Читать книгу Blutkirsche - Gudrun Weitbrecht - Страница 10
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ОглавлениеGünther Wöhrhaus wachte verkatert auf und schaute auf die antike englische Schreibtischuhr. Erst kurz nach sechs. Er hatte auf dem Ledersofa schlecht geschlafen – kein Wunder! Nach dem Telefonat am gestrigen Vormittag mit seiner Hausbank, bei dem er einen Aufschub und einen neuen Kredit verlangt hatte, und der Sachbearbeiter nur laut höhnisch auflachte, saß er bis in die Nacht hinein über seinen Konten. Der siebzig Meter hohe Glastower, in dem sich sein Büro befand, lag an der Heilbronner Straße und trug ein imposantes Dachsegel. Eine stählerne Fußgängerbrücke auf der linken Seite des Hochhauses überspannte die Eisenbahngleise bis in den Rosensteinpark. Die Brücke gegenüber führte an der Stadtbahnhaltestelle zum Wartberg ins ehemalige Gebiet der Internationalen Gartenausstellung. Aber hier oben hörte er die Züge und Stadtbahn nicht. Von seinem Fenster im oberen Stockwerk – Ausblick, Weitblick, Rundblick – sah er auf seinen Claim, die Baugrundstücke von Stuttgart 21. Jedes Mal, wenn er hinausschaute, sank seine Laune ins Bodenlose, so bodenlos wie das Minus auf seinen Konten.
Ausgerechnet jetzt gähnte auch in seinem Humidor die Leere, er hatte alle Cohibas aufgeraucht und so musste er sich gestern mit mehreren Gläsern Glen Elgin, dem sauteuren Manager-Choice-Whisky begnügen. Er war danach einfach zu müde gewesen, um nach Hause zu fahren, und hatte sich aufs Ohr gelegt. Bevor seine Sekretärin am Montag kam – er schuldete ihr zwar nur einen Monatslohn, aber sie sah ihn schon ganz misstrauisch an – musste er unbedingt die brisanten Ordner im Computer verschlüsseln.
Da zur Büroetage auch ein komfortabler Waschraum gehörte, konnte er sich nachher frisch machen. Später würde er in einer Espressobar in der Innenstadt frühstücken.
Es sah nicht gut aus, im Gegenteil. Wenn jetzt nicht ein Wunder geschah, würde er Insolvenz anmelden müssen. Er machte sich Sorgen, aber weder um seine Arbeiter auf den Baustellen noch kümmerten ihn die Büroangestellten, denen er sogar drei Monatsgehälter schuldete, oder deren fällige Beiträge zur Krankenkasse und Rentenversicherung – er machte sich Sorgen um sich. Was würde aus ihm werden, wer würde zu ihm halten, wenn er kein Geld mehr hatte, wenn es rauskäme? Seine Parteifreunde wohl eher nicht, die ließen ihn fallen und seinen schon angemeldeten Anspruch auf ein Bundestagsmandat ignorieren. Nichts war so schnelllebig wie eine politische Karriere.
Die paar Euro, die er in der Schweiz gebunkert hatte, lagen gut, er wollte sie nicht anrühren. Der Insolvenzverwalter und der Fiskus würden sich riesig freuen, wenn plötzlich Geld auftauchte.
Wenn er seinen Lebensstil beibehalten wollte, musste er Geld auftreiben, aber wo?
Sein Loft, das er im Westen in einem ehemaligen Fabrikgebäude gebaut hatte, belasteten Hypotheken. Der Porsche stand in der Garage eines Pfandhauses. Seinen Mercedes brauchte er.
Sparen, aber wie? Am Pflegeheimplatz seiner Mutter wollte und konnte er nicht sparen. Er schuldete ihr Dank, sie hatte es nie leicht gehabt.
Nie mehr im Leben arm sein – dies schwor er sich als Kind, damals als er sein Pausenbrot nur mit Marmelade, ohne Margarine, geschweige denn Butter darauf, verzehrte. Er erinnerte sich noch wie heute an das Gelächter seiner Mitschüler: „Der hat ja noch nicht mal Butter drauf.“
Irgendwie hatte es seine Mutter dann doch geschafft, ihm den Besuch des Gymnasiums zu ermöglichen. Für seinen Vater war das Gymnasium Humbug. „Wozu braucht der Abitur? Will nicht schaffen und was Besseres werden als wir“, brüllte er durch die Wohnung. Günther verachtete ihn.
Bei Klassenfahrten und Freizeiten musste er zu Hause bleiben. Am Anfang des Monats, wenn der Alte den Lohn noch nicht versoffen hatte, und seine Mutter heimlich Geld abzweigen konnte, durfte er ab und zu ins Kino. Fasziniert von den französischen Nouvelle-Vague-Filmen, von Chabrol, Louis Malle und Truffaut, vergaß er sogar sein ärmliches Zuhause, seine verhärmte Mutter und den ewig betrunkenen Vater. Seine Lieblingsschauspielerin war Romy Schneider, nicht als Sissy, sondern als gereifte Schauspielerin, aus dem Swimmingpool steigend. Genau so sexy wie Marilyn Monroe in ihrem letzten unvollendeten Film. Natürlich war er damals viel zu jung gewesen, aber der Bruder seines besten Kumpels schleuste ihn ins Kino hinein. Der saß sozusagen an der Quelle, konnte alles anschauen, weil er die Filmrollen einlegte. Seit dieser Zeit bezeichnete Günther sich als Cineasten. Die Begeisterung für das Kino hatte er mit Anne, seiner geschiedenen Frau, geteilt. Aber gegenüber früher stellte ein Kinobesuch für ihn heute kein Vergnügen mehr dar. Die meisten Säle waren zu groß, die Zuschauer mampften Nachos oder Popcorn, es müffelte nach billigem Käse, und das Knistern und Rascheln der Tüten übertönte die Dialoge. Handys klingelten, Teppichboden und Sitze klebten von verschüttetem Cola.
Günther dachte an die Zeit während seines Studiums, als Kinos noch Lichtspieltheater hießen, und es ein gesellschaftliches Ereignis gewesen war, sich die neuesten Produktionen anzusehen. Während er damals gebannt auf die Leinwand schaute, konnte er sich kein Popcorn oder das Eiskonfekt leisten, das zwischen den Reihen aus einem Bauchladen heraus verkauft wurde.
Seitdem er ein Heimkino besaß, holte er sich die DVDs nach Hause, aber es war nicht dasselbe Erlebnis wie im Kinosaal. Einen ganzen Saal nur für sich zu mieten, kam für ihn als Schwabe nicht infrage.
Eigentlich wollte er Filmregisseur werden – der ‚Steven Spielberg‘ vom Nesenbach. Als seine Mutter ihm riet, er solle lieber etwas Bodenständigeres studieren, Architektur oder ein ähnliches Fach, denn gebaut würde immer, nahm er von seinem Traum schweren Herzens Abschied.
Er dachte an seine Studentenzeit, als er während der Semesterferien als Maurer, später als Polier in einer Baufirma schuftete. Er hatte jeden Pfennig gespart, die richtige Nase gehabt, spekuliert und so seine erste Million gemacht. Heute gehörte ihm die Firma, in der er früher Steine schleppte. Er hatte es dem Alten, diesem Saufkopf gezeigt. Vom Maurer zum Millionär! Es gab sie, diese Karrieren, nicht nur in Amerika, er war der lebende Beweis. Aber nun ging es bergab. Wie lange würde er seine Firma noch halten können?
Schon jetzt verschlangen die Kreditzinsen Unsummen. Sein Geld lag buchstäblich in der Erde. In den Grundstücken rund um den Bahnhof, die er nach einem Insidertipp gekauft hatte, lange bevor der Vertrag der Stadt mit der Bahn über Stuttgart 21 auf dem Tisch lag. Und jetzt war es fraglich, ob das Bauvorhaben überhaupt zustande kam. Ein Milliardenprojekt – der Kopfbahnhof sollte verschwinden, die Gleise unter die Erde verlegt werden, damit die Züge durchfahren konnten. Ein riesiges Kuppeldach würde den neuen Bahnhof überspannen. Dazu brauchte es Platz, Häuser, ja ganze Straßenzüge, ein Teil des Parks mussten verschwinden, wurden untertunnelt. Das ganz große Geld würde er mit seiner Baufirma, falls dort je gegraben wurde, verdienen. Ein gigantisches Projekt. Er hatte es schon ausgerechnet: Wenn er durch einen Strohmann eine Scheinfirma gründete, damit genug ausländische Arbeiter anwarb, die keiner Gewerkschaft angehörten und nicht den regulären Lohn bekamen, war es leicht, die Ausschreibungen zu unterbieten. Sein Kontakt würde ihm die Höhe der Angebote anderer Bewerber mitteilen.
Ihn ärgerte es, dass der Unmut gegen die Pläne wuchs, mehr als 60 000 Unterschriften der Gegner waren zusammengekommen, und mit jedem Tag wurden es mehr. Nach der Wahl konnte sich die Zusammensetzung des Gemeinderats ändern, und alles würde wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Gab es nicht auch Erben des Architekten Bonatz, dem Erbauer des Bahnhofs, die eine Urheberrechtsklage einreichen konnten? Alles schien zum jetzigen Zeitpunkt fraglich. Er hatte auf sein Glück gebaut, das ihm bis vor kurzem gewogen gewesen war.
Aber nun schien es ihn zu verlassen, das Geld, das er bei der Real Estate angelegt und einem Hedgefond-Manager anvertraut hatte, war den Bach runter. Futsch! Wie konnte er nur auf die windigen Versprechungen hereinfallen? Hatte seine Gier ihn unvorsichtig werden lassen?
Und nun wollte ihn noch der Kohl im Stich lassen. Wollte einfach nicht mehr mitmachen.
Nein, er würde nie mehr arm sein − und wenn er über Leichen gehen musste. Heute noch musste er die Sache erledigen, viel zu lange hatte er es vor sich hergeschoben.
Wilma lief schneller, immer schneller, so als könne sie beim Laufen alles vergessen. Den Waldweg von Botnang entlang des Feuerbachs kannte sie in- und auswendig. Nach dem nächtlichen Regen war er heute Morgen besonders schlammig und glitschig. Ab dem Hundeplatz belegte wenigstens Schotter den Pfad. Dieses Stück konnte sie schneller laufen.
Wilma befürchtete, zu stürzen und sich zu verletzen. Das konnte böse ausgehen, wie sie aus ihrer Erfahrung als Krankenschwester in der chirurgischen Abteilung wusste. Aber sie trainierte häufig, also bestand wahrscheinlich kein Grund zur Sorge. Sie fühlte sich unbeschwert und genoss das Joggen an solchen Morgen, an denen kaum Menschen unterwegs waren. Heute hatte sie einen freien Tag. Mal keine Urinalflaschen leeren oder quengelige Patienten hochheben und waschen! Die Vorstellung, dies noch bis zum Rentenalter mit siebenundsechzig tun zu müssen, empörte sie maßlos. Keine Kollegin, die sie kannte, würde diese mental und körperlich schwere Arbeit bis dahin durchhalten. Wenn sie früher aufhören wollte, musste sie Kürzungen ihrer Rentenansprüche hinnehmen. Ein sorgenfreies Leben würde mit dem bisschen Geld nicht möglich sein.
Früher arbeitete sie im Feuerbacher Krankenhaus. Aber nun war das Krankenhaus geschlossen und sollte abgerissen werden.
Erst wurde das Gebäude für über drei Millionen saniert und nach zwei Jahren vom Gemeinderat als nicht mehr zeitgemäß erklärt. Trotz schwarzer Zahlen und der international anerkannten Operationserfolge des Chefarztes. Ein Schildbürgerstreich, fand Wilma. Dem Gemeinderat konnte es egal sein, dass die Patienten nach der Zusammenlegung im Cannstatter Krankenhaus auf den Fluren campieren mussten.
Wilmas Atem kam jetzt stoßweise und ihr Pferdeschwanz, zu dem sie das lange Haar zusammengebunden hatte, wippte bei jedem Laufschritt mit. Der Tau stieg auf und ihr Anzug fühlte sich mit einem Mal klamm an.
Inzwischen floss Schweiß vom Gesicht in die Halskuhle und vom Nacken über den Rücken. Auf ihrem T-Shirt bildeten sich Salzränder. Trotzdem schlug ihr Puls gleichmäßig schnell, sie fühlte sich fit wie schon seit Tagen nicht. Sie hörte ein Keuchen hinter sich, Schritte auf dem Schotterboden. Als sie sich umdrehte, sah sie niemanden. Spielten ihre Sinne verrückt?
Wie aus dem Nichts, in der Biegung des Pfades, überholte sie eine unbekannte Joggerin, tauschte kurz einen stummen Gruß mit ihr und verschwand bei der nächsten Gabelung. Eigentlich wollte Wilma nun bergauf die enge kopfsteingepflasterte Straße entlanglaufen – ihr Weg zur Kleingartenanlage, aber plötzlich sah sie eine silberfarbene S-Klasse auf sich zurasen. Der Fahrer kam ihr bekannt vor, obwohl er eine Sonnenbrille und eine Baseballkappe trug. Wilma stoppte gerade noch rechtzeitig und drückte sich an den Heckenrand, bemerkte im gleichen Augenblick, dass sie auf etwas Weiches getreten war. Sie hob den rechten Fuß hoch und entdeckte einen braunen Haufen unter ihrer Schuhsohle. Bis jetzt hatte sie den vielen Kotspuren, die auf dem Weg zum Hundeplatz lagen, ausweichen können. „Verfluchte Kacke, da kann ich wieder stundenlang putzen“, schimpfte sie laut vor sich hin. „Was soll’s? Heute ist Schluss. Ich muss das ein für alle Mal zu Ende bringen.“
„Ma, warum bist du denn schon auf? Es ist doch erst sieben Uhr?“ Julian, Annes fünfzehnjähriger Sohn, stand in der Tür und rieb sich schlaftrunken die Augen. „Machst du mir Frühstück? Heute ist Abschluss der Projektwoche, wir proben zwar erst um neun Uhr, aber ich will ein bisschen früher da sein. Du kommst doch heute Nachmittag um vier?“
Anne wusste nur über die Projektgruppe, dass sie tatsächlich auch am Samstag stattfand – an sich schon außergewöhnlich – und dass Julian in einer Band spielte. Am Nachmittag sollte im Schulhof ihres Sohnes die Vorstellung aller Arbeitskreise sein. Die Eltern waren eingeladen. Sie hatte sich den Termin notiert. Hoffentlich kam nicht wieder etwas dazwischen.
Das Gymnasium lag nicht weit entfernt, oft nahm Julian auch das Fahrrad, was Anne zu gefährlich fand. Radwege gab es in Feuerbach nur wenige und wenn doch, dann endeten die irgendwann im Nichts. In der Zeitung stand, die Landesregierung wolle Baden-Württemberg zum Fahrradland Nummer eins machen. Aber dieses Programm würde in Stuttgart aufgrund leerer Haushaltskasse und der topografischen Lage nicht fruchten, selbst dann nicht, wenn es einen Fahrradbeauftragten des Gemeinderats gab.
Anne musste jetzt schmunzeln. Sie konnte sich denken, warum ihr Sprössling es in letzter Zeit so eilig hatte, in die Schule zu kommen. Da gab es dieses Mädchen – Julian war zum ersten Mal verliebt.
Seit Wochen verbrachte er mehr Zeit als früher im Bad. Zum ersten Mal war es ihm wichtig, welche Klamotten und Sneakers er trug. Noch vor einem Jahr hatte sie ihm alle Kleidung ohne Anprobe besorgt, nun ging das nicht mehr. Die neueste Mode der Kids waren Chucks, Schuhe aus Leinen in den verschiedensten Farben und knöchelhoch − manche Jugendlichen trugen sie sogar bei Schnee und Eis. Im Winter stieg Julian wenigstens auf die lederne gefütterte Version um, solche trug auch Will Smith in ‚I Robot‘, fiel Anne ein.
Ihr Sohn setzte sich und legte sein Handy neben sich auf den Tisch. Aha, dachte Anne, er wartet auf eine Nachricht, es hat keine Zeit bis zur Schule!
Wenn Julians Handysound ertönte, schloss er sich in sein Zimmer ein, um zu telefonieren. Einmal hatte das Festnetztelefon im Flur geklingelt und eine helle Mädchenstimme, eine Maria, hatte nach Julian verlangt. Als Anne vorsichtig fragte, wer sie denn sei, errötete ihr Sohn.
„Bring sie doch mal mit!“, hatte sie ihn aufgefordert. Es war ihr lieber, dass die beiden sich in der Wohnung aufhielten, als sich wie andere Jugendliche nachts auf dem Spielplatz beim Rathaus oder auf dem Wilhelm-Geiger-Platz zu treffen und dort herumzulungern. Sie hatte auf ihren Vorschlag, Maria mitzubringen, nur ein „Aber Ma, das sind Lans, die da rumhängen. Irgendwann bringe ich Maria mit, so viel Vertrauen musst du zu mir haben!“ gehört.
Bevor es zu spät war, musste unbedingt das Thema Verhütung angesprochen werden. Anne wusste nicht, wem es peinlicher sein würde, ihr oder Julian.
„Notiert, sechzehn Uhr. Aber falls etwas dazwischenkommt ...“
„Ja, ich weiß, deine Verbrecher gehen vor“, entgegnete Julian und verzog beleidigt sein Gesicht.
„Ja, denn damit verdiene ich mein Geld!“, antwortete Anne. Sie fühlt sich zu unrecht angegriffen, wollte aber gleichzeitig einlenken und fragte: „Cornflakes und Orangensaft. Richtig? Und als Pausenbrot?“
„Ma! Kein Pausenbrot! Ich hole mir was aus der Cafeteria!“, entrüstete sich Julian, dabei futterte er die Frühstücksflocken in Windeseile.
„Schling nicht so und nimm dir wenigstens einen Apfel mit!“
Zärtlich wuschelte Anne Julians tiefschwarzes kinnlanges Haar, das, wenn die Sonne darauf schien, einen bläulichen Schimmer zeigte.
„Lass das“, brummte er.
Pubertät! Anne seufzte innerlich und verdrehte die Augen. Sie steckte eine Weißbrotscheibe in den Toaster und legte noch einmal eine Kaffeekapsel in die Espressomaschine.
„Ich werd’ nächste Woche in der Schule essen – Oma braucht also für mich nicht zu kochen. Die Spaghetti sind bei ihr immer ganz weich.“
Den von Eltern eingerichteten Mittagstisch – Mütter und Väter kochten selbst die Mahlzeiten in der Schulküche – nahm Julian in letzter Zeit gerne in Anspruch. Anne war sich sicher, den Grund zu kennen – Julian wollte länger mit Maria zusammen sein.
Sie selbst hatte dort nur einmal gekocht. Aber als Julian regelmäßig Schulkameraden zum Mittagessen mit nach Hause nahm und ihre Mutter klagte, sie könne gar nicht so viel kochen, die Jungen würden wie die Scheunendrescher essen und ihr die Haare vom Kopf futtern, hatte Anne es nicht eingesehen, weiterhin aktiv zu bleiben. Außerdem gab es genügend ‚Nur-Hausfrauen‘ unter den Müttern.
„Am Montag ist Elternsprechtag! Um acht. Du wolltest doch hin, um dich zu beschweren – wegen dem blöden Pauker!“, erinnerte Julian sie im Hinausgehen. Anne wusste, worum es ging. Ein Lehrer, eindeutig ein Choleriker, hatte die Angewohnheit, Schlüssel in Richtung Schülerköpfe zu werfen. Manchmal flogen auch Bücher durch die Luft. Julians Motivation und Noten in diesem Fach waren seit Anfang des Schuljahres deutlich gesunken. Dafür stand er in Englisch immer auf Eins, seine Angewohnheit, amerikanische Filme in Originalton anzusehen, zahlte sich aus. Zu etwas war das Kabelfernsehen wenigstens nützlich!
Anne nahm ihren Palm, den Handheld-Computer, den sie immer bei sich trug und der nun neben der Butter auf dem Küchentisch lag, in die Hand und tippte ihren Terminkalender an.
Für Montagabend gab es nur den einen Eintrag: ‚Schule‘. Sie drehte das Küchenradio lauter. Im Wetterbericht hieß es: sonnig – Temperatur bis zu 28 Grad. Endlich! Der April war zu nass gewesen.
Jetzt erst mal in Ruhe zu Ende frühstücken, die Zeitung durchblättern, hinterher duschen und anziehen. Sie fühlte sich mit einem Mal gut, das schöne Wetter tat sein Übriges. Vielleicht sollte sie ihren Lustkauf, das neue Kleid anziehen! Auf ihm leuchteten, wie von einem Maler hingeworfen, lange Tropfen in einem kräftigen Lachsfarben und Türkis. Der Ausschnitt war nicht zu gewagt, und das Kleid hatte kleine Ärmel. Sie hatte es sich vorgestern in einem Anfall von Leichtsinn in der kleinen Boutique in der Hirschstraße gekauft. Darüber den schwarzen Leinenblazer, damit sie das Schulterhalfter mit ihrer Heckler&Koch-P2000-Dienstwaffe, verstecken konnte. Es war Vorschrift, die Waffe bei Außeneinsätzen immer zu tragen. Damit wäre sie nicht nur fürs Dezernat, sondern auch bei eventuellen Vernehmungen seriös angezogen. Dazu die Ballerinas, keine Strumpfhosen. Auch wenn ihre Mutter sie wieder tadeln würde: „Eine Dame zieht immer Seidenstrümpfe an!“
Anne lachte darüber. „Mama, mein letztes Paar Seidenstrümpfe habe ich bei einem Kampf mit einem Schwerverbrecher zerfetzt. Schließlich bin ich keine Dame, sondern eine hart arbeitende Frau, eine Polizistin bei der Mordkommission, die sich ihre Brötchen selbst verdient.“
Meistens verkündigte Magda ihre anderen Maxime in einem Brustton der Überzeugung, der keinen Widerspruch duldete: ‚Billige Kleidung ist zu teuer. An den Schuhen erkennst du einen Herren. Die Gabel wird zum Mund geführt und nicht umgekehrt‘. Anne war mit diesen Lebensweisheiten groß geworden.
Noch einmal tippte Anne ihren Terminkalender an. Für heute, Samstag stand: zehn Uhr: Nach Mutter Marlene sehen! Den Besuch im Pflegeheim bei ihrer Ex-Schwiegermutter schob sie schon lange genug vor sich hin.
Aber bis dahin hatte sie noch über zwei Stunden Zeit.
Alberts Bronchien pfiffen wie die alten Dampfloks, die er, bis der Güterbahnhof in Bad Cannstatt vor zwanzig Jahren geschlossen wurde, rangiert hatte. Die Pollen von Haselnuss und Birke flogen. Sein Asthma plagte ihn wieder besonders schlimm. Während er marschierte, brannte zu allem Überfluss die Vormittagssonne erbarmungslos auf ihn herab. Er besaß ein kleines Haus in der Brandgasse im Kern von Alt-Feuerbach. In dem Häuschen war alles niedrig, eng: Unter den Türzargen musste er den Kopf einziehen. Auch das Stückchen Erde davor schien eher etwas für Zwerge zu sein, anbauen konnte man auf ihm nichts. Und so wurde er Schrebergärtner. Vierzig Jahre hatte er schon seinen Garten in der ‚Kirschblüte‘. Der Weg dorthin hatte sich seitdem, bis auf einen Neubau aus den Achtzigerjahren, nicht viel verändert.
Albert erreichte die Grünewaldstraße, die zum Killesberg und Kräherwald führte. Den notdürftig geflickten Straßenbelag und die Schlaglöcher umging er, stützte sich dabei auf seinen Stock und gönnte sich eine Pause.
Die Stadtausläufer von Feuerbach im Rücken und das Botnanger Tal zur Rechten ging es nun bergauf. Albert erreichte die linker Hand liegenden umzäunten Privatgärten mit den zu Wohnhäusern umgebauten, ehemaligen Lauben. Diese bildeten, wie der schmale Mischwald zur Rechten, die Grenze zu den Kleingärten. Seine Parzelle, die Nummer 10, lag zwar am Hauptweg der Anlage, er konnte sie aber auch über einen schmalen Waldpfad erreichen.
Albert zog ein blaukariertes Stofftaschentuch aus seinem abgeschabten Cordsakko, das er später gegen eine grüne Gärtner-Joppe tauschen würde, und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Dabei rutschte seine Brille nach vorne auf die Nasenflügel. Er rückte sie zurecht. Eigentlich brauchte er eine neue. Aber für gute Brillengläser musste man eine Menge zuzahlen, und das ging momentan nicht. Dafür hatte seine Gertrud aber eine schöne Beerdigung gehabt.
„Es isch jedes Johr wärmer. No net a mol zehn Uhr ond scho übr zwonzik Grad! On schwül iss au no! On des om 9. Mai!“, brummte Albert vor sich hin.
Dieses Jahr hatten die Tulpen und Narzissen ihre Köpfe schon im Februar weit aus der Erde herausgestreckt. Im März fror es erneut, im April ging ein schrecklicher Sturm mit Hagelschauer nieder, der aber seinen Garten und die Anlage auf wundersame Weise verschont hatte. Kaum schien die Sonne, schon sah es aus, als wuchsen alle Pflanzen gleichzeitig. Forsythie und Obstbäume standen in Blüte. Der Flieder duftete, rote Zierapfelbüsche leuchteten, vereinzelte Magnolien- und Kirschbäume verströmten schon von weitem ihren betörenden Duft. Sie ließen Alberts Gärtnerherz höher schlagen. Sein Lieblingsspruch hieß: „Der Frühling ist die schönste Zeit im Gartenjahr.“
Hoffentlich erwischt uns nicht die ‚Kalte Sophie‘ mit Nachtfrost. Vom 13. bis 15. Mai ist es kritisch. Dann ist die ganze Pracht dahin, und wenn bis dahin die Bienen nicht fliegen und bestäubt haben, gibt’s mal wieder kein Steinobst, überlegte Albert nun.
Seine Gertrud hatte aus den Kirschen immer so leckere Marmelade gekocht. Ein Grund mehr, sie zu vermissen.
Albert betrachtete sorgenvoll die Entwicklung der vermehrt weltweit auftretenden Wetterkapriolen. Tornados in Deutschland, das hatte es früher nie gegeben! Aber wie es aussah, würde es kein Einzelfall bleiben. Wahrscheinlich hing es mit der globalen Erwärmung zusammen.
Ich sollte mal den Lorenz Tressel besuchen. War erst seit kurzem Mitglied. Komischer Kauz, der Lorenz, ein Eigenbrödler, nicht unfreundlich, aber oft kurz angebunden. Vielleicht kann ich ihn überreden, mit mir ein Gläschen ‚Feuerbacher Berg‘ zu trinken und dabei über die Klimaveränderung zu reden, überlegte Albert.
Lorenz musste sich in Wetterdingen gut auskennen, er besaß auf seiner Parzelle eine private Wetterstation, die er mit Sonnenkollektoren betrieb. Das Bundeskleingartengesetz erlaubte Sonnenkollektoren. Er hatte gehört, dass Lorenz Mitglied in der Vereinigung Europäischer Hobby-Meteorologen war und in ständigem Austausch mit anderen Wetterfröschen stand.
Albert selbst hielt sich mehr an die Vorhersagen des Bauernkalenders. Nur trafen sie in letzter Zeit immer seltener zu.
Gerade kam ihm Mike Fink in seinem schwedischen Auto entgegen, Albert kannte die Marke, aber sie fiel ihm im Augenblick nicht ein. Müde winkte er Fink zu und verschnaufte.
Seitdem die Polizei ihn bei einer Kontrolle mit über einer Promille erwischt hatte, war er seinen Pappendeckel los, und dies nicht zum ersten Mal. Er trank einfach zu viel, seitdem seine Gertrud gestorben war, und redete oft laut mit sich selbst. Klar, hatte seine Frau in den letzten Jahren häufig mit ihm gestritten und konnte auch manchmal richtig giftig sein. Aber Albert erinnerte sich gerne an die frühen Jahre mit ihr, in denen sie jung und glücklich gewesen waren. Die romantische Liebe ist das eine, etwas anderes ist die gewachsene Liebe einer Ehe, das absolute Vertrauen. Albert fand es schade, dass heutzutage sich die jungen Paare nach dem ersten Krach sofort scheiden ließen.
Nachdem Wilma sich von ihrem Schreck erholt hatte, beinahe überfahren worden zu sein, lief sie weiter. „So ein Seckel!“, dachte sie, aber dann überfiel sie wieder der Gedanke an ihr Problem mit Ricardo.
In ihrem Job sah Wilma ab und zu Leichen, aber bis zum Tod ihres Sohnes berührte sie es nicht, die professionelle Distanz gehörte in ihrem Beruf einfach dazu. Auch mit Ricardo war es etwas anderes gewesen.
Obwohl es für sie einfacher und naheliegend gewesen wäre, konnte sie keine Opiate oder Barbiturate entwenden. Über jede verabreichte Ampulle musste sie Rechenschaft ablegen, die Klinikapotheke führte über die Ausgaben der Medikamente genau Buch. Außerdem wurde ein Rezept des behandelnden Arztes verlangt. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war zu groß gewesen.
Ihr Rezept, die Pesto-Nudeln, fielen ihr als Lösung ein. Ricardo aß sie für sein Leben gern. Nun, vor einem Jahr im Mai, hatte er sein Leben dafür hergegeben.
Normalerweise ein völlig ungefährliches Rezept – wurden für ihr spezielles Pesto Pinienkerne, Parmesan und Knoblauch gemahlen. Dazu die Blätter und fünfzehn Samenkapseln – sicher ist sicher – der Herbstzeitlose klein gehackt. Alles mit Salz und Olivenöl vermischt, bis eine Paste entstand. Anschließend unter die noch heißen Nudeln gemischt.
Wilma kannte sich mit Kräutern und Wildgewächsen aus. Bärlauch und die tödlich-giftige Herbstzeitlose glichen sich, wuchsen zur gleichen Jahreszeit im Frühling, und ein ungeübter Sammler konnte sie leicht verwechseln.
Sie hatte Ricardo die Nudeln, als Beilage zu gegrilltem Fisch, serviert. Die Aussicht auf ein leckeres Essen lockte ihn. Einer der wenigen Gelegenheiten, bei denen sie ihren Mann hatte überreden können, ihr bei der Gartenarbeit zu helfen. Vielleicht wurde er auch von seinem schlechten Gewissen geplagt. Es war Ricardos Schuld gewesen, dass Dominik, ihr Sohn bei dem Unfall starb. Ricardo hatte vergessen, ihr Kind anzuschnallen.
Als sie sah, wie sich nach zwei Stunden das Cholchizin in Ricardos Körper ausdehnte, kam so etwas wie Mitleid bei ihr auf, aber sie verhinderte das Aufkeimen des Gefühls. Ricardo bekam Schluckbeschwerden, erbrach sich, es folgten Herzrasen und Krampfanfälle. „Ich brauche einen Arzt, ruf’ sofort einen Arzt! Hol das Handy!“, hatte ihr Mann sie keuchend angefleht. Als er fast nicht mehr atmen konnte und im Sterben lag, sah sie den kleinen weißen Sarg wieder vor sich, in dem der aufgebarte Dominik lag, und zischte Ricardo ins Ohr: „Das ist für unseren Sohn!“
Seine letzte Ruhe hatte Ricardo in ihrer Parzelle im frisch ausgehobenen Frühbeet gefunden, dass entgegen der Gartenordnung viel zu groß war. Erleichtert, dass sie es nicht verkleinert und so der Anordnung der Vereinsleitung gebeugt hatte, wuchtete Wilma den leblosen Körper ins Beet.
Eine dicke Schicht verrotteter Kompost lag auf Ricardo. Seitdem wuchsen die Gurken und Kürbisse, die Wilma als Tarnung zog, ins Gigantische und zogen die Bewunderung ihrer Gartennachbarn auf sich. Sie aß nie davon, sondern warf alles weg.
Fast niemand vermisste ihren Mann. Ihre Erklärung, dass er den Tod seines Sohnes nicht überwinden hatte können und nach Italien zurück sei, wurde von seinen Kollegen beim Theater akzeptiert. Seine Anstellung lief nur für eine einzelne Produktion, sie war ausgelaufen, danach wäre er mal wieder arbeitslos gewesen. Richtige Freunde unter den Kollegen hatte ihr Mann keine. Er galt als egoistisch und rücksichtslos.
Während eines Ätna-Ausbruchs kamen seine Eltern beide bei ihrem Versuch um, Wertgegenstände aus einem Hotel in Piano Provenzana zu retten. Ricardos einzige Schwester war schon früh gestorben. Zwar lebten noch einige entfernte Verwandte in Amerika, diese hatte Wilma jedoch mit Nachrichten beruhigen können. Amerika war weit, die Großonkel Ricardos würden nicht extra nach Deutschland reisen, um nach ihm zu suchen. Überhaupt schien, entgegen der Tradition italienischer Familien, der Zusammenhalt zwischen den einzelnen Mitgliedern des Clans wenig eng zu sein.
Inzwischen konnte sie Ricardos Schrift richtig gut fälschen und Anfragen abwimmeln. Die Anonymität der Großstadt tat ihr Übriges, fast niemand kümmert sich um den anderen, sondern tat nur sein Ding.
Ein paar Monate lang tuschelten Wilmas Kolleginnen hinter ihrem Rücken: „Traurig, erst der Sohn verstorben und jetzt hat sich auch noch der Mann aus dem Staub gemacht.“
Kurz vor dem Einbiegen in den kleinen Pfad, der zu ihrer Parzelle führte, entschied Wilma sich, den Garten im Herbst aufgeben. Frau Möhrle hatte ihr zugeflüstert, dass Harry Kohl in letzter Zeit viele von den Gartennachbarn aus nichtigem Anlass hinausekelte. Die Gründe dafür würde sie schon noch herauskriegen, da könne die Gartennachbarin sich darauf verlassen.
Aus irgendeinem unbestimmten Gefühl heraus mochte Wilma den Vorsitzenden nicht und ging ihm lieber aus dem Weg. Aber es ließ sich nicht vermeiden, ab und zu Worte zu wechseln, da sich ihre Stückle nur durch einen stufigen Pfad und die Außenzäune voneinander trennten, sodass ihre Gartentore vis-à-vis lagen.
Zu den anderen Nachbarn war Wilma freundlich, aber mehr als ein „Grüß Gott“ oder ein kurzes Gespräch über die Braunfäule bei den Tomaten oder ob in diesem Jahr tatsächlich die Eisheiligen ausfielen, mochte sie nicht führen – jemanden von ihnen hereinbitten, war ausgeschlossen. Schlimm genug, dass zweimal im Jahr der Wasserwart ihre Parzelle betrat, um die Leitungen zu überprüfen. Ricardo lag keine sechs Fuß tief und Wilma bemerkte den Verwesungsgeruch. Dazu kam, dass die Maden ein Schlupfloch zwischen geschlossenem Plexiglasdach und Unterbau gefunden hatten und an den Seiten des Frühbeetes hinunterkrochen. Als ihr Gartennachbarn Rösler die weißen Würmer entdeckt hatte, konnte sie ihn nur mit Mühe davon abhalten, nachzuschauen.
Den endgültigen Ausschlag für ihren Entschluss gab aber der neueste Tratsch, der ihr letzte Woche über den Gartenzaun von Frau Möhrle zugetragen wurde. „Haben Sie es auch gehört, unsere Gütle sollen verkauft werden, die Stadt braucht das Geld für Stuttgart 21. Die sind nicht ganz dicht, den Bahnhof unterirdisch zu legen. Und was das kostet! Soviel ich mitbekommen habe, sollen unsere Gärten Bauplätze werden.“
Also deshalb wurden in letzter Zeit viele Grundstücke nicht weiterverpachtet, die verlassenen, ungepflegten Parzellen fielen schon auf. Allein am Hauptweg gab es fünf Stück davon.
Die Information von Frau Möhrle, die meistens gut über das Vereinsleben unterrichtet war, hatte ihren Entschluss noch bekräftigt. Der Zeitpunkt, aufzuräumen und ein neues Leben anzufangen, schien gekommen.
Aber bevor sie kündigte, musste sie nachschauen, was von Ricardo noch übrig war. Die Verrottung des Gewebes von Ricardo hing von der Beschaffenheit des Bodens, der Temperatur, der Feuchtigkeit und dem Befall von Insekten und Würmern ab. In dieser Hinsicht gab es optimale Voraussetzungen unter der Abdeckung des Frühbeets!
Nicht auszudenken, dass ein neuer Gartenbesitzer oder, wer auch immer es ausgräbt, die Überreste findet. Wilmas Überlegungen nahmen konkrete Ausmaße an.
Wohl oder übel würde sie die Erdschicht tief abtragen um das, was von Ricardo noch übrig geblieben war, hervorzuholen. Die Entsorgung sollte kein Problem mehr sein. In der Klinik gab es einen Verbrennungsofen, dort wurden amputierte Gliedmaßen, Knochen und herausoperierte Weichteile verbrannt. Wilma würde einfach nach und nach Säcke dazustellen und die Etiketten darauf fälschen.
Wilma schloss ihr Gartentor und die Laube auf, trocknete Gesicht und Hals mit einem Frotteehandtuch ab und ging hinüber zu Garten Nummer 13. Ihr Entschluss stand fest. Sie würde noch heute Morgen ihre Parzelle persönlich kündigen. Bis ihr Einschreiben am Montag oder Dienstag beim Vorstand im Briefkasten lag, war der Termin längst überfällig, eigentlich hätte sie schon zum ersten Mai kündigen müssen. Vielleicht konnte sie Harry Kohl überreden, für sie eine Ausnahme zu machen. Noch ein weiteres Gartenjahr in der Nähe von Ricardo zu verbringen, hielt sie nicht mehr aus.
Die Fahne über Kohls Hütte flatterte und signalisierte wie auf dem Buckingham-Palace die Anwesenheit des Vorsitzenden. Ein Fahrrad lehnte am Gartenhäuschen. Die Laubentür war zwar geschlossen, aber Wilma klopfte, rief „Hallo?“ und trat ein.
Eine kurze letzte Steigung über die kleine Treppe, die in den Waldhang hineingebaut war, und Albert erreichte die ersten Stückle. Ein Fuchs flüchtete vor ihm, in seinem Maul trug er einen Schuh. Albert sah den buschigen roten Schwanz des Tieres zwischen den Laubbäumen verschwinden. Na so was, dachte Albert erstaunt, die werden auch immer frecher. Da muss ich doch gleich mal nachschauen, ob meine Gartenschuhe noch vor meiner Laube stehen!
Bevor Albert bei der Weggabelung nach links abbog, um seinen Auftrag zu erledigen, begutachtete er durch die Kirschlorbeerhecke Mike Finks Parzelle. Auf den ersten Blick fiel ihm der frisch gepflanzte Rhododendron auf.
‚Was zum Teufel? Das sieht doch ein Blinder mit einem Krückstock, dass der auf der Grenze steht. Und nicht nur ein Strauch, es gibt eine ganze Reihe davon. Der Ärger ist vorprogrammiert, und wer ist dann der Prellbock?‘
Wie immer würde er als Erster den Zornesausbruch seines Vorsitzenden ertragen müssen. Albert als Gartenwart hatte auf die Dinge zu achten und musste die Sünder abmahnen. Bestimmt gab es jetzt wieder Rambazamba und Streit mit diesem aufsässigen Fink.
Neulich die Sache bei der Mitgliederversammlung: Es ging um die fünfhundert Euro Eintrittsgebühr, die jeder neue Pächter an den Verein zahlen sollte. Fink hatte ein Rundschreiben verteilt, auf dem zu lesen war, das sei nach der Landeskleingartenordnung unzulässig, und meldete sich zu Wort: „Dieses Gebaren widerspricht dem Grundgedanken des Namensgebers, Dr. Daniel Gottlob Moritz Schreber.“
An dieser Stelle lachten einige Mitglieder laut auf.
„Schließlich ist dies ein Kleingartenverein und kein exklusiver Tennis- oder Golfclub“, hatte Fink noch schnell nachgeschoben, bevor die Versammlung in einen kleinen Tumult ausartete.
Nur dem raschen Durchgreifen des Vorsitzenden Harry Kohl war es zu verdanken, dass sich die Gemüter der Anwesenden an diesem Abend beruhigten. Er verbot einfach die Abstimmung darüber, hatte das aufwieglerische Flugblatt konfisziert und Mike Fink keine Redeerlaubnis mehr gegeben. Das Ende vom Lied war, dass die Neuen weiterhin die Eintrittsgebühr bezahlen mussten.
Dieser arrogante Kerl mit seinem japanischen Gartenhaus, dachte Albert. Eine solche Extrawurst hatte bisher noch niemand gewagt. Merkwürdig ist nur, dass Harry nichts dagegen unternommen hat, das ist doch sonst nicht seine Art. Das mit dem Rhododendron, direkt auf der Grenze zu den Nachbargrundstücken, verbot die Gartenordnung, doch Albert war eigentlich ein gutmütiger Mensch, seine Devise lautete: ‚leben und leben lassen‘. Er hasste es, seit einiger Zeit hart durchgreifen zu müssen. Harry hatte es ihm unmissverständlich klar gemacht.
‚Kleiner Sonnenkönig‘ nannten Albert und einige wenige mutige Gartenfreunde den ersten Vorsitzenden, der mit penibler Genauigkeit über die einfachen Mitglieder, aber auch über seine Vorstandskollegen regierte. Wenn sich jemand über seinen Führungsstil beschwerte, konnte Harry richtig unangenehm werden und demjenigen, der sich ihm widersetzte, das Leben schwer machen. Seine Lieblingssprüche brüllte er gerne laut heraus: „Was geht mich die Satzung an? Ich bin der Vorsitzende und meine Meinung gilt. Wem das nicht gefällt, der soll gefälligst den Scheiß selber machen.“
Albert hütete sich, zu widersprechen. Er wollte keinen Ärger haben für die paar Jahre, in denen er noch seinen Garten besaß. Schon jetzt fiel es ihm immer schwerer, Bäume zu schneiden und die Erde umzugraben. Aber er brauchte die kleine Scholle für die Cannabis-Pflanzen, die er zwischen den Tomatenstauden seit Gertruds Krankheit in einem kleinen selbstgebauten Gewächshaus heranzog. Das Hanfgewächs half ihr die Chemotherapie ohne große Übelkeit und Erbrechen zu überstehen. Genutzt hatte es aber dann doch nichts.
Damals hatte er sein erstes Pfeifchen geraucht und festgestellt, dass es bei seinem Asthma beruhigend wirkte. So blieb er dabei und hegte die Pflanzen weiter. Gewächshäuser waren ebenfalls verboten, ganz zu schweigen der Anbau von Marihuana. Zur Tarnung war das dichte Karee aus immergrünen hohen Buchsbäumen gerade richtig. Albert zog den Buchs selbst heran. Auch wenn dieser langsam wuchs, waren in den vierzig Jahren seines Gärtnerdaseins daraus viele zu großen Sträuchern geworden. Er hatte sie einfach dorthin umgepflanzt.
In einer Hinsicht konnte sich Albert über den Sonnenkönig nicht beschweren. Dieser lud ihn öfter auf eine Flasche Württemberger oder zum Schnaps ein. Wie gestern. Es war elf Uhr in der Nacht gewesen, als die Letzten das Festzelt verließen. Harry hatte ihn und Kassenwart Ullrich Theisen daraufhin in seine Laube zu einem Umtrunk gebeten.
‚Merkwürdig, das Gartentor ist offen. Ich glaube, ich war voll wie eine Haubitze. Zu blöd, dass die Taschenlampe den Geist aufgegeben hat, ich weiß noch, dass ich dabei fast über Harrys Gartenzwerge gestolpert bin. Ist ja auch kein Wunder, diese zipfelmützigen Gesellen sind einfach zu gigantisch und scheinen ein ausgefülltes Sexleben zu haben. Pflanzen sich irgendwie rasant fort.‘
Gertrud hätten sie gefallen, trotzdem hatte sie ihm nur einen erlaubt.
„Zum Teufel mit dem Absacker“, murmelte Albert nun laut vor sich hin. Heute war nicht sein Tag, das spürte er.
‚Habe ich das Tor offen gelassen? Bestimmt nicht. Außerdem ist Ullrich nach mir rausgegangen. Wollte mich mit seinem Auto heimfahren, mit seinem neuen riesigen amerikanischen Schlitten. Irgend so eine komische Marke – Krebs? Hummer!
War mir aber zu gefährlich, mit ihm zu fahren, der Ullrich hatte einiges intus und ist dann zu seinem Gütle getorkelt.‘
Der Sonnenkönig blieb in seinem Häuschen, um die restliche Nacht seinen Rausch auszuschlafen. Albert hatte versprochen, ihn zu wecken, denn Harry wollte noch die Abrechnung von gestern machen und würde auch am zweiten Tag wieder die Kasse führen.
Der Plattenweg zur Laube führte am Teich vorbei. Dort drehte sich leise ein einsames Windrädchen. Auf dem Dach wehte eine Deutschlandfahne. Die frisch renovierte und neu gestrichene Laubentür stand sperrangelweit offen. Albert trat einen Schritt hinein. Drinnen war niemand zu sehen, es roch nach Bier, Schnaps und Schweiß. Abgestandener Zigarrenrauch waberte durch den kleinen Raum. Eine Liege, auf der ein zusammengeknüllter Schlafsack lag, nahm die Mitte ein. Auf dem klobigen Tisch vor der Eckbank standen eine Geldkassette, die Humpen von gestern Nacht und ein aufgeklappter Laptop. Der Bildschirm war dunkel. Albert erinnerte sich, dass Harry oft in seinem Häusle am Computer saß. Was er genau dabei tat, hatte Albert noch nicht herausgefunden, denn Harry schaltete den Apparat immer schnell aus, wenn er die Hütte betrat. Wahrscheinlich etwas Persönliches und kein Vereinskram, hatte er sich überlegt.
„Harry, bischt du da? Kurz vor zehn!“, rief Albert mit heiserer Stimme. „Wo bischt?“
Lorenz Tressel war ein Mann von raschen Entschlüssen. Von einem Tag zum anderen hatte er mit dem Rauchen aufgehört.
Als seine Frau ihn vor drei Jahren verließ, zögerte er keine Minute, das gemeinsame Haus zu verkaufen und von Neuwied, der Stadt am Rhein, nach Stuttgart in ein Einzimmerapartment zu ziehen. Im Hochhaus kannte ihn kein Mensch. Ihm war es recht. Ihm fehlte fast nichts, weder sein kleines Reihenhaus, noch seine Frau, noch die Tätigkeit als Lehrer, die er wegen seines Gemütszustandes hatte aufgeben müssen. Aber was ihm immer noch sehr zu schaffen machte – und sein Schuldgefühl und der Schmerz würden nie nachlassen – war der Verlust seiner Tochter.
Im April vor fünf Jahren, in den Osterferien, schickte er Sophie los, sein kleines blondgelocktes Mädchen, das damals in die zweite Klasse ging, um beim nächsten Automaten Zigaretten zu ziehen – Sophie kehrte nie mehr zurück. Die Polizei fand keine Spur, weder die Leiche noch einen Hinweis auf ihr weiteres Verbleiben.
Lorenz dachte verzweifelt daran, dass der Verlust eines Kindes war, wie ein Stück von sich selbst zu verlieren, aber noch schlimmer fand er es, nicht zu wissen, was mit ihm geschehen war.
Albert zuckte mit den Achseln. Er hatte keine Lust mehr, nach Harry zu suchen. Vielleicht saß er ja auf seinem Campingklo in dem angebauten Verschlag – anderen hatte er Anbauten verboten, ja sie sogar abreißen lassen. Albert erinnerte sich, dass Gertrud einmal etwas über eine Farm mit Tieren gelesen hatte und daraus ihm den Satz vorlas: „Alle sind gleich, nur einige sind gleicher.“
Sein Gartenfreund wollte sicher nicht gestört werden. Zuerst mal bei mir in der Laube einen starken Kaffee aufbrühen, dachte Albert, dann sehen wir weiter.
Er trat wieder ins Freie. Über seinen Kopf hinweg flog krächzend ein Eichelhäher. Albert blieb für einen Augenblick stehen, wollte schon den Garten verlassen, dann aber drehte er sich um und folgte dem geschwungenen Weg, der hinter das Häusle von Harry führte.
Eine Knöterichhecke bildete die Grenze von Harrys Garten Nummer 13 zu Finks Parzelle Nummer 15 und schirmte diesen fast vollständig ab. Harry hatte außerdem – obwohl die Vereinsvorschriften es nicht erlaubten – zusätzlich eine Bambusmatte gespannt. Nur ein kleiner Rest Hecke blieb frei. Davor, auf dem abfallenden Rain, befand sich der Kompostplatz. Die Anlage bestand aus zwei großen viereckigen Holzlattenbehältern, einem großen Baumstamm, der als Hackklotz diente und einem Thermokomposter. Harry hatte ein dicke Schicht Sand auf dem frisch angelegten Weg vor dem Kompostplatz verteilt. Dahinter türmte sich ein riesiger Haufen frischer Pferdemist auf.
Mitten auf dem dampfenden Mist lag der, sonst so korrekt gekleidete, Vorsitzende, Harry Kohl. Den nackten Oberkörper, auf dem sich die U-Form eines Männerunterhemdes auf der Sonnenbräune weiß abzeichnete, übersäten Pferdeäpfel und Stroh. Die aufgedruckten Geranien der Boxershorts leuchteten in einem satten Rot. Harry Kohl trug nur einen Turnschuh. Der zweite fehlte. Er lag auf dem Rücken, aber der Körper war grotesk verdreht. Getrocknetes Blut überzog das Gesicht und den Oberkörper wie indianische Kriegsbemalung. Harrys blaue Augen starrten weit offen. Unter dem kurzgeschnittenen silbernen Haar klafften zwei Wunden. Aus einer trat eine hellgraue blumenkohlartige Masse heraus, deren Brocken sich über den Mist hinwegzogen, weil der Eichelhäher sie in diesem Augenblick aus dem Schädel herausgepickte. Alberts müde Beine bewegten sich so schnell wie schon lange nicht mehr.
Der Vogel ließ ein Stück seiner Mahlzeit fallen, krächzte und flog erschrocken hoch, als er einen Menschen auf sich zueilen sah.
Alberts Atem setzte fast aus. Zitternd nahm er aus seiner Jackentasche eine Inhalationspumpe mit Cortison und sprühte sich in den Mund. Nur mühsam konnte er sich an seinem Stock festhalten, während sich seine Lungenbläschen wieder füllten. Keuchend beugte er sich über seinen Vorsitzenden.
Albert versuchte zu rufen, aber es drangen nur undefinierbare Laute aus seinem Mund. Zu helfen war Harry nicht mehr, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Er trat zurück. Aus unzähligen Folgen Tatort wusste er, dass man ein Mordopfer nicht bewegen durfte.
Nach dem ersten Schreck überlegte Albert, was er tun sollte. Einen Nachbarn rufen? Er blickte sich um. Er sah und hörte in den nächstgelegenen Gärten niemanden. Jetzt erinnerte er sich, dass er Fink gesehen hatte, als dieser die Grünewaldstraße hinunterfuhr. Hatte Fink nichts bemerkt? Ich muss den Notarzt rufen, dachte Albert. Und die Polizei! Wo versteckte sich sein Handy? Zitternd suchte er in allen Taschen, zog es dann aus seiner inneren Jackentasche und blickte auf das Display. Scheiße – er hatte vergessen, den Akku aufzuladen. Albert beschloss, zur Vereinsgaststätte zu laufen und von dort aus zu telefonieren. Dann fiel ihm ein, dass – laut Dekret des Sonnenkönigs während des Vereinsfestes eine unzumutbare Konkurrenz – das Gasthaus geschlossen blieb. Wie benommen machte sich Albert auf den Weg. Falls er keine Menschenseele traf, musste er zur nächsten Telefonzelle laufen, aber da ging es Gott sei Dank den Berg hinunter.