Читать книгу Blutkirsche - Gudrun Weitbrecht - Страница 12

3

Оглавление

Durch das Fenster schien die Sonne hell und kraftvoll. Anne zog das Rollo bis zur Hälfte herunter und der Raum wurde in ein sanftes Halbdunkel getaucht. Obwohl der braune Linoleumboden wie eine Speckschwarte glänzte und sonst kein Staubkörnchen zu sehen war, roch es im Zimmer nach Krankheit, Urin und ungewaschenem Körper. Anne ging zum Bett, nahm die Hand der schlafenden Frau und streichelte sie. Die Pflegerin kam herein und stellte das Essenstablett auf den Nachttisch und fragte in einem polnischen Akzent:

„Schläft Oma schon wieder? Ich füttere sie nachher, ich muss vorher noch andere waschen.“

Wütend holte Anne ihr Handy aus der Tasche und tippte die Zahlen ein.

„Günther Wöhrhaus.“

„Hier Anne. Ich bin bei deiner Mutter. Schau bitte nach ihr, sie ist schon ganz abgemagert. Es ist deine Aufgabe, dich darum zu kümmern, schließlich sind wir seit fünf Jahren geschieden. Wann hast du sie eigentlich das letzte Mal besucht? Und wenn wir schon mal dabei sind: Wann hast du das letzte Mal mit deinem Sohn gesprochen? Außerdem ist die Unterhaltszahlung für März und April noch nicht eingegangen, und jetzt haben wir schon Anfang Mai! Mal wieder alles für Escort-Damen ausgegeben?“ Annes Stimme klang scharf und bestimmt.

„Moment mal, was soll das? Fängt das schon wieder an? Dauernd meckerst du rum. Wie ich mein Geld ausgebe, geht dich überhaupt nichts mehr an. Schließlich habe ich meiner Mutter das Heim besorgt. Die werden dafür bezahlt und das nicht zu knapp“, entgegnete Günther wütend. „Und was Julian angeht: Du hast das Sorgerecht. Er war schon immer mehr dein Sohn, als meiner, er sieht mir noch nicht einmal ähnlich.“

„Das heißt aber nicht, dass du dich als Vater der Verantwortung entziehen kannst, ganz zu schweigen vom Geld. Aber so ist es früher schon gewesen. Du kennst nur dich und immer sind die anderen zuständig, nie du selbst. Aber auf dem Werbeprospekt für die Gemeinderatswahl groß herausposaunen:

‚Ich bin auch diesmal Ihr Kandidat, der sich für Ihre Belange einsetzt. Für ein soziales und gerechtes Stuttgart.“

Den letzten Satz hatte Anne betont sarkastisch gesprochen. Dieser Heuchler! Gleichzeitig fühlte sie, dass sich hinter den Schläfen ein Knistern zusammenzog. Ihre Migräne kündigte sich an.

„Der Unterhalt kommt in den nächsten Tagen, ich bin zurzeit etwas klamm. Ich hab’ da ein Projekt laufen. Ich lege auf, ich hab’ jetzt keinen Kopf dazu, außerdem kann man sich mit dir nicht vernünftig unterhalten – ausgeschlossen! Deine Vorwürfe kotzen mich an, kümmere dich lieber um deine Mörder!“

Günther Wöhrhaus hatte das Gespräch abrupt beendet.

Anne schäumte vor Wut. Sie konnte mit ihm nicht reden. So war es auch in ihrer fünfzehnjährigen Ehe gewesen. Zum Schluss war ihnen nach den Streitorgien nur noch Gleichgültigkeit geblieben. Was Anne aber am meisten empörte war, dass ihr Ex sich nicht um Julian kümmerte. Kurz nach der Geburt und auch noch in den ersten beiden Jahren hatte ihr Mann mit ihm gespielt, ihn gewickelt und gefüttert, aber als Julian größer wurde, versiegte sein Engagement. Sie hatte es auf Günthers berufliche Situation geschoben. Von da an kam sie sich wie eine alleinerziehende Mutter vor.

Dabei war Julian ein Wunschkind. Jedenfalls für sie. Was hatte sie nicht alles auf sich genommen, um schwanger zu werden. Und das, obwohl sie Karriere machen wollte. Es klappte nicht, an ihr hatte es, entgegen der Aussage des Gynäkologen, nicht gelegen. Erst nach ihrem Mexikourlaub, den sie sich als Auszeit genommen hatte, um über ihre Ehe nachzudenken, wurde sie schwanger.

„Grüß Gott, ich bin die Wochenendvertretung von Doktor Gruber.“

Anne kannte den Arzt nicht. Das also war die Vertretung des Hausarztes, der sonst regelmäßig die Heimbewohner betreute.

Der blutjunge Mediziner, der aussah, als ob er Praktikant im ersten Semester sei, packte sein Stethoskop und eine Ampullenpackung aus seinem Koffer. „Es ist gut, dass Sie hier sind“, sagte er. „Sind Sie die Tochter? Ihre Mutter hatte heute Nacht wieder einen kleinen Schlaganfall.“

„Um Himmels willen, schon wieder ein ‚Schlägle‘. Wie schlimm ist es?“, fragte Anne.

„Er ist nicht besonders schlimm, man sieht es nur am herunterhängenden rechten Augenlid. Keine Lähmungen. Ich werde ihr eine Injektion gegeben. Im Krankenhaus könnte man auch nicht mehr für sie tun“, erklärte der Arzt, wahrscheinlich um Anne zu beruhigen, und schob die Kanüle in den Vene.

„Wieso hat man mich nicht gerufen?“, fragte Anne erbost. „Ich habe doch gesagt, wenn sich ihr Zustand verschlechtert, soll man mich informieren.“

„Ich weiß auch nicht, warum niemand angerufen hat, wahrscheinlich wollte die Schwester Sie nicht stören. Ich habe gehört, Sie sind Polizistin, das ist bestimmt anstrengend genug“, versuchte der Mediziner, eine Erklärung zu geben. Er packte seine Tasche und schaute nervös auf seine Armbanduhr. „Ich habe ein Medikament dagelassen. Die Dosis steht auf der Packung, die Pflegerin muss sie genau einhalten. Sie sind doch in einer Privatkasse? Die Medikamente werden dann ja voll bezahlt. Die Ampullen müssen aus der Apotheke geholt werden. Ich werde der Patientin jeden Tag Spritzen für die Durchblutung geben.“ Der Doktor ließ das Rezept liegen und verließ hastig das Zimmer. Anne hatte noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt, ihm zu erklären, in welchem Verwandtschaftsverhältnis seine Patientin zu ihr stand. Oder zu fragen, ob die Kranke nicht doch besser in der Klinik aufgehoben wäre. Anscheinend interessierte es ihn nicht, wahrscheinlich kam aber eine saftige Rechnung.

Dies war schon das zweite Pflegeheim, in dem die Seniorin lag. In dem vorherigen fielen dem langjährigen Hausarzt die tiefen offenen Stellen am Rücken und den Fersen der Bettlägerigen auf. Da dies nicht der einzige Fall gewesen war, wurde das Haus geschlossen. Wenn im Internet vorher eine Beurteilung der Güte des Heimes veröffentlicht und damit eine Orientierung möglich gewesen wäre, hätte Günther seine Mutter bestimmt nicht dort untergebracht. Anne vermutete, dass die Pflegekräfte mit Dumpinglöhnen bezahlt wurden und deshalb keine Lust hatten, sorgfältig zu betreuen und die Kranke umzulagern.

Natürlich gehörte es nicht mehr zu ihrer Aufgabe, sich um ihre Ex-Schwiegermutter zu sorgen, doch Marlene Wöhrhaus war zu Anne immer herzlich gewesen, auch nach der Scheidung. Vor ihrer Erkrankung hatte sie sich immer um ihren Enkelsohn so gekümmert, als sei nichts vorgefallen.

Anne wollte nachher mit der jetzigen Heimleitung reden. Die Frage der Krankenhauseinweisung musste geklärt werden. Und wer die Ampullen besorgen solle. Außerdem hätte man ihr oder Günther sagen müssen, dass ein unbekannter Arzt die Schwiegermutter behandeln würde. Sie wusste noch nicht einmal seinen Namen. Wozu bezahlte ihr Ex eigentlich noch zusätzlich zum Pflegegeld über dreitausend Euro für den Aufenthalt im Pflegeheim? Schließlich war diese Summe sein Argument vor Gericht gewesen, den Unterhalt für Julian zu kürzen, obwohl Günther mit seiner Baufirma bestimmt genug Geld scheffelte. Auf ihren Unterhalt hatte Anne verzichtet und ihren Mädchennamen wieder angenommen. Günthers Familiennamen hatte sie nie gemocht.

Anne setzte sich auf den Bettrand und strich der alten Frau leicht über die eiskalte Stirn. Sie hörte kein Atemgeräusch. Schlief sie oder war sie gerade gestorben? Als Anne mit dem Zeige- und Mittelfinger den schwachen Puls fühlte, schlug ihre Schwiegermutter die Augen auf.

„Wo bin ich? Warum bin ich nicht zu Hause? Bring mich sofort hier weg. Wo ist Günther?“, quengelte die Kranke. Anne merkte, dass die alte Dame heute noch ungeduldiger als sonst reagierte.

„Aber es ist doch schön hier, Mutter. Du hast vom Bett aus eine herrliche Aussicht und man kümmert sich gut um dich. Dein Sohn hat viel zu tun, er kommt sicher morgen.“ Anne log, um ihr Gegenüber nicht aufzuregen. Ihre letzten Worte gingen in leisem Wimmern der Seniorin unter. Vielleicht kam Günther ja tatsächlich am Muttertag zu Besuch.

Resigniert schob sie das Handy in ihre Handtasche. Sie betrachtete die Kranke, die jetzt röchelte. Es half alles nichts. Ihr Dienst begann in einer Stunde. Jetzt noch ein paar Lebensmittel einkaufen, die Zeit reichte noch, dann zur Polizeidirektion in der Hahnemannstraße, überlegte Anne.

Der Gebäudetrakt, in dem ehemals das Robert-Bosch-Krankenhaus untergebracht war, lag nicht weit vom Pflegeheim und dem Killesberg entfernt. Wenn sie Glück hatte, fiel der Stau auf dem Pragsattel heute aus.

Kurz nach elf Uhr wollte Anne das Zimmer verlassen und mit der Heimleitung reden, als ihr Handy klingelte.

„Wieland.“

„Chefin, hier Marco. Es gibt einen Toten.”

„Wo?“

„Kleingartenanlage Kirschblüte in Feuerbach. Die Schutzpolizei und der Kriminaldauerdienst sind schon vor Ort.“

„Okay! Kirschblüte? Alles klar, ich bin noch in Feuerbach. Aber etwas präziser bitte! Das ist ein großes Gebiet. Ich bin früher dort mal gejoggt, ist aber schon lange her. Wo genau dort?“

„Garten Nummer 13. Liegt an der Grünewaldstraße. Der Parkplatz am Vereinsheim kann nicht benützt werden, aber es gibt einen Fahrweg bis fast zum Tatort, vom Hauptweg den zweiten kleinen Weg rechts bergab, den muss man laufen“, erklärte Marco Schneller seiner Chefin.

Die Verordnung des Arztes gab Anne bei der leitenden Schwester ab, das Gespräch musste warten.

Sie verspürte noch immer einen leichten Druck an der Schläfe, als sie das Pflegeheim verließ. Der kürzeste Weg zur Kleingartenanlage führte bergab über die kurvige enge Happoldstraße. Autos kamen ihr entgegen, sie musste mehrmals scharf abbremsen und immer wieder an einer freien Stelle rechts anhalten. Sie bog in die Dieterlestraße ab, dann in die Feuerbacher-Tal-Straße ein. Hinter dem Friedhof ging es links hinein in die Grünewaldstraße. Auf der Fahrt grinsten sie überall an Pfosten, Lichtmasten und Bäumen die Kandidaten zur Gemeinderatswahl an.

Aber im Gegensatz zu den anderen Mitstreitern seiner Partei, deren Gesichter auf den Fotos wie die von Mäusen oder Frettchen aussahen, war Günthers Plakat überraschend gut gelungen. Sein PR-Berater und Fotograf hatten ganze Arbeit geleistet.

Anne folgte dem Hinweisschild. ‚Kleingartenanlage Kirschblüte‘. Darunter stand: ‚Wirtshaus zum Gartenzwerg – Biergarten – dienstags bis sonntags geöffnet von 12–22 Uhr‘. Schon von weitem sah Anne den blauweißen Passat der Schutzpolizei. Es stand hundert Meter vom Festzelt und Parkplatz entfernt. Ein Auto mit einer dunkelorangefarbenen Aufschrift ‚Notarzt‘ stand mit der Motorhaube entgegengesetzt zum Polizeiauto. Also gab es noch eine andere Zufahrt, es war unmöglich hier zu wenden, die nächste Gelegenheit dazu gab es an der Gabelung und die lag vierzig Meter entfernt. Den Dienstwagen der Beamten des Kriminaldauerdienstes, erkennbar am Nummernschild, hatte sie schon am Straßenrand vor dem Parkplatz entdeckt. An einem Hainbuchenzaun, der eine Parzelle umgab, hatte Marco sein Motorrad, eine Yamaha, aufgestellt. Am Streifenwagen versammelte sich eine Handvoll Menschen. Anne drückte mehrmals auf die Hupe, aber die Neugierigen traten nur zögernd zur Seite. Sie stellte ihren Peugeot Cabrio hinter dem Polizeiauto ab.

„Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen“, tadelte Anne die starrenden Schaulustigen und ging den kleinen stufigen Pfad hinunter. Ein rotweißes Plastikband spannte sich um den Außenzaun des etwa drei Ar großen Gartens. Vor dem Gartentor hielt eine hübsche Polizistin Wache.

Anne zückte ihren Dienstausweis „Kriminalrätin Wieland“ und schlüpfte unter dem Band hindurch.

Ein junger Polizist, noch in der alten schlammfarbenen grünen Uniform und Mütze gekleidet, kam ihr ein paar Schritte entgegen. „Grüß Gott, Möller – Revier Feuerbach.“

Ein Mann, dessen Jacke auf dem Rücken die Aufschrift Notarzt trug, füllte auf einem Tisch, der neben der Laube auf einer betonierten Freifläche stand, ein Formular aus. Er trug ein Headset für sein Walkie-Talkie.

Marco Schneller, Annes Assistent, stand daneben und winkte ihr zu.

„Grüß Gott! Womit haben wir es hier zu tun?“, fragte Anne.

„Tötungsdelikt, Chefin“, antwortete Marco.

Anne fiel auf, dass ihr Mitarbeiter dunkle Augenringe hatte und völlig übernächtigt aussah.

„Na, mal wieder nicht geschlafen – das Baby? – Melanie?“

Marco nickte betrübt. Das Baby war vor sechs Wochen zur Welt gekommen. Melanie war seine Frau und litt seit der Geburt unter Depressionen.

„Okay, erzähl mir später davon. Jetzt bringen wir das hier erst mal hinter uns. Ist unsere ‚Feuerwehr‘ schon da? Wo sind die Kollegen vom Kriminaldauerdienst?“, fragte sie.

„Hahn und Ruoff schauen sich den Geschädigten an“, berichtete Marco seiner Chefin.

Anne fragte: „Hast du ihre Ergebnisse notiert und in dein iPhone übertragen?“ Währenddessen zog sie aus ihrer Tasche den weißen Overall und Überziehschuhe aus Plastik hervor, streifte sie über und zog Einmalhandschuhe an.

„Natürlich!“, antwortete Marco, fast beleidigt, dass seine Chefin überhaupt infrage stellte, er würde seinen Job nicht richtig erledigen.

„Wieland, Kripo Stuttgart. Und Sie sind?“, fragte Anne den Arzt, der inzwischen aufgehört hatte, zu schreiben, und seinen Notfallkoffer zusammenpackte.

„Doktor Kübler, Notarztdienst. Die Leitstelle wurde kurz vor elf Uhr verständigt, ich konnte aber nur noch den Tod feststellen. Keine natürliche Todesursache. Hier kommt die Hutschnur-Regel zur Anwendung. Ist alles in meinem Bericht notiert.“

„Okay“, sagte Anne. Das mit der Hutschnur kannte sie. Alle Verletzungen am Kopf oberhalb einer imaginären Hutschnur wiesen auf einen unnatürlichen Tod hin. Die unterhalb der Hutschnur hatten natürliche Ursachen, es sei denn ein Opfer stürzte die Treppen hinunter oder fiel über eine Kante.

„Wie sieht es mit dem Todeszeitpunkt aus?“

„Die Leichenstarre hat noch nicht voll eingesetzt, also ich würde sagen, so vor vier bis fünf Stunden“, entgegnete der Mediziner und fragte: „Brauchen Sie mich noch? Ich bin über Funk zu einem Unfall gerufen worden. Eine große Sache auf der Autobahn.“

Anne zögerte eine Sekunde. „Ich glaube, wir brauchen Sie hier nicht mehr, schicken Sie mir ihren vollständigen Bericht ins Präsidium.

Jetzt zur Leiche! Wo ist sie?“

„Hinter dem Häusle, auf dem Mist!“, antwortete Marco.

Anne begrüßte die Kollegen des Kriminaldauerdienstes mit einem ‚Hallo‘ und trat vorsichtig an das Opfer heran, um es von nahe zu betrachten.

„Etwa fünfzigjähriger Mann, klaffende breite etwa zehn Zentimeter große Kopfwunde. Die zweite daneben ist nur circa drei Zentimeter breit. An den Verletzungen Gerinnungsspuren. Tötungsdelikt. Hat sich sehr wahrscheinlich nicht selbst den Schädel gespalten. Sieht bald die Radieschen von unten.“

Anne überhörte Marcos flapsige Bemerkung. Mancher Polizist konnte nur mit vorgetäuschter Kaltschnäuzigkeit oder Zynismus die Arbeit beim Morddezernat ertragen. Aber sie schätzte Marco, der bei ihrer ersten Begegnung durch sein jungenhaftes spitzbübisches Auftreten einen völlig falschen Eindruck gemacht hatte. Marco kam aus der Nähe von Leipzig, was manchmal auch zu hören war. Kurz nach der Wende zog er nach Stuttgart um. Marco arbeitete gewissenhaft, fleißig und schnell. Ein Käpsele, wenn es um Computer ging. Falls sie die Stelle als Leiterin des Dezernates bekam, würde sie ihn zur Beförderung vorschlagen. Die Gehaltsaufbesserung konnte ihr Assistent bestimmt gut gebrauchen, jetzt wo das Baby da war und seine Frau die Elternzeit nutzte.

„Tatwaffe?“

„Noch nicht ermittelt, aber wie es aussieht ein langer scharfer Gegenstand, wahrscheinlich Axt oder Hacke.“

„Weiß man, wer er ist?“

„Laut Aussage des Zeugen, ist es ein Harry Kohl, der Vorsitzende des Vereins, ist wohl Vertreter von Beruf.“ Marco klappte seinen Moleskine-Notizblock auf und las die Angaben vor.

„Tatzeit?“

„Laut Arzt und gemessener Körpertemperatur vor circa vier bis fünf Stunden. Aber den genauen Zeitpunkt werden wir wohl später durch die Zellproteinanalyse erfahren.“

Anne nickte. Das würden der Rechtsmediziner und das pathologische Labor erledigen.

„Wer hat ihn gefunden?“

„Ein Kleingärtner − der mit der ekelhaft beigefarbenen Hose − wartet hinter der Absperrung“, informierte Marco seine Chefin.

Anne schaute sich um und entdeckte einen etwa siebzigjährigen Mann, der sich auf einen Stock stützte. Er trug Wanderstiefel. Sein Gesicht war bleich.

„Ist der Staatsanwalt schon verständigt?“, fragte Anne den Polizisten Möller, der schweigend zugesehen hatte.

„Ja, Staatsanwalt Sommer muss gleich hier sein“, entgegnete der junge Schutzpolizist. Er schien ziemlich nervös zu sein. Der Arme, dachte Anne, anscheinend sein erstes Tötungsdelikt. Bestimmt frisch von der Ausbildung auf Streife.

Sie konnte sich noch an ihren ersten Fall erinnern, und wie unsicher sie damals gewesen war.

Morde gab es nicht häufig in der Stadt. Stuttgart stand im Städteranking der Gewaltverbrechen ziemlich weit unten.

„Ich glaube, Sie haben hier alles bestens im Griff, ich denke wir gehen dann mal“, sagte Hahn. Ruoff nickte mehrmals, beide hatten anscheinend schon einen anstrengenden Dauerdienst hinter sich und schienen froh zu sein, den Kollegen das Feld überlassen zu können.

„Was ist mit der Spurensicherung?“, fragte Anne, während sie den Toten und den Tatort prüfend untersuchte. Sie besaß ein fotografisches Gedächtnis. Ein Vorteil bei der Polizeiarbeit.

„Sind schon da, Frau Kriminalrätin – gestatten Roller und Bämpfle.“

Eher Pat und Patachon, amüsierte sich Anne, als sie hochschaute und die zwei begrüßte. Der eine war klein und gedrungen, und der andere wirkte wie ein hoch aufgeschossener Spargel, während er durch den Garten stakste. Beide trugen weiße Kapuzenoveralls und Überschuhe, was diesen Eindruck noch verstärkte. Anne hatte mit den Beamten schon einmal zusammengearbeitet.

„Hier liegt feuchter Sand vor dem Misthaufen, ich möchte die Gipsabdrücke aller Fußspuren, die nicht von unseren Galoschen oder vom Notarzt sind. Findet mir die Tatwaffe, die Kleidung und den linken Turnschuh! Es müssen doch irgendwelche Faserspuren, Haare oder DNS-Reste des Täters auf den Shorts vorhanden sein. Außerdem sind darauf getrocknete weiße Flecken. Vielleicht Sperma?

Dann die Laube untersuchen, alles eintüten. Ich habe einen Laptop gesehen – mitnehmen! Bestimmt gibt es auch ein Handy und wie immer: Jeden Stein umdrehen“, erklärte Anne Roller und Bämpfle, die inzwischen die Leiche von mehreren Positionen aus fotografierten und mit einem Meterstab den Tatort ausmaßen.

„Alles klar, wie immer. Geht in Ordnung“, versicherten die beiden Beamten der Spurensicherung. Polizist Möller trat auf Anne zu.

„Frau Wieland, vielleicht ist das für die Ermittlung wichtig: Wir wurden erst vor zwei Wochen hierher gerufen, genau in diesen Garten, um einen Einbruch aufzunehmen. Es wurde aber nichts gestohlen, laut Aussage des Geschädigten.“

Anne runzelte die Stirn. Es konnte wichtig sein, auf alle Fälle notierte sie es sich in ihren Palm. Ein so spektakulärer Einbruch wie in ein Gartenhaus in Kornwestheim, bei dem man glaubte die DNS der Polizistenmörderin von Heilbronn gefunden zu haben – dem Phantom – war es sicherlich nicht. Aber man konnte es nie wissen.

„Marco, lass dir nachher die Datei über den Einbruch mailen. Und schick als Erstes den Mann, der das Opfer gefunden hat, zu mir. Wenn möglich, verhören wir außerhalb des Gartens, damit keine Spuren am Tatort verwischt werden. Schau mal nach, ob das Gasthaus offen ist. Wir könnten einen Raum gebrauchen. Um die Zeugen in den umliegenden Parzellen müssen wir uns später kümmern. Vielleicht hat ja jemand was gesehen. Wir brauchen die Unterlagen des Vereins – Namen, Adressen. Mit Sicherheit ist da was Interessantes dabei. Die Polizisten vom Revier Feuerbach müssen die Gaffer am Streifenwagen vernehmen.“

Marco kannte die klaren Ansagen seiner Chefin.

Während die Spurensicherung noch den Tatort untersuchte, betrat Anne die Laube und schaute sich um. Eine Geldkassette stand auf dem Tisch. Anne öffnete sie. Nur einige Euro Kleingeld, keine Scheine befanden sich darin. Hose und Socken, anscheinend die Kleidung des Getöteten, lagen ordentlich gefaltet auf der Eckbank. Ein Hemd und ein zweites, ein Polohemd, lagen daneben. Auf dem Boden darunter standen Slipper. Anne zog aus der hinteren Hosentasche ein wulstiges Portemonnaie, in dem sich ein Ausweis, der Führerschein, eine EC- und Kreditkarte sowie zehn Fünfzig-Euro-Scheine, dreißig Zwanzig-Euro-Scheine und mehrere Zehn-Euro-Scheine befanden. Also, anscheinend kein Raubmord. Aber eine Menge Geld. Der Tote hatte auch noch seine Armbanduhr an, eine teure Marke, für die so mancher Hollywoodschauspieler warb.

Sie bemerkte auf dem Tisch in einem randvoll mit Asche gefüllten Teller eine papierne Banderole sowie Zigarrenstummel. Sie roch daran. „Eine Cohiba. Die hier kostet mindesten fünfzehn Euro“, stellte Anne laut fest, während sie die Banderole und den Zigarrenrest in eine kleine Plastiktüte hineinlegte und sie beschriftete.

„Ziemlich exklusiver Geschmack für einen Schrebergärtner, findest du nicht auch? Hallo, Anne.“ Staatsanwalt Jochen Sommer stand in der Türöffnung und beobachtete Anne.

„Hallo, Jochen.“ Anne lächelte, als sie den Staatsanwalt bemerkte. Mein Gott, ich habe fast vergessen, was das für ein gut aussehender Mann ist, fuhr es ihr durch den Kopf. Sieht aus wie ein junger Harrison Ford. Und wie immer perfekt gekleidet – dunkelgrauer Anzug, sicher von einem exklusiven Herrenausstatter. Sogar ein hellblaues Einstecktuch, passend zur Krawatte, blitzte aus der Brusttasche hervor.

Im letzten Jahr war sie mit Jochen ein paar Mal ausgegangen. Es folgte eine sechsmonatige leidenschaftliche Affäre, die Anne beendet hatte. Seitdem ging sie, falls beruflich es sich vermeiden ließ, dem Staatsanwalt aus dem Weg. Nicht nur wegen des Tratsches im Präsidium. Auch wegen ihrer Erfahrung, dass Beziehungen zu Kollegen meistens tragisch endeten und einer dann immer der Dumme blieb und sich versetzen ließ. Was schwerer für Anne wog, war der Umstand, dass Jochen Sommer zwölf Jahre weniger als sie zählte.

Es kam nicht so häufig vor, dass ein Staatsanwalt sich am Tatort informierte, nur die eifrigsten oder die einen besonderen Grund hatten, ließen sich blicken.

Hatte Jochen einen besonderen Grund, hier aufzutauchen? Kam er etwa wegen ihr? Sicher nicht, da sie während der Ermittlungen in diesem Fall sowieso zusammenarbeiteten.

„Gut siehst du aus Anne, so richtig sommerlich angezogen, wie für eine Gartenparty.“ Jochens Stimme klang belustigt. In seinen dunkelbraunen Augen blitzte der Schalk.

Anne schaute an sich herunter. Stimmt, ihr Kleid wirkte wie für einen Ausflug ins Grüne gemacht. Aber dies hier ist kein Picknick, sondern harte Arbeit, das wusste sie.

„Hm, na ja, im Radio hatten sie schönes Wetter vorhergesagt. Wie du vielleicht noch weißt, ziehe ich lieber Kleider als Hosen an“, antwortete Anne verlegen. „Aber du bist doch bestimmt nicht hier, um mir ein Kompliment zu machen? Darf ich dich über die Sache kurz informieren?“

Jochen hörte aufmerksam zu. Während Anne ihn über das Wesentliche aufklärte, konnte sie schwach sein herbes Aftershave riechen. Über ihren Körper lief ein wohliger Schauer.

„Chefin, die Gaststätte ist zu. Laut Aussagen des Zeugen Rösler liegen die Unterlagen über die Schrebergärten im Vereinszimmer und das ist im ersten Stock. Dazu hat aber niemand einen Schlüssel, außer dem Vorsitzenden und dem Kassierer.“

Marco schaute zwischen seiner Chefin und dem Staatsanwalt hin und her. Gab es da etwas, was ihm entgangen war? Aber wenn ja, ging ihn das nichts an.

„Sie haben den Toten gefunden?“, fragte Anne den älteren Mann, der sich ihr als Albert Rösler, Pensionär und Gartenwart, vorstellte.

„Ja, und ich habe nichts verändert, genauso wie es im Fernsehen immer wieder gezeigt wird.“

Anne schmunzelte. Krimis als Hilfe in allen Lebenslagen.

Sie notierte die Uhrzeit der Ankunft von Rösler am Tatort und fragte: „Was wissen Sie denn über Harry Kohl, hatte er mit irgendjemand Streit, Feinde? Gab es Probleme?“

Albert zögerte. „Probleme? Ich weiß nicht so richtig, Probleme gibt es doch überall. Feinde? Nun ja, wie man’s nimmt.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Anne.

„Als Vorsitzender eines Vereins muss man manchmal unpopuläre Maßnahmen ergreifen“, entgegnete Albert. Die gewählten Worte hatte er einmal in der Zeitung gelesen, sie schienen der Situation angemessen.

„Aha, Maßnahmen gegen Vereinsmitglieder. Gegen wen?“ Anne schrieb die Information über die renitenten Mitglieder auf.

„Wann haben Sie Herrn Kohl das letzte Mal lebend gesehen?“

Röslers Augen rollten nach oben und er verfiel ins Schwäbische: „Geschtern om Mitternacht, mir hend a Schnäpsle z’samme dronke, der Ullrich ond i. Do wor dr Harry no quicklebendich.“

„Und heute Morgen, ist Ihnen da jemand begegnet? Haben Sie jemanden gesehen oder etwas Verdächtiges bemerkt?“

Albert überlegte eine Sekunde. „Ja, Fink kam mir auf der Straße mit seinem Auto entgegen.“ Albert bemühte sich nun in ein Hochdeutsch, das dem Honoratiorenschwäbisch entsprach, umzulenken, was ihm überraschend gut gelang.

„Fink?“

„Ja, der Gartenfreund in Nummer 15. Ich hab’ mich noch gewundert, weil das nicht sein üblicher Nachhauseweg ist.“

„Was ist denn sein üblicher Nachhauseweg?“, erkundigte sich Anne.

„Fink ist runtergefahren, aber er wohnt in die Richtung, in der ...“ Albert Rösler beendete den Satz nicht, drehte sich um und wies mit dem Zeigefinger auf den Kräherwald. „Ist vielleicht zum Einkaufen.“

„Aha“, meinte Anne und fragte: „Ist Ihnen sonst jemand begegnet?“

„Noi, aber ...“

„Was aber?“, fragte Marco.

Albert verfiel wieder ins Schwäbische. „Ich han denkt, do währ ebber em Garte vom Harry gwäh, aber da han i mi wohl gtäuscht.“

„So getäuscht? Aber niemand erkannt?“, hakte Marco nach.

Albert Rösler schüttelte den Kopf und brummte: „Noi, i bräuchta neu’ Brill!“

Anne schrieb die Aussage über die eingeschränkte Sehfähigkeit auf.

„Hat Herr Kohl Angehörige und wo wohnen die denn?“

„Hanoi, der wohnt doch in der Grazer Straße, bei der Festhalle, die Tochter lebt bei ihm und ...“

„Nur die Tochter, keine Frau?“, unterbrach Anne den alten Mann.

„Noi, die isch vor vier Johr gstorbe, Harry hott gsagt, es wär ihr Herz gewäh, übr Nacht sei se gstorbe.“

Anne stutzte – Grazer Straße bei der Festhalle, das war ja praktisch bei ihr um die Ecke. Hatte sie den Ermordeten vielleicht vom Sehen gekannt? Eher nicht. Die Leiche wurde in der Rechtsmedizin gewaschen, vielleicht konnte sie sich dann an ihn erinnern. Kohl war kein Feuerbächer, sondern ein Reigeschmeckter, so viel hatte sie inzwischen von Rösler herausbekommen.

Seit ihrer Ankunft im Garten waren über zwei Stunden vergangen. Anne hatte sich von Albert Rösler die Namen der Pächter der angrenzenden Parzellen geben lassen. Keinen von ihnen traf sie an, außerdem rührte sich nichts. Die Gartentore waren fest verriegelt, so konnte sie im Augenblick nicht hinein. Falls sich irgendwelche Verdachtsmomente ergaben, musste sie sich von einem Richter den Durchsuchungsbeschluss zur Öffnung geben lassen. Sie fertigte einen Plan der fünf Gärten an, die in unmittelbarer Nähe des Mordopfers lagen und fotografierte sie zusätzlich mit ihrem Handy. Vom Vereinszimmer, das sich im Obergeschoss des Wirtshauses befand, ließ sich der Schlüssel des Vorsitzenden nicht auffinden. Kassierer Theisen, der am Freitag bei Harry mit ihm den Schlummertrunk zu sich genommen hatte, besaß den zweiten und sei bestimmt im Baumarkt anzutreffen, meinte Albert Rösler.

„Okay, da können wir jetzt nichts machen, ohne Beschluss dürfen wir sowieso die Tore nicht aufbrechen“, entschied Anne. „Vielleicht finden wir auch Ordner mit den Daten des Vereins im Computer des Opfers, die Kriminaltechnik soll sich darum kümmern. Und um das Handy! Anrufe, SMS, gespeicherte Nummern, irgendwelche Hinweise muss es da ja geben.“ Anne überlegte.

„Falls wir noch Fragen haben, kommen wir auf Sie zu. Sollte Ihnen noch was einfallen oder ungewöhnlich auffallen, rufen Sie uns bitte an.“ Marco gab Albert Rösler die Visitenkarte mit der Telefonnummer des Dezernats.

Inzwischen hatten es einige Neugierige geschafft, sich fast bis zum Gartentor durchzudrängeln. Auch am unteren Gartentor zur Waldseite standen Leute.

„Verbrechen sind eine bessere Unterhaltung als die Hocketse im Festzelt“, bemerkte Marco trocken.

„Die Leichenschau vor Ort muss unbedingt abgebrochen werden“, entschied Anne. „Vernünftiges Arbeiten ist hier nicht mehr möglich. Bis ein Zelt über dem Tatort aufgestellt ist, vergeht mir zu viel Zeit, es sieht nach Gewitter und Regen aus und dann sind alle Spuren verwischt.“

Der inzwischen eingetroffene Bestatter legte den Toten in einen Zinksarg und sollte ihn zur Leichenhalle überführen.

„Okay, wir sind für heute hier fertig, lass uns nun der Tochter die traurige Nachricht überbringen. Marco, fahr mir in die Grazer Straße nach.“

Bis sich die Katastrophentouristen verzogen hatten, sollte Polizist Möller vor dem Gartentor stehen bleiben. Laube und Tore wurden versiegelt. Eine gänzliche Überwachung des Gebietes würde schwierig werden, da die Außenzäune an den Wegen für einen einigermaßen sportlichen Neugierigen leicht zu überwinden waren. Zwischen den Nummern 12, 15, 14 und dem Garten des Mordopfers gab es sowieso nur Hecken und Büsche. Auch von der Waldseite her bot die Parzelle den Eindruck, dass der Zaun sehr leicht zu übersteigen war. Anne hoffte, dass die Kriminaltechnik alle Spuren gesichert hatte.

Inzwischen hatte sich am Hauptweg das Häuflein Neugieriger zu einem Menschenauflauf entwickelt. „Dess ka koiner von ons gwä sei, dess do war an Auswärdiger“, ließ sich die einhellige und laut geäußerte Meinung vernehmen.

„Des Volkes Stimme“, bemerkte Marco trocken, während er seine Yamaha startete.

Der Notarzt bewältigte schon seinen nächsten Einsatz. Das Dienstfahrzeug der Spurensicherung, der Leichenwagen und Annes Peugeot bahnten im Schritttempo als Konvoi den Weg, im Schlepptau das Krad von Marco. Der Streifenwagen konnte die Nachhut bilden. Der BMW des Staatsanwaltes war nirgends zu sehen, er hatte sich vorher schon verabschiedet. Nun, übermorgen spätestens würde sie ihn bei der Besprechung wiedersehen.

Im Vorbeifahren warf Anne einen kurzen Blick in das Festzelt.

Einige unverdrossene Gäste saßen an den Biertischen, vor sich eine Maß oder ein Viertele Roten, auf Papptellern lagen halbe Hähnchen mit Brötchen. Der Akkordeonspieler saß missmutig in einer Ecke, das Instrument vor seinem Bauch, aber er spielte nicht. Ein kleines Grüppchen Menschen, zünftig gekleidete Frauen in Rüschenblusen und Dirndl, Männer in rotkarierten Hemden und in Lederhosen stand unschlüssig am Eingang des Zeltes.

Blutkirsche

Подняться наверх