Читать книгу Blutkirsche - Gudrun Weitbrecht - Страница 8
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ОглавлениеSpäter, als es vorbei war, überlegte Mike, ob alles anders verlaufen wäre, wenn er nicht gerade an diesem Samstag zu seiner Parzelle gefahren wäre. Oder wenn er sich nicht seinen Wunsch erfüllt hätte, endlich Zeit in seinem Garten zu verbringen.
Wie immer war er der Erste in der Schrebergartenanlage. Der Parkplatz vor der Vereinsgaststätte war geschlossen, das Festzelt nahm die ganze Fläche ein. Er stellte seinen Saab unter den großen Buchen am Straßenrand ab. Der Gewittersturm vom Vorabend hatte die Bäume durchgeschüttelt, abgebrochene Äste und Gestrüpp lagen auf Asphalt und Zeltdach. Die letzten Regentropfen glänzten in der Sonne auf Blättern und Sträuchern und ließen sie wie grüne Schuppen aussehen. Mike lugte ins Zelt. Der Duft von gebratenen Hähnchen, verschüttetem Bier und abgestandenem Zigarettenrauch hing noch in der Luft.
Eigentlich hieß Mike Michel. In der amerikanischen Computerfirma, in der er bis vor einem Jahr gearbeitet hatte, riefen ihn alle Mike. Er hatte sich daran gewöhnt und diesen Namen beibehalten, obwohl er dort nicht mehr beschäftigt und freigestellt war. Er selbst machte sich nichts vor: Das hieß arbeitslos. Die Aussicht auf eine neue Stelle war mies – mit zweiundfünfzig war er einfach zu alt, um einen neuen Job zu finden.
Als sein Freund ihn auf den Schrebergarten ansprach und meinte, das würde so gar nicht zu ihm passen, wirkte Mikes Erklärung wie einstudiert, und er lachte verlegen. „Irgendwie sind bei mir die Gene meiner bäuerlichen Vorfahren durchgebrochen.“
Dabei log er noch nicht einmal. Als kleines Kind schickte ihn seine Mutter in den Ferien auf den Hof der Großeltern im Schwarzwald. Sie selbst kam nie mit, in ihrem Urlaub ging sie für fremde Leute putzen. Mike erinnerte sich an die schwieligen Hände und schmutzigen Fingernägel seines Großvaters, die nie sauber waren, auch wenn er beim Vespern saß und den Speck in dünne Streifen schnitt. Er sah seine schwarz gekleidete hagere Großmutter, die hinter den Hühnern herrannte, um sie zu fangen und auf dem Hackklotz zu köpfen. Manchmal lief sie auch hinter ihm her und scheuchte ihn drohend mit der Mistgabel. Er war für sie nur ein weiteres Maul zum Füttern. Das Quieken der Schweine, ihre Todesangst, wenn sie zum Töten in den Hof getrieben wurden, hatte er noch immer in den Ohren. Die blutbefleckte Plastikschürze des Metzgers, der dem Großvater beim Zerlegen half – wie er das Tier aufhängte, das Gekröse in einen Eimer fiel, wie das Schweineblut aus der Schlagader in eine Emailleschüssel floss und der Großvater Speckwürfel in die noch dampfende Blutsuppe warf, sie umrührte, mit dem Schlachter brutal scherzte, nun würden sie ihm, Michel, auch die Eier abschneiden – all dies war in seinem Gedächtnis eingebrannt. Auch an die Schläge mit dem Ochsenriemen und an seine eigenen Schreie erinnerte sich Mike. Und daran, dass er hinterher in der Bibel lesen musste.
Bestimmt hatte seine Mutter geglaubt, der Enkel würde den Großvater milde stimmen, und sie könnte zurückkehren. Mit seinem Jähzorn trieb er sie einst aus dem Haus in eine übereilte Heirat. „Ich kam vom Regen in die Traufe“, erzählte ihm seine Mutter.
Mike berichtete ihr lange Jahre nichts von den Misshandlungen, aber als sie es erfuhr, hatte sie ein Einsehen, und er musste er nie mehr hinfahren.
Annes letzte Nachtbereitschaft war anstrengend gewesen. Zwar geschahen keine Verbrechen und sie wurde zu keinem Außeneinsatz gerufen, aber sie konnte, wie so oft in letzter Zeit, nicht durchschlafen. Nach nur zwei Stunden wachte sie wieder auf und wälzte sich im Dämmerschlaf bis um fünf Uhr morgens von einer Seite zur anderen. Als sie erneut aufwachte, stand sie leise auf. Sie wollte ihren Sohn Julian im Nebenzimmer nicht stören. Ihre Mutter Magda wohnte allein in der Erdgeschosswohnung, doch die Vierundachtzigjährige hatte einen leichten Schlaf und stand bei jedem Geräusch im Haus auf. Anne hatte keine Lust, nachher beim Rausgehen wieder ihr Gejammer anzuhören.
Ohne das Licht im Flur anzumachen, ging sie ins Bad und wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Ihre gelockten mahagonifarbenen Haare lagen völlig verknautscht. Anne bürstete sie gründlich, sie betrachtete sich prüfend im Spiegel dabei. Ihre Haut war zart gebräunt, seit dem ersten Sonnenbad traten die Sommersprossen auf der Nase, den Wangen und Armen deutlicher hervor. Eigentlich sah sie nicht aus wie neunundvierzig, sie wirkte jünger – vorausgesetzt sie bekam genug Schlaf. Und wenn sie noch ein wenig Diät hielt ...
In der Küche ließ Anne einen doppelten Espresso durch die Maschine laufen, ging zurück in ihr Schlafzimmer und schaltete den Computer an, dann loggte sie sich per Passwort in den Server ihrer Abteilung ein. Sie zog die Fälle hervor, denen sie als Patin zugeteilt war, und verglich die Daten aus verschiedenen Akten. Besonders der vier Jahre zurückliegende Fall des ermordeten Neugeborenen, das auf dem städtischen Kompostierplatz in Zuffenhausen von Arbeitern beim Umsetzen des Grüngutes gefunden worden war, ließ ihr keine Ruhe.
Ihre Kollegen und sie hatten wochenlang alles getan, was die Fahndung leisten konnte. Forensische Daten gesichert, Zeugen befragt, Spuren verfolgt, aber es war bis jetzt umsonst gewesen. Die Mutter des Babys blieb unauffindbar. Die Akte über dieses Verbrechen landete in den ungelösten ,kalten Fällen‘.
Der Tod war bei der Mordkommission alltäglich, aber dieses gewaltsame Ende eines Säuglings – es war eine Frühgeburt von sieben Monaten und hatte nach der Geburt gelebt – erschütterte Anne noch immer.
Seit einiger Zeit verkraftete Anne die Gedanken an dieses sinnlose Sterben nicht mehr so professionell wie früher. Sie sah täglich, wie nah Leben und Tod beieinanderlagen, trotzdem musste sie versuchen, mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Und nun waren vor kurzem wieder zwei Neugeborene gefunden worden. Eines in der Sortieranlage einer Recyclingfirma. Einfach entsorgt wie Müll! Der andere Säugling war zwischen einer Hecke vor dem Friedhof in Möhringen gefunden worden. Wer ging so mit einem schutzlosen Lebewesen um? Kinder wurden in den Neckar geworfen, in der Badewanne ertränkt. Oder jahrelang in Tiefkühltruhen und in Blumentöpfen versteckt.
Warum töteten Mütter ihre Kinder? Anne wusste, dass manche Frauen psychisch krank waren, andere aus der Drogen- oder Obdachlosenszene kamen. Vergewaltigungsopfer waren dabei, Frauen in schwierigen Beziehungen.
Vielleicht waren es auch Frauen, die in ihrer Kindheit keine elterliche Liebe erfahren hatten.
Keinen Stress mehr, hatte der Arzt Mike nach seinem Hörsturz empfohlen. Und was schien stressfreier zu sein, als sich unter freiem Himmel körperlich zu betätigen und das Produkt seiner Arbeit zu sehen.
Da er für seine Firma oft auf Geschäftsreisen unterwegs war, blieb ihm keine Zeit für ein eigenes Haus mit Garten, geschweige dessen Pflege, niemand hätte sich während seiner Abwesenheit darum gekümmert. Er war Single geblieben, nicht aus Überzeugung, er fand einfach keine Frau, die seinen Ansprüchen genügte. Und die, die ihn mochten, die fand er nicht attraktiv genug. Inzwischen hatte er sich an das Junggesellendasein gewöhnt. Es gab auch Vorteile, so musste er sich nach niemandem richten und konnte tun und lassen, was er wollte.
Er überlegte, ein Gartengrundstück zu kaufen, aber solange es kein Baugrund wurde, blieb dies verlorenes Kapital. Die Abfindung seiner Firma würde er auf jeden Fall anlegen. Aber erst einmal abwarten. Sein Anwalt stritt immer noch mit der Geschäftsleitung über die Höhe, auch über die ihm eigentlich zustehende Betriebsrente. Der Kleingartenverein mit den Pachtgärten schien Mike die vernünftigere Alternative. Aber hätte er vorher gewusst, was alles auf ihn zukommen würde, hätte er es sich zweimal überlegt.
Mike liebte die Morgenstunden und hoffte, dass er mindestens bis zehn Uhr seine Ruhe haben würde. Am Freitagabend war das Kirschblütenfest schon in vollem Gange gewesen. Bier und Trollinger flossen in Strömen, sicher schliefen nun alle ihren Rausch aus. Mike hatte nur kurz ins Festzelt gesehen. Bierselige Kumpanei war noch nie sein Ding gewesen. Seine Hoffnung, die attraktive Gartennachbarin Wilma aus Nummer 11 dort zu treffen, wurde enttäuscht. Aber eigentlich hatte er das nicht geglaubt, sie hielt sich immer sehr zurück. Schade, sie gefiel ihm. Schlanke Beine, dunkle lange Haare, blaue Augen und ein wohlgeformter Körper. Gepflegter Garten. Zumindest in dieser Hinsicht würde Wilma gut zu ihm passen.
Obwohl er auf einem Ohr fast taub war, musste Mike bis in die Nacht hinein zu den Klängen eines Akkordeons die Sparversion der Volksmusik-Hitparade ertragen. Schnulzen wie ‚Schatzilein, komm geh mit mir‘ und ‚Schwarzbraun ist die Haselnuss‘ schallten bis in seinen Garten.
Auf dem Weg zu seiner Parzelle bemerkte er an der Gabelung zur Insel – einem Schrebergartengebiet, das nur über eine schmale Fußgänger-Brücke zu erreichen war – den grauen Opel Insignia des Vereinsvorsitzenden. An der Heckscheibe klebte das Logo des Vereins.
Aha, hat der mal wieder zu viel gesoffen und hier genächtigt. Andere Leute wegen Verstößen gegen die Gartenordnung anmeckern, aber sich selbst nicht daran halten!
Er, Mike, würde sich von dem nicht stören lassen, sondern wie gewohnt meditieren. Größere Sorgen bereiteten ihm das Rattern von Rasenmähern oder Häckslern, denn der ‚Kleine himmlische Kreislauf‘ – eine Qigongübung – erforderte größte Konzentration.
Mike band seinen dunklen Haarzopf fester und zog sich bis auf seine Badehose aus. Auf seinen athletischen bronzefarbenen Körper war er ziemlich stolz, schließlich hatte er dafür eine Menge Geld im Fitnessstudio hingeblättert. Während den weiteren Übungen – dem ‚Kranich‘ und dem ‚Löwen‘ – spürte er, wie das Chi durch seinen Körper floss. Das Plätschern des Bachlaufes, das vom melodischen Klingen eines Windspieles begleitet wurde, tauchte ihn in ein Gefühl von Ruhe ein.
Die kleine Brücke, die über den Wasserlauf führte, hatte er nach einer Anleitung aus einem Buch über Japangärten selbst gebaut. Die Azaleen standen in Hochblüte und eine japanische Hängekirsche vor der Laube wirkte wie ein Mädchen im Brautkleid. Zwischen Findlingen wuchsen Bambusstauden und Gräser. Mike hatte Bonsais, kleine Bäume, Sinnbilder des Lebens, gepflanzt. Die Steine symbolisierten Tiere – wie Hunde, junge Kälber, die mit ihrer Mutter spielten. Jasminblüten verströmten einen betörenden Duft. Geschlungene Kiesflächen, in ein feines Wellenmuster geharkt, das Wasser darstellen sollte, ließen den Garten exotisch, eben fernöstlich aussehen. Eine immergrüne Kiefer neben dem Miniaturpflaumenbaum symbolisierte den Dualismus von Augenblick und Ewigkeit. Die Komposition war fast vollkommen, genau so, wie Mike es sich erträumt hatte, nachdem er das erste Mal im Land der untergehenden Sonne ein Original bewunderte.
Die Findlinge hatten den ersten Streit mit dem Vereinsvorsitzenden Harry Kohl ausgelöst. Aber auch die anderen Kleingärtner bruddelten Mike an: „Mer hend z‘doa, dass mer de kloine Schtoi ausm Aggr glaubet, und der lesst so Riesedenger neischaffe.“ Das Gebiet war ehemals ein Steinbruch und Mike konnte es gut verstehen, dass es Mühe gekostet hatte, die Erde fruchtbar werden zu lassen.
Mike grinste nun. Er dachte an die verdutzten Gesichter, als er sein Gartenhaus, eine Sonderanfertigung in Form eines japanischen Pavillons, vor zwei Monaten aufstellen ließ. Harry Kohl hatte getobt und den sofortigen Abriss verlangt.
Aber dieser Wichtigtuer musste nachgeben, dachte Mike befriedigt. Er hatte dafür gesorgt, weil er ihn in der Hand hatte. Doch Kohl rächte sich. Ärgerlich war nur, dass es ihm bisher noch nicht gelungen war, ihn zu erwischen.
Auch heute lagen ein brauner Kothaufen und mehrere Küchenpapiere mitten auf der Kiesfläche hinter dem japanischen Gartenhaus. Ab und zu fand Mike die Hinterlassenschaft von Tieren – wie von Füchsen oder Igeln – manchmal auch die von einem herrenlosen Hund, aber Tiere benutzen bekanntlich kein Toilettenpapier. Dies konnte eindeutig nur ein Mensch gewesen sein. „Genug ist genug“, knirschte Mike durch die Zähne. „So ein verdammtes Schwein! Dieser unverschämte Kohlkopf! Der hat mich zum letzten Mal angeschissen! Granatenmäßige Sauerei!“ Nun würde er die gestern noch sorgfältig in Bahnen gezogenen Kiesflächen erneuern müssen.
Mike zog Gummihandschuhe an und hob mit einer Schaufel den stinkenden Haufen zusammen mit dem verschmutzten Papier auf und legte ihn in ein ausgehobenes Pflanzloch nahe der Gartengrenze zu Nummer 12 und 14. Dort war es schattig, das Moos in der kleinen Rasenfläche ließ außerdem auf genügend Wasser schließen. Er warf Erde in das Loch und setzte einen Rhododendron ein. Der Strauch – der letzte – würde die Vollendung seiner Planung sein und durch die natürliche Düngung gut gedeihen. Ein Rotkehlchen flatterte zutraulich in seine Nähe und suchte die frisch umgesetzte Erde nach Regenwürmern ab.
Mit einer Gießkanne schöpfte Mike Wasser aus der Regentonne, goss den Rhododendron an und wusch danach die Schaufel ab. Hinter dem Bambus, in der Knöterichhecke, lag noch immer eine beschmutzte Hacke. Mit einer alten Wurzelbürste säuberte er sie, sprühte sie kurz mit einem Desinfektionsmittel ein und hängte das Gerät im Schuppen auf. Trotz seiner Steinlaternen war es in der Nacht zu dunkel gewesen. Die Parzellen verfügten über keinen Strom – Mike war froh darüber, sonst würden überall Fernseher oder Radios laufen und die Ruhe stören. Er zog die Handschuhe aus und stülpte sie über einen verblühten Zweig der japanischen Zierkirsche. Mit dem Rechen zog er die schlangenförmigen Linien im Kies nach. Kurz danach duschte er kalt, zog seine Straßenkleidung wieder an und verschloss die Laube, deren Pagodendach wie Jade in der Morgensonne glänzte. Mike verließ den Garten durch das Tor, an dem eine rote 15 in Kalligrafie prangte. Auf dem Weg zum Parkplatz sah er, dass die anderen Stückle noch verwaist waren. Wilma schien nicht da zu sein, vom Hauptweg aus bemerkte er, dass die Fensterläden ihrer Hütte noch geschlossen waren. Auch Frau Möhrle, seine Gartennachbarin in Nummer 14 konnte er nicht entdecken. Sonst wäre sie ihm in ihrer geblümten Kittelschürze schon von weitem aufgefallen. Meistens sah er sowieso nur ihren Hintern, den sie ihm beim Hacken entgegenstreckte. Eigentlich kannte er sie nicht richtig.
Irgendwie ist es wie die Ruhe vor dem Sturm, dachte Mike. Er stieg in seinen Saab und fuhr zügig die schmale Grünewaldstraße hinunter.
Auf halber Strecke kam ihm Albert Rösler zu Fuß entgegen. Mike drückte kurz auf die Hupe. Sein Gartennachbar hob seine Hand so langsam, als ob ihm jede kleinste Bewegung zu viel sei.