Читать книгу Der Aufstand - Guido Knopp - Страница 4

Vorwort

Оглавление

Wohl kaum ein Tag in der Geschichte beider deutscher Staaten war in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts so umstritten, so sehr Gegenstand von unterschiedlichen Legenden wie der 17. Juni 1953. In der Bundesrepublik, die abseits des Geschehens stand, wurde der Tag alsbald zum Symboldatum erklärt – für den Kampf aller Deutschen um Freiheit und Demokratie. Nur wenige Wochen nach der Erhebung erhielt er seinen Namen: »Tag der deutschen Einheit«.

Doch über das offizielle Gedenken hinaus fand dieser Gedenktag in Westdeutschland keine emotionale Resonanz. Eine Volksbewegung zur Einheit, ganz zu schweigen von einem Streik oder gar Aufstand, gab es zwischen Kiel und Konstanz nie. Dafür bescherte der 17. Juni den Westdeutschen einen Feiertag. Sie durften sich sonnen, während die Ostdeutschen, die den Aufstand gewagt hatten, arbeiten mussten.

In der DDR versuchte das Regime, die Erinnerung an den 17. Juni zu tilgen. In den Tagen nach dem Aufstand mit der hanebüchenen Begründung, das Ganze sei ein vom Westen gesteuerter faschistischer Putsch gewesen: »Tag X« nannte es die SED-Propaganda. Weder die Belogenen noch die Lügner selbst glaubten auch nur einen Deut. Tatsächlich war die Erinnerung an den 17. Juni 1953 für die SED-Machthaber bis zum Ende ihres Staates ein kollektives Trauma. Sie wussten: Ohne den Einsatz der sowjetischen Armee wären sie hinweggefegt worden. Sie lernten daraus: Nie wieder Schwäche zeigen; hart bleiben, auch wenn es vielleicht falsch war. Der Starrsinn der alten Männer, die sich gegen Gorbatschows Reformkurs stellten, hatte viel mit ihren Jugenderfahrungen am 17. Juni 1953 zu tun. Noch im August 1989, als die Fernsehbilder von den Flüchtlingen in Ungarn die Daheimgebliebenen in der DDR erschütterten, fragte MfS-Minister Mielke in die Stasi-Runde: »Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?« Diesmal war es ein Montag im Oktober in Leipzig, der der DDR das Totenglöckchen läutete. Denn diesmal rollten keine Sowjetpanzer.

Unter den Schicksalstagen der deutschen Nachkriegsgeschichte ist der 17. Juni 1953 immer ein wenig stiefmütterlich behandelt worden. Anders als der 13. August 1961, der mit dem Bau der Berliner Mauer nur die Konsequenzen aus dem gescheiterten Volksaufstand zog, oder gar der 9. November 1989, der mit einem grandiosen symbolischen Akt das Ende des Systems besiegelte, das sechsunddreißig Jahre zuvor gerade noch einmal davongekommen war, blieb das Datum jenes Junitages 1953 im Bewusstsein vieler Menschen kaum mehr als eine verblasste Erinnerung an symbolträchtige Bilder: an die beiden jungen Leute auf dem Potsdamer Platz, die einen russischen Panzer mit Steinen bewarfen; an die Menschenmenge, die mit lachenden Gesichtern, schwarz-rot-goldene Fahnen in den Händen, durch das Brandenburger Tor marschierte. An das Einholen der Roten Fahne auf ebendiesem Tor.

Die Erinnerung gerann zum Ritual (West) oder wurde unterdrückt (Ost). Der vierzigste Jahrestag des Aufstands drei Jahre nach der Wiedervereinigung hätte Gelegenheit geboten, den Trägern des 17. Juni Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie wurde versäumt.

Jetzt, nach fünfzig Jahren, ist es höchste Zeit. Noch leben einige Menschen, die am 17. Juni 1953 Mut bewiesen haben. Sie aus der Anonymität zu holen, ist eine Aufgabe dieses Buches. Lenins sarkastische Bemerkung, dass jede Revolution in Deutschland zum Scheitern verurteilt sei, weil deutsche Revolutionäre vor der Besetzung eines Bahnhofs vorsichtshalber eine Bahnsteigkarte lösen, straften die Ostdeutschen am 17. Juni 1953 Lügen.

Ja, es war ein Aufstand. Ja, es war ein Volksaufstand. Und ja, es war eine, leider misslungene, Revolution. Sie begann als Arbeiterrevolte gegen überhöhte, wahnwitzige Arbeitsnormen. Doch bald schon, binnen weniger Minuten, trat als zweite Forderung der Rücktritt der DDR-Regierung in den Vordergrund. Und dann folgte die mächtige Losung: »Freie Wahlen!« Wenn es sie hätte geben dürfen, dann wäre das wohl gleichbedeutend mit der Wiedervereinigung gewesen. Viele Demonstranten spürten das. Sowohl am Brandenburger Tor als auch in den Städten der Provinz sangen die Menschen das Deutschlandlied.

Es ging nicht nur um die Unzufriedenheit mit dem System, das mehr und mehr als Diktatur empfunden wurde; nicht nur um Protest gegen Schikanen der allgegenwärtigen Staatspartei und bedrückende Lebensbedingungen – es ging auch um die Sehnsucht nach der Einheit Deutschlands, die damals noch als Selbstverständlichkeit empfunden wurde. Dass sie am und nach dem 17. Juni nicht zustande kam, hatte mehrere Gründe. Zum einen waren da die sowjetischen Panzer. Wenn es hart auf hart gekommen wäre, hätten sie geschossen. Und das ahnten auch die Demonstranten. Ihre Hoffnung, der Westen würde helfen, verflog rasch. Der Westen half natürlich nicht – denn Jalta war ja erst acht Jahre her, und nur die Teilung der Welt schien den labilen Frieden zu garantieren. Auf der Strecke blieben Freiheitswille, Wut und Trotz der Menschen – wie in Ungarn 1956 oder in der Tschechoslowakei 1968.

Zu guter Letzt: Der Aufstand musste scheitern, weil er keine Führer hatte, die den Aufständischen klare, erreichbare Ziele hätten weisen können. Es war ein Aufstand ohne Führung, ohne Strategie, ohne einheitliche Stimme. Es war eine beispiellose spontane Massenerhebung, eine kollektive Volksbewegung, die zum Scheitern verurteilt war.

Gerade das Fehlen einer zentralen Leitung machte jedoch den einzigartigen Charakter dieses Volksaufstandes aus – ein revolutionärer Strudel, der das scheinbar festgefügte Machtsystem der SED aus den Angeln hob und durcheinander wirbelte. Und er wurde von vielen Menschen getragen, die für wenige Stunden aus ihrer Anonymität heraustraten und die Veränderung der herrschenden Verhältnisse verlangten.

Dieses Buch soll dazu beitragen, dass diesen Menschen jener ehrenvolle Platz in der Geschichte zukommt, der ihnen gebührt.

Der Aufstand

Подняться наверх