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Der »Neue Kurs«
ОглавлениеWas sie denn davon hielten, fragte Lawrentij Berija am 27. Mai 1953 fast beiläufig die Mitglieder des sowjetischen Ministerrates, wenn man den Sozialismus in der DDR über Bord werfe? Wie es denn wäre, die Gleise für ein vereinigtes, neutrales und nicht sozialistisches Deutschland zu stellen? Seine Zuhörer glaubten zunächst, sie hätten sich verhört. Außenminister Wjatscheslaw Michajlowitsch Molotow erinnerte sich später, dass Berija sich von den verblüfften Gesichtern um ihn herum nicht hatte beirren lassen, sondern völlig ungerührt weitergeredet habe. »Alles, was wir wollen, ist ein friedliches Deutschland, und dabei spielt es keine Rolle, ob es sozialistisch ist oder nicht.« Seit Stunden schon hatten die Politiker über die alarmierenden Flüchtlingszahlen in der DDR und die prekäre finanzielle Situation des westlichsten Trabanten debattiert. Die meisten plädierten für eine sanfte Kurskorrektur. Aber würde das reichen?
Die DDR schlingerte nun schon seit Monaten am wirtschaftlichen Abgrund, und noch immer war keine Besserung in Sicht. Berijas Gedankengang war eigentlich simpel: Wenn der Sozialismus in der DDR tatsächlich nicht durchzusetzen war, man also das halbe Deutschland nicht ganz bekommen konnte, war es dann nicht besser, das ganze Deutschland halb zu haben? Nicht, dass dieser Gedanke gänzlich neu gewesen wäre. Selbst der »weise Vater der Völker« hatte ihn schließlich ein Jahr zuvor mehr oder minder ernsthaft vorgetragen. Während Stalins »Angebot« aber noch mit einer Kette von Bedingungen verknüpft gewesen war, schien Berija den Trabanten jetzt einfach fallen lassen zu wollen. »Die DDR?«, fragte er in die Runde, wie sich der spätere Außenminister Gromyko erinnerte. »Die ist nicht einmal ein richtiger Staat. Sie wird nur durch sowjetische Truppen aufrecht erhalten, auch wenn wir sie Deutsche Demokratische Republik nennen.« Wie recht er damit hatte, würde sich wenige Wochen später zeigen.
Mit dem Frühjahr 1953 hatte das Eis in Moskau zu schmelzen begonnen. Die Fesseln, mit denen der Diktator das Land fast drei Jahrzehnte kujoniert hatte, lockerten sich. So öffneten sich für Häftlinge, die zu weniger als fünf Jahren verurteilt waren, unerwartet die Lagertore. Auch diejenigen, die in den letzten Tagen vor Stalins Tod verhaftet worden waren, kamen frei, dazu Zehntausende politischer Häftlinge. Die Kremlärzte, die Stalin unter dem Vorwurf, sie seien für den Tod führender Politiker verantwortlich, hatte einkerkern lassen, wurden rehabilitiert. Das alles waren deutliche Zeichen, dass die neuen Herren im Kreml Schluss machen wollten mit stalinistischer »Säuberung« und willkürlicher Verfolgung im eigenen Land.
Und auch nach außen hin wurde eine andere Gangart eingeschlagen. Trotz aller Querelen wussten Stalins Diadochen, dass der Tod des Diktators sie in eine höchst prekäre Situation manövriert hatte. Sosehr man ihn auch gehasst hatte: Josef Stalins eiserne Hand hatte das riesige Reich zusammengehalten. Auf internationalem Parkett jedoch hatte der Diktator das Land isoliert. Es war an der Zeit, versöhnlichere Töne anzuschlagen, wollte man nicht im Eiskeller des Kalten Krieges erstarren. Und die zarten Versöhnungsfühler, die die Kremlherren nach Westen ausstreckten, wurden von der internationalen Diplomatie sofort registriert.
Als nur wenige Tage nach Stalins Tod, am 12. März 1953, ein britisches Flugzeug in den Luftkorridor über der DDR eindrang und von den Sowjets abgeschossen wurde, hielt der Westen bereits die Luft an. Solche Vorfälle hatten in der Vergangenheit immer wieder zu prekären Situationen geführt. Zu blank lagen die Nerven im Kalten Krieg – ein winziger Funke konnte das Pulverfass hochgehen lassen. Umso überraschender war die Reaktion der Sowjets. In freundlicher Wortwahl wurde angeregt, eine Dreimächtekonferenz über die Fragen der Luftraumsicherheit in Deutschland abzuhalten. War da tatsächlich Tauwetter angesagt? Es sah ganz danach aus.
In den russischen Medien verstummte die gewohnte Propagandafanfare gegen die USA. Georgij Malenkow erinnerte gar an die guten alten Zeiten der »Anti-Hitler-Koalition«. Man solle, so appellierte der sowjetische Regierungschef, die internationalen Querelen auf diplomatischem Wege lösen. Die lang eingeforderten Gebietsansprüche an die Türkei wurden fallen gelassen, und die völlig zum Stillstand gelangten Waffenstillstandsverhandlungen in Korea kamen endlich wieder ins Rollen. Nun war es an den führenden Staatsoberhäuptern des Westens zu antworten.
Doch die Signale, die Moskau aus Washington erhielt, waren zunächst widersprüchlich. Winston Churchill schien durchaus zugänglich. Der letzte noch regierende Vertreter der Kriegsalliierten regte am 20. April sowie noch einmal am 11. Mai im britischen Unterhaus an, eine west-östliche Gipfelkonferenz über alle strittigen Fragen abzuhalten. Der amerikanische Präsident Eisenhower allerdings war gerade erst wenige Wochen im Amt. Sein Außenminister John Foster Dulles hatte sich lautstark das Schlagwort »Rollback«, also die Zurückdrängung des Kommunismus, auf die Fahnen geschrieben. Am 16. April rief der amerikanische Präsident in einer Rede vor der amerikanischen Gesellschaft der Zeitungsverleger den Kreml auf, »handfeste Beweise« vorzulegen, dass man mit Stalins Vermächtnis gebrochen habe. Dulles griff zu härteren Tönen: »Wir tanzen nach keiner russischen Pfeife«, tönte er vollmundig vor der gleichen Versammlung. Amerika – so scheint es – traute den Kremlherren nicht. Zunächst einmal sollten die Geheimdienste ausloten, was denn hinter dem Eisernen Vorhang eigentlich los sei.
Tatsächlich schien alles möglich zu sein in diesen Frühlingswochen des Jahres 1953. Selbst dass die Sowjetunion ihren Schützling DDR würde fallen lassen. Was hinter Berijas erstaunlichem Vorstoß gesteckt hat, darüber lässt sich – vor allem, da substanzielle Dokumente, so sie denn überhaupt vorhanden sind, noch nicht freigegeben wurden – trefflich spekulieren. Fakt ist, dass Lawrentij Berija weit weniger ideologisch festgefahren war als viele seiner Parteigenossen – nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern aus purem Pragmatismus. Stalins Scharfrichter, wie er hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, war ein Mann, der im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen ging. »Menschen zu opfern, machte ihm nichts aus«, erinnert sich Vitalij Tschernjawskij, »er war perfekt im Spinnen von Intrigen und im Ausnutzen von Seilschaften«. Tschernjawskij weiß aber auch, wo die Stärken Berijas lagen. »Im Gegensatz zu vielen anderen Ministern verstand Berija sein Handwerk.«
„Berija war ein grausamer Mann. Wenn ihm beispielweise Stalin befahl, Uranvorkommen ausfindig zu machen, so hat Berija die besten Geologen verhaftet und sie auf die Suche geschickt mit den Worten: ›Wenn Sie Uran finden, werden Sie die reichsten Männer der Sowjetunion. Wenn Sie aber versagen und nichts finden, schicke ich Sie in den Staub der Lager.‹“
Valentin Falin, sowjetisches Außenministerium
Sein Handwerk – das waren in erste Linie Informationen, die ihm von seinen Spitzeln laufend zugetragen wurden. Er dürfte 1953 wohl zu denjenigen gehört haben, die am besten wussten, wie kritisch die Situation in Ostdeutschland tatsächlich war. Die DDR, das propagandistische Aushängeschild, das sichtbarste Zeichen des Sieges im »Großen vaterländischen Krieg«, hatte sich als schwerer Klotz am Bein entpuppt. »Schon Ende April hatte Berija von ihm besonders geschätzte Agenten aktiviert«, berichtet Valentin Falin. »Sie sollten klären, was die Westmächte und die Bundesrepublik zu zahlen bereit waren, wenn wir ökonomische Abstriche in der DDR machten.« Berija wollte wissen, so Falin, wie lange es noch möglich sein würde, einen Preis für die DDR zu kassieren. »Denn später, das wusste er, würden wir vielleicht gar nichts mehr dafür bekommen.« Vitalij Tschernjawskij, der zu dieser Zeit eine Spezialabteilung im sowjetischen Geheimdienst leitete, gibt Falin Recht: »Wir hatten errechnet, dass wir in den kommenden Jahren 20 Milliarden Dollar würden hinblättern müssen, um die DDR am Laufen zu halten. Das waren ungeheuerliche Summen.« Tschernjawskij war nach eigener Aussage selbst dabei, als Berija die Frage in den Raum stellte, was man den Deutschen bieten müsse, damit sie den Weg in die Neutralität gehen würden.
Lawrentij Berija war sicher kein früher Gorbatschow. Ob hinter seinem Vorstoß tatsächlich ein bis ins Letzte durchdachter Plan steckte, darf nach allem, was wir heute wissen, bezweifelt werden. Aber Berija hatte, im Gegensatz zu vielen seiner Parteigenossen im sowjetischen ZK, erkannt, dass die Entwicklung in der DDR in eine Richtung lief, die für die anderen Satellitenstaaten und vielleicht sogar für die Sowjetunion selbst fatal sein konnte. Wie weit seine Aktivitäten tatsächlich gingen, ist aus der Rückschau kaum noch zu beurteilen, denn seine Rivalen, die den Geheimdienstchef kurz nach dem 17. Juni stürzten, haben das Bild nach Kräften verwischt.
„Berija handelte wie ein Agent des Imperialismus. Nichts hätte dem westlichen Imperialismus einen größeren Dienst erwiesen, als wenn Berijas ablehnende Haltung gegenüber dem Sozialismus in der DDR erfolgreich gewesen wäre.“
Aus den Erinnerungen des damaligen sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow
In ihrem Bestreben, Berija »konterrevolutionäres Verhalten« nachzuweisen, wurden auch seine deutschlandpolitischen Initiativen von der Sowjetführung kräftig aufgebauscht, da sie hervorragendes Beweismaterial für Berijas vermeintliche »Schuld« darstellten. Der wahre Kern ist dahinter fast zur Unkenntlichkeit verschwunden, aber Tatsache bleibt: Die Stimmung in Moskau war eine andere geworden nach Stalins Tod. Der unbedingte Rückhalt, den Ostberlin in Moskau gehabt hatte, war unsicher geworden.
Bereits nach seiner Rückkehr von Stalins Beerdigung war Walter Ulbricht auffallend still gewesen. Die Erben des Diktators hatten ihm und seinen Kollegen an der Parteispitze mitgeteilt, dass mit Wirtschaftshilfen von UdSSR-Seite nicht mehr zu rechnen sei. Der stellvertretende Leiter der sowjetischen Wirtschaftsplanungskommission hatte die charmante Formulierung gewählt, dass man »alle verfügbaren Ressourcen brauche, um den Lebensstandard der eigenen Bevölkerung zu heben.« Das hieß im Klartext: Moskau war ebenso blank wie Ostberlin. Verwirrender aber waren »Weisungen« des großen Bruders, die darauf schließen ließen, dass der Kreml den stalinistischen Wirtschaftskurs der DDR nicht mehr goutierte. Und auch der Ausbau der innerdeutschen Grenze sollte plötzlich nicht mehr im Interesse der Sowjetunion sein? Ulbricht verstand die Welt nicht mehr.
Der Generalsekretär schien nicht begreifen zu wollen, dass die Zeiten sich änderten. In zwei Artikeln, die Mitte April im »Neuen Deutschland« erschienen, propagierte Ulbricht wie in alten Zeiten den Sozialismus als das höchste aller erreichbaren Ziele und den einzigen Weg zu Frieden und Einheit. Wie in den unseligen Zeiten Stalins setzte sich die Verfolgung innerparteilicher »Saboteure« und »Verräter« fort. Die Frühjahrsanalyse der SED kündigte unverhohlen eine neue »Säuberungswelle« an: »Gegenwärtig erfolgt eine strenge Überprüfung der Parteimitglieder und ihrer Funktionen«, hieß es da drohend, »besonders derjenigen, die sich in westlicher Emigration befanden, Aufenthalt in Amerika oder Mexiko hatten und mit Trotzkisten in enger Verbindung standen. Dabei wird die Methode der Komplexüberprüfung durchgeführt, um der Gefahr, daß sich verdächtige Elemente absetzen, konsequent zu begegnen.« Mitte Mai gipfelte die innerparteiliche Hexenjagd in der Ausschaltung Franz Dahlems, Ulbrichts einzig nennenswerten Rivalen an der Parteispitze. Nur eine Institution würde den Generalsekretär stoppen können: die bislang so schützende Hand des Großen Bruders selbst.
Anfang Juni war es so weit. Die Genossen zitierten die Chefs der SED nach Moskau zum Rapport. Walter Ulbricht, Otto Grotewohl und Fred Oelßner, Chefideologe der SED und in diesem Fall auch Dolmetscher, folgten prompt der »Einladung«. Was blieb auch anderes übrig? Dass man sie nicht zu einer Belobigung einbestellt hatte, war den Reisenden nach den atmosphärischen Störungen der letzten Wochen klar, aber mit einer Standpauke, wie sie nun erfolgte, hatte keiner von ihnen gerechnet.
Lawrentij Berija präsentierte ein Papier mit dem harmlosen Titel: »Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik«. Der Inhalt der Ausarbeitung ließ es aber an Deutlichkeit nicht fehlen. »Infolge der Durchführung einer fehlerhaften politischen Linie ist in der Deutschen Demokratischen Republik eine äußerst unbefriedigende politische und wirtschaftliche Lage entstanden«, hieß es da. Die DDR-Führer hätten »fälschlicherweise« mit dem Aufbau des Sozialismus in der DDR begonnen, ohne für ausreichende innen- und außenpolitische Voraussetzungen gesorgt zu haben. Von »ernster Unzufriedenheit« unter der Bevölkerung war da die Rede und von einer »Gefahr für die politische Beständigkeit der DDR«. Fatal sei es gewesen, die Bauern in landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften zu zwingen und die kleineren Privatbetriebe zu enteignen, die Kirchen zu kujonieren und die Bürgerrechte einzuengen. Das alles werde nun rückgängig gemacht!
Die Deutschen waren vollkommen verdutzt. Das war mehr als eine Ohrfeige, das war ein glatter Schlag ins Gesicht. Man habe schüchtern widersprochen, berichtete Fred Oelßner später. Die russische Gegenseite aber war nicht gewillt, den Deutschen auch nur einen Zentimeter entgegenzukommen. Ultimativ forderten Berija und seine Genossen Ulbricht und Grotewohl auf, in der DDR einen Kurswechsel um 180 Grad vorzubereiten und schriftlich zu der sowjetischen Anklageschrift Stellung zu beziehen. Nach Oelßners Schilderung machten sich die DDR-Führer wie geprügelte Hunde an die Ausarbeitung der Stellungnahme.
Allerdings fiel niemandem etwas Gescheites ein. Betroffen stierten die Delegationsmitglieder auf das blanke Papier vor ihnen. Erst nach langem Hin und Her notierten sie ein paar halbherzige Sätze. Entsprechend reagierten die Sowjetführer. Berija echauffierte sich dermaßen, dass er Ulbricht das missglückte Pamphlet über den Tisch hinweg zurückwarf. »Das ist ein schlechter Aufguss unseres Dokumentes«, zischte er. Nikita Chruschtschow berichtete später, dass es ihm peinlich gewesen sei, wie sehr Berija Ulbricht zusammengestaucht habe. Kleinlaut sicherten die Deutschen zu, ein neues Papier zu verfassen, und wurden düpiert wieder nach Ostberlin zurückgeschickt.
Um ganz sicher zu gehen, dass die SED-Genossen diesmal auch ihre Hausaufgaben machten, stellte man ihnen gleich einen Aufpasser zur Seite. Wladimir Semjonow war bis zum 22. April als politischer Berater der Sowjetischen Kontrollkommission in Ostberlin stationiert gewesen. Überraschend hatte man ihn nach Moskau abberufen und schickte ihn nun als Leiter einer »Hohen Kommission« nach Ostberlin zurück. Das seltsame Spiel war offenbar mehr als eine banale Namensänderung. Semjonow galt als Parteigänger Berijas. Würde er nun für frischen Wind in Ostberlin sorgen?
Zunächst einmal sah es ganz danach aus. Der frisch gebackene Hohe Kommissar kehrte am 5. Juni nach Berlin zurück und redete Klartext. »Wir möchten dem Genossen Ulbricht raten, seinen sechzigsten Geburtstag so zu feiern, wie der Genosse Lenin seinen fünfzigsten«, ließ er die unsicheren Zuhörer wissen und ergänzte süffisant: »Genosse Lenin lud zum Abend ein paar Gäste ein.« Der eitle Generalsekretär war wie vor den Kopf gestoßen – aber wie ein folgsamer Musterschüler widersprach er mit keinem Wort.
Einen Tag später trat das SED-Politbüro zum ersten Mal seit der peinlichen Moskaureise seiner Führung zusammen. Was dort vorgefallen war, pfiffen die Spatzen längst von den Dächern. Aber was bedeutete es für die Parteiarbeit? Was die KPdSU als »Neuen Kurs« verordnete, stellte alles in Frage, was die SED seit einem Jahr verfolgt hatte. Das Wort »Sozialismus« solle aus allen Schriften und von den Plakaten verschwinden, munkelte man, alles werde umgekrempelt. Einige Mitglieder waren ob dieser Entwicklung wie elektrisiert. Heinz Brandt erinnerte sich in seinen Memoiren, dass selbst der sonst so nüchterne Politbürokollege Hans Jendretzky völlig aus dem Häuschen war. »Ich habe die beste Nachricht der Welt«, habe er enthusiastisch gerufen, »es ist geschafft, wir fangen ganz neu an.« Auch Brandt selbst verstieg sich in Träumereien. »Jetzt sollte alles anders werden. Die Bahn schien frei für eine friedliche, demokratische Umwälzung in der DDR.«
Als sich das Politbüro zusammensetzte, konnten alle Anwesenden spüren, dass etwas Besonderes in der Luft lag. »Ich habe Verantwortung zu tragen und werde meine Arbeit ändern«, teilte der Parteivorsitzende seinen staunenden Genossen mit. Doch was Ulbricht vermutlich als äußerstes Maß an Selbstkritik angesehen hatte, eröffnete nun eine tatsächliche Aussprache, in der die Politbüromitglieder mit ihrer Kritik nicht hinterm Berg hielten. Fred Oelßner begann seine Ausführungen fulminant: »Zwei Jahre habe ich geschwiegen, jetzt werde ich reden.« Was folgte, war eine Generalabrechnung mit der Arbeit des Sekretariats des Zentralkomitees. Er sprach von Liebedienerei, von Furcht und von Diktatur. Alle nachfolgenden Redner unterstützten seine Kritik.
Plötzlich war er da, der Mut der Genossen, den selbstgefälligen Parteichef in ihrer Mitte aus seinem Kokon von Schmeicheleien und Lobhudelei herauszuholen. Otto Grotewohl notierte getreulich die Äußerungen der mutigen Genossen mit. »Sekretariat muß man verbessern. W(alter) muß prüfen. Jub(iläum) = bescheiden. Große Feiern sind falsch. Keine Zitate. Arbeit im Pol(it)büro – kollektiv.« Auch die fragwürdige Tätigkeit Lotte Ulbrichts als Organisatorin des Festkomitees für den Geburtstag ihres Mannes kam zur Sprache. »Frauen von verantw(ortlichen) Genossen nicht im Apparat des Mannes beschäftigen«, kritzelte Grotewohl.
Inhaltlich entsprachen die Beschlüsse der Tagung den »Anregungen« aus Moskau. Ab sofort werde in der DDR der »Neue Kurs« eingeschlagen, so das Politbüro. Und konkreter: Die Schwerindustrie werde zugunsten der Konsumgüterindustrie zurücktreten müssen, alle Maßnahmen gegen widerspenstige Bauern, private Kleinunternehmer oder Kirchenmitglieder sollten eingestellt werden. Die komplette Politik seit der II. Parteikonferenz war damit für null und nichtig erklärt. Eine Beratung durch das Zentralkomitee werde nicht mehr benötigt, verfügten die Politbüromitglieder, die Sache sei damit beschlossen. Der »Hohe Kommissar« Wladimir Semjonow war von der Entwicklung der Sitzung ebenso überrascht wie der verdatterte Generalsekretär selbst. Der Russe reagierte souverän. »Nun, Genosse Ulbricht, meiner Meinung nach ist es jetzt an Ihnen, aus dieser sehr fundierten Kritik des Politbüros ernste Folgen zu ziehen.« Damit war die Sitzung geschlossen.
„Während einer Pause charakterisierte der Minister für Außenhandel Gregor die Stimmung der Politbürositzung mit den Worten: ›Dies ist kein Politbüro, dies ist eine Irrenanstalt.‹“
Aus dem sowjetischen Bericht über die SED-Politbürositzung vom 5.–9. Juni 1953
Rudolf Herrnstadt, der Herausgeber des Parteiorgans »Neues Deutschland«, erhielt den Auftrag, die Beschlüsse so schnell wie möglich in eine öffentliche Form zu bringen. Herrnstadt war entgeistert. Wie um Himmels willen sollte er eine derart rabiate Wendung so in Worte verpacken, dass es plausibel klang und nicht wie eine komplette Kapitulationserklärung? In seinen Memoiren erinnerte sich der Chefredakteur des »Neuen Deutschland« später, er habe den Hohen Kommissar Semjonow inständig gebeten, sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. »Geben Sie uns vierzehn Tage, und wir können den Kurswechsel so überzeugend und mitreißend begründen, dass wir mit ihm in die Offensive gehen und nicht der Gegner«, habe er dem Russen gesagt. Genosse Semjonow habe aber sehr scharf und von oben herab geantwortet: »In vierzehn Tagen werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben.«
Rudolf Herrnstadt tat, wie ihm geheißen. Am 11. Juni erschien im »Neuen Deutschland« unter der Überschrift »Kommuniqué des Politbüros des Zentralkomitees der SED vom 9. Juni 1953« ein Text, der getreulich an die Öffentlichkeit weiterleitete, was in der brisanten Sitzung zwei Tage zuvor beschlossen worden war. »Das Politbüro ging davon aus«, war dort zu lesen, »daß seitens der SED und der Regierung der DDR in der Vergangenheit eine Reihe von Fehlern begangen wurden, die ihren Ausdruck in Verordnungen und Anordnungen gefunden haben, wie z. B. der Versorgung über die Neuregelung der Lebensmittelkartenversorgung, über die Übernahme devastierter landwirtschaftlicher Betriebe, in außerordentlichen Maßnahmen der Erfassung, in verschärften Methoden der Steueranhebung usw.« Doch damit war des Büßergangs noch nicht Genüge getan. Das Politbüro bekannte, die Interessen der Einzelbauern, der Einzelhändler, der Handwerker und der Intelligenz »vernachlässigt« zu haben. Man habe »ernste Fehler« bei der Durchführung der erwähnten Anordnungen begangen. Als Folge hätten »zahlreiche Personen« die Republik verlassen.
Der Artikel bekannte damit offen, dass der »Aufbau des Sozialismus« eine Sackgasse gewesen war. Im Namen des Politbüros gelobte das »Kommuniqué« Besserung in allen Punkten, es bekannte, belobigte und versprach – allein: Das Rad ließ sich nicht mehr zurückdrehen. Der Druck im Kessel war bereits zu groß geworden, als dass es ausgereicht hätte, lediglich ein Ventil zu öffnen.
Der Artikel im »Neuen Deutschland« schlug ein wie eine Bombe, aber es war nicht unbedingt so, dass er überall bejubelt wurde. Walter Ulbricht hatte es kommen sehen. »Ulbricht hat sich nicht grundsätzlich gegen einen ›Neuen Kurs‹ gewehrt«, berichtet Fritz Schenk. »Was die Vorbereitungen betraf, war er sogar mit großem Eifer dabei.« Erst als klar wurde, dass bei der Kurskorrektur von »Fehlern« der Partei die Rede sein sollte, habe sich der Generalsekretär quer gestellt. »Offiziell galt die Partei als die Verkörperung der kollektiven Weisheit, und Ulbricht sagte natürlich, dass eine solche kollektiv verkörperte Weisheit keine Fehler machen kann«, erinnert sich Fritz Schenk.
Tatsächlich gaben die Reaktionen auf die abrupte Kehrtwende dem starrsinnigen Generalsekretär Recht. Besonders treue SED-Funktionäre witterten Verrat oder RIAS-Propaganda, waren sie es doch längst gewohnt, überall dunkle Machenschaften des »Klassenfeindes« zu vermuten. Bizarre Anweisungen, wie die des Sekretärs für Agitation, Hermann Axen, man solle binnen kürzester Frist »unauffällig« alle Schriften, Plakate und Schilder verschwinden lassen, die das Wort »Sozialismus« enthielten, trugen zu zusätzlicher Verunsicherung bei. Denn wie, um Himmels willen, sollte man so etwas denn »unauffällig« machen? Wenn »Sozialismus« nun nicht mehr richtig war, was war denn dann der Weg des Staates DDR? Seit Jahren waren die mittleren und unteren Funktionärsebenen immer mehr entmündigt worden, kaum einer machte sich noch die Mühe, sich selbst Gedanken zu machen. Man bekam doch alles vorgekaut, wozu noch engagieren. Jetzt aber gab es plötzlich keine Antworten mehr – es gab nur noch Fragen.
Gerüchte gingen um, Walter Ulbricht sei bereits entmachtet, anders seien die seltsamen Entwicklungen doch gar nicht erklärbar. Gerade das Eingeständnis von »Fehlern« führte zu massiver Verunsicherung unter den Parteifunktionären der unteren Ebenen. Sie waren es, die den verwunderten Bürgern Rede und Antwort stehen mussten und oftmals keine Antworten wussten. So überhastet wie das Wendemanöver erfolgt war, gab es keinerlei Strategieanweisungen für die Funktionäre. Die dürren Worte des »Kommuniqués« allein empfand niemand als ausreichend. Nicht wenige SED-Mitglieder verstanden den »Neuen Kurs« als Kapitulationserklärung an alle bisher vertretenen Ideale und wussten mit dem Wechsel der Partei von der Allwissenheit ins Büßergewand nichts anzufangen. »Zum ersten Mal, solange ich Mitglied der SED war, gab die Parteiführung zu, dass sie etwas falsch gemacht hatte«, stellte der damalige SED-Mann Wolfgang Hartmann erstaunt fest.
Nur wenige Genossen folgten den ungewohnten Anweisungen so brav wie die Mitarbeiter des staatlichen Rundfunks der DDR. »Natürlich verstanden auch bei uns einige nicht, warum jetzt plötzlich nicht mehr von Sozialismus die Rede sein durfte«, erinnert sich Erich Selbmann. Aber der damalige Chefredakteur des Ostberliner »Deutschlandsenders« hatte seinen Laden gut im Griff, wie er sich stolz erinnert: »Wenn ich gesagt habe, der Himmel ist blau, dann war der Himmel blau. Wenn ich gesagt habe, der Himmel ist grün, dann war er für alle grün. Da wurde nicht lange diskutiert.« SED-Funktionär Heinz Brandt hatte große Hoffnungen in den »Neuen Kurs« gesetzt. Nun erkannte er entsetzt, dass die »altstalinistische« Art und Weise, mit der er der Bevölkerung erklärungslos aufgezwungen wurde, eine Katastrophe heraufbeschwor. »Die hektische Eile, die amputierte Form, in welcher der ›Neue Kurs‹ verwirklicht wurde, machten ihn von vornherein unglaubwürdig«, erinnerte er sich in seinen Memoiren. »So war der ›Neue Kurs‹ eine hässliche Missgeburt, die als Symbol der Schwäche und Fäulnis der SED ins Leben trat.«
Der »Neue Kurs« annullierte alle scharfen Maßnahmen des vergangenen Halbjahres: die Zwangskollektivierungen, die Kirchenverfolgungen, der Entzug von Lebensmittelmarken und die willkürliche Rechtsprechung. »Republikflüchtige« wurden ausdrücklich zur Rückkehr aufgefordert mit dem Versprechen der vollständigen Rehabilitation. Die in Aussicht gestellte Steigerung der Konsumgüterindustrie würde ihr Übriges tun, um die erhitzten Gemüter zu beruhigen. Nahezu verheißungsvoll gesellte sich die Ankündigung von »Maßnahmen, die die Annäherung der beiden Teile Deutschlands erleichtern« hinzu. Eines jedoch fehlte: die Rücknahme der Normenerhöhungen für die Arbeiter! Die größte – und wohl auch erzürnteste – Gruppe der vom »Aufbau des Sozialismus« Betroffenen war bei der Rücknahme einfach ausgespart worden. Valentin Falin ist sich sicher, dass es sich dabei nicht um ein bewusstes Vorgehen, sondern um einen banalen Fehler gehandelt hat. »Ich glaube, das war schlicht Schlamperei«, sagt er. »Es hätte doch praktisch kaum etwas verändert, wenn man auch die Rücknahme der Arbeitsnormen mit in die Liste aufgenommen hätte.« Für Heinz Pahl, den Putzer von Block 40, war es letztlich egal, wie diese erstaunliche Entscheidung zustande gekommen war. Er hatte die Sache blitzschnell durchschaut: »Der ›Neue Kurs‹ bedeutete, dass alles zurückgenommen wurde. Aber wir mussten einfach weiterarbeiten wie vorher!«
Die ausgebliebene Rücknahme der Normenerhöhung war das fehlende Glied in der Kette zum 17. Juni. Die Lunte, die das Pulverfass zur Explosion brachte, zündete die SED selbst.