhaupt nicht spontan war, wollte sie gleich auf der ersten Seite die Stadt oder den Ort nehmen, der ihr zuerst in die Augen fiel. Sie gab den Suchbegriff ein und öffnete gleich die erste Seite.

U Z È S - in der Nähe vom

Pont du Gard.

Sommer am Pont du Gard

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